Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 21.09.2021, Az.: 2 U 121/21

Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall; Überholen eines Fahrradfahrers auf einem Radweg durch einen anderen Fahrradfahrer; Linksschwenk eines zu Überholenden; Kriterien für eine Haftungsverteilung

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
21.09.2021
Aktenzeichen
2 U 121/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 64104
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 27.04.2021 - AZ: 1 O 2695/20

In dem Rechtsstreit
AA, Ort1,
Kläger und Berufungskläger,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
gegen
BB, Ort1,
Beklagter und Berufungsbeklagter,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
hat der 2. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht (...), den Richter am Oberlandesgericht (...) und die Richterin am Oberlandesgericht (...) auf die mündliche Verhandlung vom 07.09.2021 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 27.04.2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels geändert und wie folgt neu gefasst:

  1. 1.

    Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 3.500,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.12.2019 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 413,64 € zu zahlen.

  2. 2.

    Der Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger 723,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.10.2020 zu zahlen.

  3. 3.

    Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % jeden weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfall vom TT.MM.2019 in Ort1 zu erstatten, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialleistungsträger übergegangen sind.

  4. 4.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 313 Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 2 ZPO).

II.

Die zulässige Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

Dem Kläger steht unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % ein Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz zu (§§ 823 Abs. 1, 235 Abs. 2 BGB). Der Senat vermag die Auffassung des Landgerichts, dass der Kläger hier von einem Überholvorgang hätte absehen müssen, weil er einen Seitenabstand von 1,5 bis 2 m nicht habe einhalten können, nicht zu teilen. Eine solche Annahme erscheint aus Sicht des Senats lebensfremd. Sie würde bedeuten, dass man als Radfahrer nahezu im gesamten Stadtgebiet andere Radfahrer nicht überholen könnte, weil ein solcher Seitenabstand auf praktisch keinem Radweg einzuhalten wäre. Ein solches Gebot ergibt sich auch nicht aus den vom Landgericht zitierten Entscheidungen des OLG Karlsruhe und des OLG Saarbrücken.

Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass man als Radfahrer grundsätzlich mit Schwankungen eines vorausfahrenden Radfahrers rechnen muss. Ein Seitenabstand von ca. 32 cm sei zu gering. Auf einem 2 m breiten Radweg müsse ggfs. von einem Überholen abgesehen werden (Beschl. vom 30.05.2016 - 9 U 115/15, juris Rdn. 20). Das OLG Saarbrücken hat zwar einen Seitenabstand von 1,5 bis 2 m für angemessen gehalten. Das betraf aber den Seitenabstand von einem Pkw zu einem Radfahrer, den er auf einer freien Landstraße überholt hat (Urt. vom 21.03.1980 - 3 U 141/79, Verkehrsrechtliche Mitteilungen, 1980, 79 Nr. 104). Diese Entscheidung ist deshalb für das Überholen eines anderen Radfahrers auf einem Radweg nicht maßgeblich. Entscheidend sind vielmehr die jeweiligen Umstände des Einzelfalls (OLG Karlsruhe, a.a.O, mit Hinweis auf BGH, VRS Band 31, 404).

Im vorliegenden Fall hat sich der Unfall nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wie folgt ereignet: Der Beklagte kam aus seiner kurz vor der Unfallstelle befindlichen Einfahrt (Haus (...)). Er ist langsam gefahren, wirkte unsicher und hat nach der Aussage des Zeugen CC einen "erheblichen Linksschwenker" gemacht, der zum Unfall geführt hat. Der Zeuge CC hat bekundet, dass der Kläger zunächst kurz "hinter" dem langsam und unsicher fahrenden Beklagten gefahren sei. Der Kläger habe dann versucht, den Beklagten zu "überholen". Durch den in diesem Moment erfolgenden "Linksschwenk" sei es zum Unfall gekommen. Er schätze den Linksschwenk auf "ca ½ m". Die Unfallstelle ist dem Senat gut bekannt. Es handelt sich um einen schmalen Radweg, der kurz hinter der Bushaltestelle eine leichte Linkskurve macht. Der Radweg ist nur optisch von der Fläche für Fußgänger abgegrenzt, weshalb diese, insbesondere wenn mehrere Radfahrer unterwegs sind, mitbenutzt werden kann.

Der Beklagte ist gerade aus einer ansteigenden Einfahrt gekommen und fuhr sehr langsam. Er hat - als der Kläger unmittelbar neben ihm war - einen erheblichen Linksschwenk von etwa einem halben Meter gemacht. Auch wenn man hier trotz der räumlichen Nähe der Einfahrt zur Unfallstelle nicht von einer Vorfahrtsverletzung (§ 10 StVO) ausgehen kann, weil sich der Beklagte schon eine (kurze) Zeit auf dem Radweg befunden hatte und neben dem Kläger gefahren war, hat der Beklagte zumindest gegen das Gebot der Rücksichtnahme aus § 1 Abs. 1 und 2 StVO verstoßen. Danach muss sich jeder Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer gefährdet oder behindert wird. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Radweg hinter der Bushaltestelle eine leichte Linkskurve macht, hätte der Beklagte keinesfalls ohne Rücksicht auf den auch von ihm einzuhaltenden Seitenabstand einfach etwa einen halben Meter nach links gegen den dort befindlichen Kläger fahren dürfen.

Auf der anderen Seite trifft aber auch den Kläger ein Mitverschulden. Denn der Beklagte ist auch nach den eigenen Angaben des Klägers "etwas wackelig" gefahren. Unter diesen Umständen hätte der Kläger an dieser Stelle von einem Überholen Abstand nehmen sollen. Sein Entschluss, gleichwohl zu überholen, begründet nach Auffassung des Senats ein Mitverschulden, welches der Senat mit 50 % bewertet.

Der Senat hält unter Berücksichtigung einer hälftigen Haftungsverteilung ein Schmerzensgeld von 3.500,- € für angemessen. Der Kläger hat eine Luxation der linken Schulter und einen Teilabriss einer Sehne erlitten. Er war 2 Tage in stationärer Behandlung, 5 Wochen arbeitsunfähig und musste anschließend eine längere Physiotherapie machen.

Weiter steht dem Kläger bei einer Haftungsquote von 50 % materieller Schadensersatz in Höhe von 723,40 € zu. Der Kläger hat insgesamt Schäden in Höhe von 1.446,80 € erlitten. Der Kläger hat die Schäden an der Kleidung und am Handy durch Fotos belegt (siehe Anlagenband). Der Senat hat auch keine Zweifel, dass die durch die behandelnden Ärzte angeordnete Physiotherapie stattgefunden hat. Die geltend gemachten Beträge erscheinen nicht übersetzt (§ 287 Abs. 1 ZPO). Danach sind Fahrtkosten zur Physiotherapie in Höhe von 1.066,80 € angefallen (0,30 € je Kilometer). Weiter ist die Kostenpauschale von 30,00 € anzusetzen. Den Zeitwert für die Jacke, den Pullover und das beschädigte Handy schätzt der Senat auf 150,00 €, 80,00 € bzw. 120,00 €.

Da weitere Behandlungen angesichts der erlittenen Verletzungen nicht ausgeschlossen erscheinen, war auch dem Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden unter Berücksichtigung einer hälftigen Haftungsquote stattzugeben.

Schließlich kann der Kläger unter Berücksichtigung eines Gebührenstreitwertes von bis zu 4.000,- € vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 413,64 € ersetzt verlangen.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.