Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 12.01.2018, Az.: 1 Ws 3/18

Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen auch nach Erlass des nicht rechtskräftigen erstinstanzlichen Urteils

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
12.01.2018
Aktenzeichen
1 Ws 3/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 19837
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Bückeburg - 14.12.2017 - AZ: 4 Ns 33/17

Fundstellen

  • StRR 2018, 2
  • StV 2019, 112

Amtlicher Leitsatz

1. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen beansprucht auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils weiterhin Geltung, wobei sich der Maßstab zugunsten des Gewichtes des staatlichen Strafanspruchs verschiebt.

2. Auch nach einer erstinstanzlichen Verurteilung ist das Beschleunigungsgebot durch eine fehlerhafte vom Angeklagten nicht zu vertretende und vermeidbare Verfahrensverzögerung verletzt, wenn nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht trotz des Rechtes des Angeklagten, sich durch einen Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, ein sachlicher Grund für eine Terminierung erst nach Ablauf von sieben Monaten nicht erkennbar ist.

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Bückeburg vom 14. Dezember 2017 wird aufgehoben.

Der Angeklagte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeklagten hierdurch erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde am 26. November 2016 vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem fortlaufend in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht Bückeburg erließ am Tag der Festnahme Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen Bandendiebstahls gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Der Haftbefehl war auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt.

Die Staatsanwaltschaft Bückeburg hat gegen den Angeklagten gemeinsam mit zwei weiteren Angeklagten im weiteren Verlauf am 5. Dezember 2016 wegen Wohnungseinbruchdiebstahls und Diebstahls im besonders schweren Fall gemäß §§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 3, 244 Abs. 1 Nr. 3, 25 Abs. 2 53 StGB Anklage zum Amtsgericht Stadthagen - Schöffengericht - erhoben. Die zuständige Abteilung des Amtsgerichts hat mit Beschluss vom 21. Dezember 2016 das Hauptverfahren eröffnet und mit Beschluss vom selbigen Tage den Haftbefehl des Amtsgerichts Bückeburg vom 26. November 2016 gemäß der Anklageschrift neu gefasst sowie die Untersuchungshaft aus den Gründen des ursprünglichen amtsgerichtlichen Haftbefehls aufrechterhalten.

Nach Durchführung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung in der Zeit vom 9. März 2016 bis zum 27. April 2017 hat das Amtsgericht Stadthagen den Angeklagten mit Urteil vom 27. April 2017 wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tatmehrheit mit Diebstahl zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren 8 Monaten verurteilt und mit Beschluss vom selben Tage den amtsgerichtlichen Haftbefehl unter Bezugnahme auf die Gründe seines Erlasses aufrechterhalten sowie die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht fand an fünf Tagen statt, wobei an zwei Hauptverhandlungstagen nur für rund eine Stunde und an einem weiteren Tag nur für 15 Minuten verhandelt worden war.

Gegen das amtsgerichtliche Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft fristgemäß Berufung eingelegt, wobei die Staatsanwaltschaft im weiteren Verlauf ihre Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat.

Die Akten sind sodann unter dem 28. Juni 2017 beim zuständigen Berufungsgericht dem Landgericht Bückeburg eingegangen. Da der zuständige Strafkammervorsitzende krankheitsbedingt bis zum 4. September 2017 verhindert und der erste nach der Geschäftsverteilung zuständige Vertreter bis zum 7. Juli 2017 im Urlaub war, wurde die Sache am 29. Juni 2017 zunächst der zweiten Vertreterin vorgelegt. Diese sah sich an einer weiteren Förderung des Verfahrens gehindert und verfügte die Vorlage an den ersten Vertreter nach dessen Urlaubsrückkehr.

Der erste Vertreter verfügte nach seiner Urlaubsrückkehr am 10. Juli 2017 sodann die Abfrage des Berufungsziels, ohne bereits konkrete Terminvorschläge zu unterbreiten.

Mit Verfügung vom 8. August 2017 wurden sodann gegenüber den drei am Verfahren beteiligten Verteidigern Terminvorschläge für 13 Hauptverhandlungstage ab dem 10. Oktober bis zum 29. November 2017 unterbreitet. Nach Rückmeldung fanden sich übereinstimmende Termine der Verteidiger nur am 9., 14. und 29. November, woraufhin mit Verfügung vom 28. August 2017 weitere 13 Terminvorschläge zwischen dem 1. Februar 2018 und dem 23. Februar 2018 unterbreitet wurden. Temin zur Berufungshauptverhandlung wurde sodann mit Verfügung vom 15. September 2017 beginnend ab dem 6. Februar 2018 und sechs weiteren Folgeterminen anberaumt. Zeugen und ein Sachverständiger sind nur für die ersten drei Hauptverhandlungstage geladen worden.

Unter dem 4. Dezember 2017 hat der Verteidiger des Angeklagten Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Haftfortdauerbeschluss unter Hinweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots erhoben. Mit Beschluss vom 14. Dezember 2017 hat das Berufungsgericht den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung der Haftanordnung bzw. dessen hilfsweise begehrte Außervollzugsetzung zurückgewiesen und die Fortdauer der Haft angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner am 28. Dezember 2017 bei dem Landgericht eingelegten und insbesondere auf den Gesichtspunkt der Verletzung des Beschleunigungsgebots gestützten Beschwerde, der das Landgericht mit Beschluss vom 2. Januar 2018 nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Auf die Beschwerde des Angeklagten war der gegen ihn gerichtete Haftfortdauerbeschluss vom 14. Dezember 2017 aufzuheben und der Angeklagte aus der Haft zu entlassen.

1. Zwar liegen die Voraussetzungen des § 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO vor, insbesondere besteht gegen den Angeklagten der durch Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 27. April 2017 konkretisierte dringende Tatverdacht des Wohnungseinbruchdiebstahls in Tatmehrheit mit Diebstahl. Ferner besteht weiterhin die Gefahr, dass der Angeklagte sich dem Strafverfahren entziehen werde. Mildere Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft sind nicht i. S. d. § 116 Abs. 1 StPO zur Verfahrenssicherung hinreichend geeignet. Schließlich steht die Anordnung der Haft auch - offenkundig - nicht i. S. d. § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis.

2. Jedoch erweist sich die Fortdauer der Untersuchungshaft infolge vermeidbarer und dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen als unverhältnismäßig.

a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ist der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenüberzustellen, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2017 - 2 BvR 2552/17 -, Rn. 15, juris). Dabei darf die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der erwarteten Strafe stehen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt der Untersuchungshaft auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 -, Rn. 20, juris).

b) Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt insofern, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Angeklagten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2017 - 2 BvR 2552/17 -, Rn. 16, juris). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Angeklagten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2017 - 2 BvR 2552/17 -, Rn. 17, juris).

Im Rahmen einer Abwägung zwischen Freiheitsanspruch des Betroffenen und Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer dabei anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Maßgeblich sind hierbei in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 -, Rn. 24, juris). Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12 -, Rn. 41, juris). Eine Verzögerung des Beschleunigungsgrundsatzes ist nur dann hinzunehmen, wenn hierfür wichtige Gründe vorliegen, wozu auch eine kurzfristige und nicht vorhersehbare Überlastung eines Spruchkörpers in Folge der Häufung anhängiger Sachen zählen kann, die auch durch Ausschöpfen aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht beseitigt werden kann (BGHSt 38, 43; OLG Celle, StV 1995, 425; 2002, 150).

c) Das Beschleunigungsgebot verliert seine Bedeutung auch nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24. August 2010 - 2 BvR 1113/10 -, Rn. 22, juris). Allerdings vergrößert sich, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09 -, Rn. 23, juris).

2. Nach diesen Grundsätzen war in der vorliegenden Sache die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar.

So ist bereits nicht nachvollziehbar, weshalb die Abfrage nach dem Berufungsziel nicht bereits mit der Unterbreitung von vorsorglichen Terminvorschlägen verbunden worden war. Soweit für den Monat Oktober und November gegenüber den Verteidigern sodann konkrete Terminvorschläge unterbreitet, welche nur an drei Hauptverhandlungsterminen zu Übereinstimmenden Vakanzen bei den Verteidigern führten, war hierdurch ein Verstoß gegen das für Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot zwar noch nicht berührt. Soweit dagegen im weiteren Verlauf ohne aus den Akten erkennbare und nachvollziehbare Begründung Terminvorschläge für einen Zeitraum ab dem 1. Februar 2018 unterbreitet wurden, ist nicht erkennbar, dass diese Verfahrensverzögerung bei vorausschauender und das Beschleunigungsgebot berücksichtigender Planung unvermeidbar war.

Angesichts der Dauer der erstinstanzlichen Hauptverhandlungstermine mit einem Kurztermin und zwei weiteren Terminen mit einer Dauer von nur rund einer Stunde bei insgesamt fünf Hauptverhandlungstagen sowie der nunmehr erfolgten Ladung von Zeugen und einem Sachverständigen an lediglich drei anberaumten Berufungshauptverhandlungstagen ist bereits zweifelhaft, ob mehr als drei Hauptverhandlungstage erforderlich sein werden. Angesichts des Umstands, dass seitens der Verteidiger bereits drei gemeinsame Hauptverhandlungstage im November 2017 gefunden werden konnten, hätte sich bei einer erneuten Korrespondenz mit der Verteidigung und vorausschauender ergänzender Terminplanung im Dezember der hier nur scheinbar unbehebbare Konflikt zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und dem sich aus Art 2 Abs., 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Recht eines jeden Angeklagten, sich nach Möglichkeit vom Anwalt des Vertrauens vertreten zu lassen, voraussichtlich auflösen lassen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.

IV.

Gegen diesen Beschluss ist nach § 304 Abs. 4 StPO ein Rechtsmittel nicht eröffnet.