Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 06.01.2009, Az.: 1 Ws 623/08
Rechtsschutzbedürfnis auf Strafzeitberechnung nach Haftentlassung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 06.01.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ws 623/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 12128
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2009:0106.1WS623.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 458 Abs. 1 StPO
- § 51 StGB
- § 58 Abs. 2 S. 2 StGB
Fundstellen
- BewHi 2009, 420
- NStZ 2010, 108-109
Amtlicher Leitsatz
Für einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung über die Berechnung der Strafzeit besteht nach Entlassung aus dem Justizvollzug kein Rechtsschutzbedürfnis mehr.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde wird als unzulässig verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts B. vom 21. Juli 2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Unter Anrechnung von bis dahin in dieser Sache erlittener Untersuchungshaft verbüßte er 2/3 der Strafzeit ab dem 3. Juli 2007 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Vollzug am 26. September 2008. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Noch während des Vollzugs beantragte der Verurteilte auf die Strafzeit die Anrechnung weiterer Untersuchungshaft, die er im Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. (8. Oktober 1996 bis 19. Dezember 1996 = ursprünglich 73 Tage) erlitten hatte. Dieses Verfahren war im Hinblick auf eine weitere Verurteilung durch das Landgericht E. vom 7. Mai 2002 (Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten im Verfahren 782 Js 20478/98) am 7. Juli 2003 nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Mit der Einstellung galt wegen der dadurch vorzunehmenden Anrechnung der Untersuchungshaft aus dem Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. die Strafzeit aus dem Verfahren 782 Js 20478/98 StA E. als vollständig verbüßt. Die Untersuchungshaft konnte dabei indessen nicht mehr vollständig angerechnet werden, weil die Reststrafe aus dem Verfahren 782 Js 20478/98 StA E. am 7. Juli 2003 nur noch 25 Tage umfasste. Für die übrigen 48 der ursprünglich 73 Tage Untersuchungshaft begehrte der Verurteilte daher die Anrechnung im vorliegenden Verfahren. Er beruft sich maßgeblich darauf, dass sämtliche gegen ihn verhängten Strafen gesamtstrafenfähig gewesen wären, wenn die Vollstreckung aus dem Urteil des Landgerichts E. vom 7. Mai 2002 nicht bereits vor Erlass des Urteils durch das Landgericht B. vom 21. Juli 2003 als vollständig verbüßt gegolten hätte. Bei Bildung dieser Gesamtstrafe wäre eine vollständige Anrechnung auch der Untersuchungshaftzeit aus dem Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. auf die neu berechnete Strafzeit erfolgt. Zusätzlich macht er die Anrechnung erbrachter Arbeitsauflagen aus zwei Bewährungsverfahren geltend, deren zugrundeliegenden Strafen in das Urteil des Landgerichts E. vom 7. Mai 2002 einbezogen worden und die ebenfalls mit der hier zugrundeliegenden Tat gesamtstrafenfähig gewesen sein sollen. Ergänzend begehrt er auch die Anrechnung von Untersuchungshaft, die er im Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. zusätzlich wegen desselben Tatvorwurfs in B. verbüßt haben will.
Die Kammer hat den Antrag auf Anrechnung im vorliegenden Verfahren mit dem angefochtenen Beschluss abgelehnt. Sie beruft sich auf Ausführungen der Staatsanwaltschaft B. vom 20. Februar 2008, in denen eine Anrechnung der vom Antragsteller benannten Zeiträume abgelehnt worden ist. Darin heißt es maßgeblich, dass eine Anrechnung verfahrensfremder Untersuchungshaft nicht in Frage komme. Gegen diesen Beschluss, der dem Verurteilten formlos übersandt worden ist, wendet sich der Verurteilte mit seinem als "Beschwerde" bezeichneten Rechtsbehelf, in dem er erneut auf die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit aller ihm vorgeworfenen Taten hinweist und ausführt, dass die zwischenzeitlich erfolgte Entlassung aus dem Strafvollzug nicht zur Erledigung seines Antrags geführt habe, "da sich die zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe verkürzen würde".
II.
Die sofortige Beschwerde (§ 462 Abs. 3 StPO) ist mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig.
Den ursprünglich zulässig gestellten Antrag auf Anrechnung von verfahrensfremder Untersuchungshaft bzw. Berücksichtigung von erbrachten Arbeitsleistungen im Rahmen einer Bewährungsauflage zur gerichtlichen Festlegung der noch zu verbüßenden Strafzeit (§ 458 Abs. 1 StPO, §§ 51, 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 56f Abs. 3 StGB) kann der Verurteilte nach seiner Entlassung aus dem Justizvollzug nicht mehr erfolgreich verfolgen. § 458 Abs. 1, 2. Alt. StPO dient dazu, bei Unklarheiten über die Berechnung der erkannten Strafe eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Dieser Entscheidung kommt eine konstitutive Wirkung darüber, welche freiheitsentziehenden Maßnahmen auf eine erkannte Freiheitsstrafe anzurechnen sind, hingegen nicht zu. Denn die Wirkung der Anrechnung solcher Maßnahmen folgt unmittelbar aus § 51 StGB (vgl. BGHSt 27, 287). Zweifel über die Berechnung der erkannten Strafzeit können somit nur dann entstehen, wenn die hierfür zuständige Vollstreckungsbehörde (vgl. BGHSt 18, 34. 21, 186. 27, 287) eine Strafzeitberechnung tatsächlich vorzunehmen hat. Kann sie dann aufgrund einer Unklarheit nicht entscheiden, unterbreitet sie ihre Zweifel dem Gericht. Ebenso kann der Verurteilte eine von der Vollstreckungsbehörde vorgenommene Strafzeitberechnung gerichtlich überprüfen lassen (vgl. SKPaeffgen, § 458 Rn. 6). Ist jedoch eine Strafzeitberechnung gar nicht veranlasst, ist auch für eine gerichtliche Überprüfung kein Raum. So liegt es hier. Mit der Entlassung des Verurteilten endete die von ihm vormals berechnete und zu verbüßende Strafzeit. Die Vollstreckungsbehörde ist nunmehr mangels Vollstreckung der Reststrafe gar nicht in der Lage, eine (neue) Strafzeitberechnung, bei der gegebenenfalls eine Anrechnung erfolgen soll, vorzunehmen. Hierfür müsste nämlich zumindest der Beginn der Strafzeit feststehen, welcher nach § 38 StrVollstrO davon abhängt, dass sich der Verurteilte in staatlichem Gewahrsam befindet.
Der Antrag ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen oder vorherigen Feststellung der noch zu verbüßenden Strafe zulässig. Ein Interesse für eine nachträgliche Entscheidung kann bereits deshalb nicht angenommen werden, weil anzurechnende Untersuchungshaft nach § 39 Abs. 4 StrVollstrO immer vom zu ermittelnden Strafzeitende abgerechnet wird, die Anrechnung damit also für den Fall des Widerrufs der Reststrafenaussetzung immer noch erfolgen kann und nicht etwa bereits vom Verurteilten verbüßte Tage für die Anrechnung zu berücksichtigen sind. Angesichts der Höhe der Reststrafe ist auch ausgeschlossen, dass diese durch die im Raum stehenden Zeiträume bereits vollständig verbüßt wäre. Im Übrigen wäre das Rechtsschutzbedürfnis auch in diesem Fall zweifelhaft (vgl. OLG Stuttgart, NStZRR 2003, 60). Der Verurteilte beruft sich in seinem Beschwerdevorbringen auch allein darauf, dass sich bei Berücksichtigung der von ihm vorgetragenen Umstände die zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe - also für die Zukunft - verkürzen würde. Dem Verurteilten geht es im Ergebnis nur darum, gerichtlich klären zu lassen, wieviele Tage Freiheitsstrafe er noch zu verbüßen hätte, wenn es zu einem Widerruf der Reststrafenaussetzung käme. Für eine solche Feststellung, gerichtet auf ein unsicheres Ereignis, besteht indessen kein sachliches Interesse. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es zu einem Widerruf kommen wird, sind bislang nicht ersichtlich. Es lässt sich auch nicht darauf abstellen, dass der Verurteilte unter Bewährung steht, denn für die Dauer der festgelegten Bewährungszeit hätte eine solche Feststellung gar keine Auswirkung. Ob auf die Reststrafe die vom Verurteilten geltend gemachten Zeiträume von verfahrensfremder Untersuchungshaft bzw. die nach seinem Vortrag erbrachten Arbeitsstunden anzurechnen sind, kann der Verurteilte nur im Fall des Widerrufs gerichtlich feststellen lassen.
Der Senat weist allerdings darauf hin, dass die angefochtene Entscheidung der Kammer inhaltlich bedenklich ist. Der Hinweis auf den Vermerk der Staatsanwaltschaft B., wonach verfahrensfremde Untersuchungshaft nicht anzurechnen sei, genügt den sich aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 GG ergebenden Anforderungen an die Berechnung der Strafzeit nicht. Zwar muss nach dem Wortlaut des § 51 Abs. 1 StGB die Freiheitsentziehung aus Anlass der Tat erlitten worden sein, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 1999, 2430), des BGH (NJW 1997, 2392) und anderer Oberlandesgerichte (vgl. etwa OLG Naumburg, NStZ 1997, 129 [OLG Naumburg 02.09.1996 - 2 Ws 111/96]. OLG Hamm, NStZRR 1996, 377. OLG Frankfurt, NStZRR 2000, 159. OLG Düsseldorf, NStZRR 2001, 122) ist aber auch verfahrensfremde Untersuchungshaft anrechenbar. Ausgehend von dem Begriff der "funktionalen Verfahrenseinheit" käme eine Anrechnung zumindest der erlittenen Untersuchungshaft aus dem Verfahren 320 Js 23166/96 StA E. vorliegend in Betracht, wenn sich die Angaben des Verurteilten über die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der den jeweiligen Verfahren zugrundeliegenden Straftaten bestätigen und auch keine relevante Zäsur durch eines der gegen den Verurteilten ergangenen Urteile stattgefunden hat. Dies konnte der Senat anhand des ihm vorliegenden Teils des Vollstreckungsheftes nicht feststellen. Es wird Aufgabe der Kammer für den Fall des Widerrufs sein, die Berechnung der Strafzeit durch die Vollstreckungsbehörde dabei nicht nur auf Plausibilität zu überprüfen, sondern die Strafzeit selbst verbindlich zu berechnen (vgl. KKAppl, § 458 StPO, Rn. 7 m.w.N.). Nur durch vollständige Vorlage aller Verfahrensunterlagen wird sich so auch feststellen lassen, ob die vom Verurteilten behauptete Untersuchungshaft in B. tatsächlich erfolgt, ob es zu der behaupteten Erbringung von Arbeitsauflagen gekommen und ob es gegebenenfalls zu einer sich auf die Berechnung der Strafzeit auswirkenden Anrechnung nach §§ 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 56f Abs. 3 StGB gekommen ist.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.