Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 05.06.2024, Az.: 1 UF 18/24

Entziehung der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung; Verursachung eines Schütteltraumas

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
05.06.2024
Aktenzeichen
1 UF 18/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 18173
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2024:0605.1UF18.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Helmstedt - AZ: 4 F 60/23

Fundstelle

  • FA 2024, 243

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Anhörungsrüge ist kein Behelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der betroffenen Entscheidung.

  2. 2.

    Eine Gehörsverletzung kommt in Betracht, wenn ein bestimmter Vortrag eines Verfahrensbeteiligten oder ein seine Auffassung stützendes Beweisergebnis in entscheidungserheblicher Weise übergangen wurde.

In der Familiensache
betreffend die elterliche Sorge für
A. K., geboren am,
weitere Beteiligte:
1. Frau M. K.,
- Kindesmutter und Beschwerdeführerin -
2. Herr I. K.,
- Kindesvater und Beschwerdeführer -
Verfahrensbevollmächtigter zu 1. u. 2.:
Rechtsanwalt D. L.,
Geschäftszeichen:
hat der 1. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Braunschweig durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht M., die Richterin am Oberlandesgericht W. und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. E. am 5. Juni 2024 beschlossen:

Tenor:

Die Anhörungsrüge des Verfahrensbeistands vom 27.05.2024 gegen den Beschluss des Senats vom 07.05.2024 wird zurückgewiesen.

Von der Erhebung von Gerichtskosten für die Anhörungsrüge wird abgesehen; außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Entscheidung ist unanfechtbar.

Gründe

I.

Die mit Schreiben vom 27.05.2024 erhobene Anhörungsrüge des Verfahrensbeistands bleibt ohne Erfolg. Sie ist zwar innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 44 Abs. 2 Satz 1 FamFG eingelegt worden. Soweit sie auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, ist sie jedoch unbegründet.

Gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 FamFG ist das Verfahren auf die Rüge eines durch die Entscheidung beschwerten Beteiligten fortzuführen, wenn

1. ein Rechtsmittel oder ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung oder eine andere Abänderungsmöglichkeit nicht gegeben ist und

2. das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 4 FamFG muss die Rüge das Vorliegen der in Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 genannten Voraussetzungen darlegen, somit ein schlüssiges und substantiiertes Vorbringen einer entscheidungserheblichen Gehörsverletzung enthalten (vgl. Sternal/Göbel, FamFG, 21. Aufl., § 44 Rn. 32 ff. m.w.N.). Das Schreiben des Verfahrensbeistands vom 27.05.2024 wird diesen Darlegungsanforderungen nur teilweise gerecht. Soweit dies der Fall ist, lässt sich im Ergebnis jedoch keine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung feststellen. Im Einzelnen:

1. Die Beanstandung des Verfahrensbeistands, der Senat habe den Verfahrensstoff nicht vollständig und teils unzutreffend gewürdigt, ist bereits nicht geeignet, eine Gehörsverletzung zu begründen. Insoweit ist zu beachten, dass die Anhörungsrüge kein Behelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 18.04.2018, XII ZB 338/17, juris Rn. 5 m.w.N.; Sternal/Göbel, a.a.O. Rn. 34; Zöller/Vollkommer, ZPO, 35. Aufl., § 321a Rn. 1 m.w.N.). Mit der Gehörsrüge kann der Verfahrensbeistand sich daher nicht mit Erfolg gegen die seines Erachtens fehlerhafte Einschätzung des Senats wenden, nach der im Rahmen der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Aufrechterhaltung der Fremdunterbringung das unterstellte mehrzeitige Schütteltrauma vorliegend eine Abwägung mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit und die Schwere etwaiger weiterer Verletzungen nicht entbehrlich macht. Denn dabei handelt es sich um einen Einwand gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit der Entscheidung.

Eine Gehörsverletzung käme lediglich in Betracht, wenn der Senat in diesem Zusammenhang einen bestimmten Vortrag des Verfahrensbeistands oder ein seine Auffassung stützendes Beweisergebnis in entscheidungserheblicher Weise übergangen hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr hat der Senat sich ausdrücklich damit auseinandergesetzt, aus welchen Gründen vorliegend - im Unterschied zu dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.09.2022 (1 BvR 1807/20) zu Grunde liegenden Sachverhalt - nicht mit der Wiederholung eines Schütteltraumas oder sonstiger ähnlich schwerwiegender Verletzungen zu rechnen ist. Soweit der Senat dabei auch darauf abgestellt hat, die Krafteinwirkung sei beim Schütteln eines Säuglings weniger erheblich als bei der Verursachung von Knochenbrüchen, liegt darin kein entscheidungsrelevantes Übergehen der Ausführungen des Sachverständigen Dr. A. in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht, nach denen die bei A. festgestellten Verletzungen nicht durch das Überfahren einer Bodenwelle oder ein nur leichtes Schütteln verursacht worden sein könnten. Denn auch ein heftiges Schütteln unterscheidet sich nach der Würdigung des Senats hinsichtlich der Krafteinwirkung von der Anwendung anderweitiger erheblicher körperlicher Gewalt, die geeignet ist, ähnlich schwerwiegende Verletzungen wie die hier eingetretenen Hirnschädigungen, beispielweise Knochenbrüche oder innere Blutungen zu verursachen.

Soweit der Verfahrensbeistand moniert, für die Beurteilung der Gefährlichkeit sei maßgeblich auf die Schwere der Verletzungsfolge abzustellen und der Krafteinwirkung könne hierfür allenfalls Indizwirkung zukommen, hat der Senat genau diese indizielle Bedeutung berücksichtigt. Im Ergebnis gelangt der Senat dabei zu der Einschätzung, dass vorliegend insgesamt keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer Wahrscheinlichkeit weiterer schwerwiegender körperlicher Verletzungen vorhanden sind. Indem der Verfahrensbeistand dies beanstandet, richten sich seine Ausführungen lediglich gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung und nicht gegen eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs.

2. Auch der Einwand, der Senat habe die Ausführungen des Sachverständigen P. zur Erforderlichkeit einer Therapiemotivation außer Acht gelassen und fehlerhaft die von den Eltern erklärte Behandlungsbereitschaft mit einer Behandlungsmotivation gleichgesetzt, betrifft die inhaltliche Würdigung des Senats und ist der Anhörungsrüge nicht zugänglich. Gleiches gilt für die Einschätzung des Senats, nach der eine Eltern-Kind-Maßnahme als zur Gefahrenabwendung geeignet erachtet wird. Allein daraus, dass der Senat in diesem Zusammenhang die Einschätzung des Sachverständigen P. in seinem Gutachten vom 11.04.2023, nach der auch ein Maximum an äußerer Unterstützung und Kontrolle eine Wiederholungsgefahr nicht unterbinden könne, nicht ausdrücklich erwähnt hat, lässt sich nicht schließen, dass dieser Aspekt bei der Entscheidungsfindung übergangen wurde. Denn in den Beschlussgründen wird ausgeführt, warum der Senat - auch aufgrund der im Vergleich zu der Situation im April 2023 veränderten Sachlage - zur Abwendung von Gefährdungssituationen für das Kind keine ununterbrochene Anwesenheit Dritter als erforderlich erachtet.

3. Soweit der Verfahrensbeistand in Ergänzung zu seinem bisherigen Vorbringen von einem Vorfall berichtet, bei dem es im Rahmen einer stationären Eltern-Kind-Maßnahme zu einer Kindesmisshandlung gekommen ist, legt er nicht dar, warum er dieses Vorbringen nicht bereits vor der verfahrensbeendenden Entscheidung des Senats halten konnte. Hierzu hatte er ausreichend Gelegenheit, da der Senat den Beteiligten bereits mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, dass alternative Maßnahmen zu einer Fremdunterbringung zu erörtern sein werden. Auch hatte er Kenntnis von der an das Jugendamt im Vorfeld der mündlichen Verhandlung ergangenen Bitte um Ermittlung von Möglichkeiten der Aufnahme der Familie in eine Eltern-Kind-Einrichtung. Etwaige Bedenken gegen eine erneute Eltern-Kind-Maßnahme hätte er damit bereits vor oder spätestens während der mündlichen Verhandlung, in der diese Möglichkeit ausdrücklich thematisiert und durch den Senat befürwortet worden ist, vorbringen können. Damit liegt insoweit keine Verletzung seines rechtlichen Gehörs vor.

4. Der Verfahrensbestand hat auch nicht dargelegt, dass der Senat bei der Beschlussfassung ein sonstiges Vorbringen seinerseits übergangen hat.

a) Insbesondere weicht die Entscheidung des Senats nicht von der Stellungnahme des Verfahrensbeistands im Schreiben vom 27.03.2024 ab, nach der Kinder nicht nur vor potenziell lebensbedrohlichen, sondern vor jeglichen Misshandlungen zu schützen seien. Soweit in der Beschlussbegründung darauf abgestellt wird, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es künftig zu weiteren gravierenden körperlichen Schädigungen des Kindes A. kommen könnte, ist damit keinesfalls gesagt, dass Kinder weniger schwerwiegende Misshandlungen hinzunehmen haben. Die Einschätzung, dass sich Art und Schwere der vorliegend in Betracht zu ziehenden künftigen Gefährdung des Kindeswohls deutlich von der in Folge des unterstellten Schüttelns eingetretenen Schädigung unterscheiden, hatte vielmehr lediglich insoweit Einfluss auf die getroffene Prognoseentscheidung, als an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je schwerer der drohende Schaden wiegt (vgl. die bereits im Senatsbeschluss vom 07.05.2024 zitierte Rechtsprechung, z. B. BGH, Beschluss vom 21.09.2022 - XII ZB 150/19, juris Rn. 21; BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, juris Rn. 45). Umgekehrt steigen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, wenn die drohenden Folgen weniger schwer wiegen. Wie unter Ziff. II. 2. d) der Gründe des Beschlusses vom 07.05.2024 dargestellt, hat der Senat vorliegend durchaus eine fortbestehende Gefährdung des körperlichen und seelischen Kindeswohls in den Blick genommen. Unter Berücksichtigung von Art und Schwere etwaiger in Betracht zu ziehender körperlicher oder psychischer Verletzungen hat er jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass trotz der Unterbringung der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung ein Schaden eintreten könnte, als derart gering eingeschätzt, dass dadurch eine fortgesetzte Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht gerechtfertigt werden kann.

b) Auch die Ausführungen des Verfahrensbeistands im Schreiben vom 30.04.2024 zu den zeitlichen Abläufen und zur Rechtzeitigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe hat der Senat nicht übergangen. Vielmehr hat er sich damit ausdrücklich befasst und die Tatsachengrundlage als nicht ausreichend eingeschätzt, um den Eltern den Vorwurf machen zu können, sie hätten ihre Tochter trotz eindeutiger Symptome erst mit mindestens einem Tag Verspätung im Krankenhaus vorgestellt. Soweit der Verfahrensbeistand die Würdigung des Senats nicht teilt und für unzutreffend hält, kann er dies nicht im Wege der Anhörungsrüge geltend machen, da dies die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung betrifft.

5. Der weitere Einwand, der Senat habe übersehen, dass der Vater gegenüber dem Sachverständigen P. sein generelles Misstrauen u. a. gegenüber Ärzten zum Ausdruck gebracht habe, führt im Ergebnis ebenfalls nicht zur Feststellung einer entscheidungserheblichen Gehörsverletzung. Tatsächlich wird dieser Gesichtspunkt in den Beschlussgründen zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Auch eine Berücksichtigung dieses Umstands kann jedoch nach der Würdigung des Senats nicht die Annahme rechtfertigen, dass der Vater seiner Tochter im Falle einer behandlungsbedürftigen Erkrankung oder Verletzung nicht die erforderliche ärztliche Hilfe zukommen lassen würde. Allein aus dem Vorhandensein einer gewissen Skepsis gegenüber Angaben und Erkenntnissen von Medizinern lässt sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit schließen, dass dies die Eltern erforderlichenfalls vom Aufsuchen eines Arztes abhalten würde.

6. Schließlich hat der Senat entgegen der Rüge des Verfahrensbeistands keine Tatsachen verwertet, zu denen die Beteiligten keine Gelegenheit zur Äußerung hatten. Vielmehr waren alle entscheidungserheblichen Aspekte Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Dies gilt insbesondere auch für die Erwägung, dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden müsse, dass dem für das Schütteln verantwortlichen Elternteil mangels eines feststellbaren früheren Auftretens auffälliger Symptome erst nach der Feststellung der Subduralblutungen in der Kinderklinik die schwerwiegenden Folgen seines Handelns bewusst geworden sein könnten. Dieser Gedanke ist während der mündlichen Befragung des Sachverständigen P. in Bezug auf den von diesem erwähnten mangelnden Lernerfolg nach einem ersten Schütteln ausdrücklich aufgegriffen worden und alle Beteiligten hatten insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme.

Soweit der Verfahrensbeistand die vorgenannte Erwägung außerdem inhaltlich kritisiert, kann dies - wie bereits dargelegt - nicht Gegenstand einer Anhörungsrüge sein. Im Übrigen hat der Senat insoweit lediglich eine Möglichkeit benannt, ohne es damit auszuschließen, dass das Schütteln auch in dem Bewusstsein der damit verbundenen Gefahr einer lebensbedrohlichen Verletzung des Säuglings erfolgt sein kann. Selbst wenn ein solcher Geschehensablauf zu Grunde gelegt wird, besteht nach der Würdigung des Senats indes eine hinreichende Prognosesicherheit dahingehend, dass es im Rahmen einer stationären Eltern-Kind-Maßnahme nicht zu weiteren Gefährdungen kommen wird und dass die Eltern durch pädagogische und therapeutische Maßnahmen ihre Fähigkeit zum Umgang mit Stresssituationen und auftretenden Affekten dahingehend werden verbessern können, dass sie ihre Tochter anschließend mit ambulanter Unterstützung gefahrlos im eigenen Haushalt betreuen können. Die vom Verfahrensbestand behauptete Gehörsverletzung wäre damit auch nicht entscheidungserheblich.

Nach alledem liegt in keinem der vom Verfahrensbeistand vorgebrachten Umstände eine entscheidungserhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs, so dass die Anhörungsrüge zurückzuweisen ist.

II.

Ein Anlass, den übrigen Beteiligten rechtliches Gehör zu der Anhörungsrüge zu gewähren, bestand nicht, da diese durch die Zurückweisung der Rüge nicht in ihren Rechten berührt werden.

Ferner bestand kein Anlass, dem Verfahrensbeistand durch einen Hinweis Gelegenheit zur Rücknahme der Anhörungsrüge zu geben, da der Verfahrensbeistand gemäß § 158 c Abs. 4 FamFG nicht zur Kostentragung herangezogen werden kann und daher von der Erhebung von Gerichtskosten abgesehen wurde. Der Ausspruch zu den außergerichtlichen Kosten der Anhörungsrüge erfolgt lediglich klarstellend, da das Rügeverfahren nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 5b RVG zum Rechtszug gehört.

Die Unanfechtbarkeit der Entscheidung ergibt sich aus § 44 Abs. 4 Satz 3 FamFG.