Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 22.11.2019, Az.: 2 A 242/17

Flüchtling; Polizist; Tschetschenien; Ukraine; Wehrdienst

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
22.11.2019
Aktenzeichen
2 A 242/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69541
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Der Kläger ist ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit.

Gemeinsam mit seiner Familie, den Klägern im Verfahren 2 A 306/19, begehrt er asylrechtlichen Schutz. Nach seinen Angaben in der Erstbefragung verließ er gemeinsam mit seiner Familie sein Heimatland im Juni 2015 und reisten über Weißrussland und Polen in die Bundesrepublik ein, die sie am 19. Juni 2015 erreichten. Am 27. April 2016 stellte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.

Den deutschen Behörden liegen verschiedene Dokumente des Klägers bzw. seiner Familie vor, u. a. Inlandspässe, ein Führerschein, eine Heiratsurkundeurkunde sowie ein Ausweis für Kriegsveteranen, der auf den Kläger ausgestellt ist. Bei der vom Bundesamt veranlassten physikalisch technischen Untersuchung dieser Dokumente konnten Manipulationen nicht festgestellt werden.

Mit Schreiben vom 15. September 2019 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, der Kläger, der seit dem Jahr 2005 Polizist in Tschetschenien gewesen sei, habe sich einem von seinen Vorgesetzten angeordneten Kriegseinsatz in der Ukraine durch Flucht entzogen. Mit diesem Schreiben legte er verschiedene Bilder vor, die den Kläger in seiner Uniform zeigen.

Am 2. Februar 2017 wurde der Kläger persönlich angehört, wobei er weitere und vertiefende Angaben zu seinen Fluchtgründen machte.

Mit Bescheid vom 19. April 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab (Ziff. 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4), forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise auf (Ziff. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6). Dem Kläger drohe aufgrund seiner Desertion keine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Dem Kläger sei es zuzumuten, sich einem derartigen Verfahren zu stellen. Zudem finde eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung von Desertion in der Russischen Föderation nicht statt.

Am 8. Mai 2017 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er insbesondere aus: Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Der Bescheid bezweifele sein Vorbringen nicht, berücksichtige aber die Quellenlage in keiner Weise und missachte insbesondere, dass er als Polizist nicht verpflichtet gewesen sei, im Ausland, zumal in einem völkerrechtswidrigen Krieg wie in der Ukraine, eingesetzt zu werden. Die nicht durch Quellen belegte Behauptung der Beklagten, er habe sich bewusst sein müssen, als Polizist ggf. auf diese Weise eingesetzt zu werden, sei unzutreffend und frei erfunden. Jedenfalls drohe ihm in Russland Haft, deren Bedingungen auf Grundlage der Erkenntnismittel als menschenwürdewidrig zu bewerten seien.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. April 2017 zu verpflichten ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise das Bundesamt zu verpflichten Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe

I. Die Klage, über die die Einzelrichterin trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann, da die Beteiligten auf diese mögliche Folge ihres Fernbleibens hingewiesen wurden (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.

Die zulässige Klage ist zulässig und begründet. Die Entscheidung des Bundesamts, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern keine Ausschlussgründe vorliegen. Flüchtling ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund eines Verfolgungsgrundes i. S. d. § 3b Abs. 1 AsylG – wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist einheitlich der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19; OVG NRW, Beschl. v. 31.7.2018 - 14 A 707/18.A -, juris, Rn. 20 - 21). Ausgangspunkt der somit anzustellenden Prognose ist das bisherige Schicksal des Ausländers. Denn gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Der vorverfolgt eingereiste Ausländer profitiert insofern nicht von einem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab; es besteht aber eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, Rn. 21 f.; OVG NRW, Beschl. v. 31.7.2018 - 14 A 707/18.A -, Rn. 24 - 25, juris).

a) Der Kläger hat die Russische Föderation vorverfolgt verlassen. Er war zum Zeitpunkt seiner Ausreise von politischer Verfolgung i. S. d. § 3 Abs.1 AsylG unmittelbar bedroht, so dass zu seinen Gunsten die tatsächliche Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift.

aa) Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft geschildert, dass er befürchtet, verfolgt zu werden, nachdem er sich dem Ansinnen seiner Vorgesetzten, ihn zum Militäreinsatz in die Ukraine zu schicken, widersetzt habe. Die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers, der hierzu verschiedene Dokumente vorgelegt hat, die diesen Vortrag stützten, hat das Bundesamt nicht in Zweifel gezogen. Auch die Einzelrichterin ist aufgrund der Angaben des Klägers im Rahmen der informatorischen Anhörung zur Überzeugung gelangt, dass das von dem Kläger angegebene Geschehen den Tatsachen entspricht. Der Kläger war in der Lage, die Geschehnisse widerspruchsfrei und schlüssig zu schildern und hat bei seiner Schilderung wiederholt auch nebensächliche Details wiedergegeben, ohne dass dies – trotz der großen Flüssigkeit des Vortrags – wie auswendig gelernt erschienen wäre. Zudem werden die Angaben des Klägers von den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln sowie der Nachrichtenlage gestützt. Zwar bestreitet die russische Föderation jede offizielle Beteiligung am Ukraine-Krieg und versucht, anderslautende Berichte, wonach Russland die Separatisten unterstütze, zu unterdrücken. In den westlichen Medien werden diese Informationen des Kremls aber übereinstimmend angezweifelt (FAZ vom 28.5.2015: „Wie Russland die Separatisten unterstützt“, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/ein-bericht-belegt-die-anwesenheit-russischer-truppen-in-der-ukraine-13617034.html). Dabei wird auch berichtet, dass auf Seiten der prorussischen Gruppen tschetschenische Milizen kämpfen – was von Moskau und der Kaukasusrepublik ebenfalls bestritten wird (Der Tagesspiegel, „Der unbekannte Feind“ vom 30. Mai 2014, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/tschetschenische-milizen-in-ukraine-krise-der-unbekannte-feind/9972094.html; Zeit online vom 28.5.2015, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-05/ukraine-soeldner-tschetschenien). Der Einsatz tschetschenischer Kämpfer auf der Seite der pro-russischen Kräfte im Ukraine-Konflikt dürfte dabei Teil des Bemühens des tschetschenischen Republik-Oberhaupts, Ramzan Kadyrows, sein, seine Loyalität gegenüber Russland und Putin zu zelebrieren. Dazu gehört auch, dass Kadyrow erreichte, dass im Jahr 2014 erstmals seit dem Ende der Sowjetunion wieder Tschetschenen zum Wehrdienst in Russland eingezogen wurden. Ramsan Kadyrow verbuchte dies als großen politischen Erfolg und Prestigefrage (NZZ vom 9. Oktober 2014, abrufbar unter https://www.nzz.ch/international/europa/moskau-ruft-tschetschenen-in-die-armee-1.18399909). Die Schilderung des Klägers, wonach Kadyrow im Dezember 2014 eine Rede gehalten und angekündigt haben soll, die nationale Sicherheit erfordere den militärischen Einsatz für Russland, passt dazu ebenso wie der Umstand, dass nicht nur Wehrdienstpflichtige, sondern auch erfahrene Sicherheitskräfte wie der seit dem Jahr 2005 als Polizist tätige und auch in der Terrorismusbekämpfung erfahrene Kläger eingesetzt werden sollen.

bb) Es ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund des von ihm geschilderten Sachverhalts in seinem Herkunftsland verfolgt wurde bzw. dass ihm politische Verfolgung unmittelbar drohte.

Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG gelten als Verfolgung u. a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, ferner die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylG fallen. Nach § 3a Abs. 2 AsylG muss dabei zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und der Verfolgungshandlung eine Verknüpfung bestehen; die Verfolgung muss also gerade wegen eines Verfolgungsgrundes drohen.

(1) Dem Kläger drohte unmittelbar jedenfalls die Anwendung erheblicher physischer Gewalt und damit eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung sehr anschaulich die Situation geschildert, als er aufgefordert wurde, den Befehl zum Einsatz in der Ukraine zu unterzeichnen. Der Kläger hat damals zwar keine physische Gewalt erfahren. Aufgrund der Gesamtumstände ist aber klar, dass der Kläger, wäre er dem Ansinnen seiner Vorgesetzten nicht nachgekommen, derartiger Gewalt unmittelbar in gravierender Weise ausgesetzt gewesen wäre. So war in dem Raum, in dem der Kläger zur Unterschrift aufgefordert wurde, nicht nur sein oberster Vorgesetzter anwesend, sondern darin befanden sich auch dessen persönliche Sicherheitskräfte, die bewaffnet waren und von denen der Kläger aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen als Polizist wusste, dass sie äußerst brutal vorgingen. Bereits hierdurch wurde aus der Sicht des Klägers eine erhebliche Bedrohungsszenerie geschaffen. Zudem wurde ein früherer Kollege des Klägers, der vor ihm zur Unterzeichnung des Einsatzbefehls in den Raum gebeten worden war, von zwei Personen gestützt aus dem Raum begleitet, weil er offenbar schwer misshandelt worden war. In dieser Situation bedurfte es nicht einer expliziten Drohung mit Gewalt, um dem Kläger zu vermitteln, was ihm im Falle einer Weigerung drohe. Vielmehr wurde dem Kläger schon aufgrund der Gesamtumstände konkludent unmittelbar Gewalt angedroht.

Diese jedenfalls konkludent angedrohte Gewaltanwendung kann nicht lediglich als die Ahndung kriminellen Unrechts gewertet werden. Zwar sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen grundsätzlich keine taugliche Verfolgungshandlung, wenn und soweit sie lediglich der legitimen Ausübung des Rechts auf Unterhaltung einer Streitkraft dienen (EuGH, Urt. v. Urt. v. 26.2.2015 - C-472/13 (Shepherd) -, juris 48 ff., Tenor Ziff. 2.). Im Fall des Klägers geht es aber – anders als das Bundesamt offenbar angenommen hat – nicht um einen Fall der Wehrdienstentziehung. Denn der Kläger war als Polizist zum Ableisten von Wehrdienst in der Ukraine, in der offiziell ein Krieg mit Russland gar nicht stattfindet, nicht verpflichtet. Dementsprechend hat der Russische Staat kein legitimes Interesse daran, dass der Kläger an diesem Krieg teilnimmt. Schon deshalb geht die angedrohte Gewaltanwendung über das hinaus, was erforderlich ist, damit Russland sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann. Die Durchsetzung der Teilnahme des Klägers an diesem Krieg unter (konkludenter) Androhung von Gewalt stellt somit keine legitime staatliche Maßnahme dar, sondern ist bloße Gewalt und damit schon eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Insofern kann auch dahinstehen, ob auch eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG vorliegt, weil der Einsatz in der Ukraine Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die Verbrechen nach § 3 Abs. 2 AsylG (insbesondere Kriegsverbrechen) umfassen würden.

(2) Die dem Kläger vor seiner Flucht in seinem Heimatland drohende Verfolgung knüpft an seine politische Überzeugung und mithin an einen Verfolgungsgrund i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 3b AsylG an.

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es ebenfalls unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich eine abweichende Meinung vertritt oder ihm dies nur zugeschrieben wird.

Für den Fall einer – hier nicht vorliegenden – Wehrdienstentziehung hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entschieden, dass die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung darstellen, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen. Dabei könne nicht generell davon ausgegangen werden, dass einem Wehrdienstverweigerer stets eine regimefeindliche Einstellung zugeschrieben werde (Nds. OVG, Beschl. v. 6. September 2019 - 2 LB 327/18 -, juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017 - 1 B 22.17 -, juris Rn. 14).

Nach diesen Vorgaben ist hier im konkreten Einzelfall die erforderliche Verknüpfung zwischen drohender Verfolgung und Verfolgungsgrund gegeben. Denn anders als im Fall eines Wehrdienstverweigerers, der sich einer alle Staatsbürger treffenden Pflicht entzieht, hat sich der Kläger einem rechtswidrigen, konkret seine Person treffenden Ansinnen widersetzt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der tschetschenische bzw. russische Staat dem Kläger jedenfalls eine abweichende Grundhaltung betreffend des Ukrainekonflikts sowie seiner Aufgaben als Polizist zuschreibt, was nach § 3b Abs. 2 AsylG für die erforderliche flüchtlingsrelevante Verknüpfung genügt. Davon ist auch deshalb auszugehen, weil der Kläger diese abweichende Grundhaltung tatsächlich hat und anders als die tschetschenische und die russische Regierung den Krieg in der Ukraine für illegitim hält. Zudem vertritt er eine andere Grundhaltung als die Regierung, wenn er offen über seinen Einsatz in der Ukraine spricht, während die Regierung jede offizielle Beteiligung an diesem Krieg bestreitet und anderslautende Berichte unterdrückt.

b) Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in sein Heimatland Verfolgung droht. Weil er aufgrund der geschilderten Geschehnisse vor seiner Ausreise in seinem Heimatland unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ist er als vorverfolgt zu betrachten, so dass die Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie Anwendung findet. Es besteht also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen gegen eine weitere Verfolgung.

Hier sind solche stichhaltigen Gründe nicht ersichtlich. Vielmehr ist weiterhin von einer Verfolgung des Klägers auszugehen. Denn aufgrund seiner Flucht ist offenbar geworden, dass er sich dem Ansinnen seiner Vorgesetzten, ihn im Krieg mit der Ukraine einzusetzen, endgültig entziehen will. Insofern ist davon auszugehen, dass dem Kläger die Gewalt, die ihm vor seiner Flucht nur konkludent angedroht worden war, bei seiner Rückkehr widerfahren würde und er mit (weiteren) (Straf)verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätte. Dies gilt umso mehr, als der Einsatz tschetschenischer Milizen an der Seite pro-russische Separatisten in der Ukraine nach Presseangaben ein Prestigeprojekt Ramsans Kadyrows sein soll. Es kommt hinzu, dass der Kläger durch sein Verhalten nach seiner Flucht selbständig tragend eine Verfolgungsgefahr geschaffen hat. Denn der Kläger hat mit seiner Schilderung das offizielle Vorbringen des Kremls und der Republik Tschetscheniens, wonach russische Streitkräfte im Krieg in der Ukraine nicht involviert seien, glaubhaft widerlegt. Auch dieser Umstand ist für das generell als äußerst unberechenbar und brutal geltende Regime Kadyrows (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: 13. Februar 2019, S. 11; BFA, Länderinformationsblatt, Gesamtaktualisierung 30.9.2019, S. 11 ff.; 22 ff.; 42 ff.) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Anlass für Racheaktionen.

Diese (Straf)Verfolgung droht dem Kläger dabei landesweit, so dass sein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nicht gemäß § 3e AsylG wegen einer internen Schutzalternative ausgeschlossen ist. Denn insbesondere aufgrund der in Russland für eine Vielzahl staatlicher Leistungen erforderliche Registrierung ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Russland entdeckt und darum landesweit verfolgt werden würde.

2. Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung der Nummern 3 bis 6 des angefochtenen Bescheids begehrt wird. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lässt die negative Feststellung des Bundesamts hinsichtlich des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf den Ausspruch zum Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten in Ziff. 4, die Ausreiseaufforderung mitsamt Abschiebungsandrohung in Ziff. 5 sowie die Bestimmung der Frist für ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.