Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 03.09.2014, Az.: 1 Ss (OwiZ) 1060/14

Pflegeversicherung; SGB II; SGB XI; Arbeitslosengeld; Unterlassungsdelikt; Private Pflegeversicherung

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
03.09.2014
Aktenzeichen
1 Ss (OwiZ) 1060/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42487
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG - 27.03.2014 - AZ: 15 OWi 915 Js 59121/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Ordnungswidrigkeit gemäß § 121 Abs 1 Nr 6 SGB XI handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt, so dass dem Handlungspflichtigen die Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten möglich und zumutbar sein muss (Anschluss: OLG Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2013, 53 Ss OWi 93/13, juris, Rn. 8).

Einem Betroffenen, der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hat, ist es nach den Grundsätzen der "omissio libera in causa" vorzuwerfen, wenn er den erforderlichen Antrag auf Übernahme der Aufwendungen für eine angemessene private Pflegeversicherung (§ 26 Abs 2 S 1, Abs 4 SGB II), der zu einer entsprechenden Zahlung an das Versicherungsunternehmen geführt hätte (§ 26 Abs. 4 SGB II), bewusst nicht gestellt hat.

Tenor:

1. Auf Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 27. März 2014 zugelassen.

2. Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

3. Auf die Rechtsbeschwerde wird das genannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

4. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Helmstedt zurückverwiesen.

Gründe

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen und hat auch in der Sache Erfolg.

I.

Durch das angefochtene Urteil ist der Betroffene wegen Verzugs mit der Entrichtung von sechs Monatsprämien zur privaten Pflegeversicherung (§ 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI) mit einer Geldbuße von 200,- € belegt worden. Nach den Urteilsfeststellungen zahlte der Betroffene seine monatlich fälligen Beiträge zur privaten Pflegeversicherung in Höhe von „rund 17,- €“ im Zeitraum ab 1. April 2013 bis zum 8. September 2013 nicht an die DKV Krankenversicherungs AG. Erst am 9. Dezember 2013 hätten die Eltern des Betroffenen rückwirkend die Beiträge für den genannten Zeitraum entrichtet. Dass der Betroffene - wie das Amtsgericht ebenfalls festgestellt hat - seit 2008 in Privatinsolvenz sei, stehe seiner Leistungspflicht nicht entgegen. Denn ihm sei vorzuwerfen, dass er keine staatliche Hilfe in Anspruch genommen habe. Hätte er rechtzeitig „z.B. Arbeitslosengeld II“ beantragt, wäre es nicht zum Beitragsrückstand gekommen. Der Betroffene habe eingeräumt, dass ihm die Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen bekannt gewesen sei. Der Betroffene habe sich jedoch aus persönlicher Überzeugung - zur Wahrung seiner Freiheit - gegen solche Hilfeleistungen entschieden und damit billigend in Kauf genommen, seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachzukommen.

Gegen dieses Urteil hat der Betroffene mit Schriftsatz vom 3. April 2014 - eingegangen am selben Tag - Rechtsbeschwerde eingelegt und diese nach Zustellung des Urteils (am 8. Mai 2014) mit einem am 6. Juni 2014 eingegangenen Schriftsatz begründet. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und ihn freizusprechen. Hilfsweise begehrt er die Zurückweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung. Das Amtsgericht habe verkannt, dass er aufgrund seiner finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht leistungsfähig gewesen sei.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die als Antrag auf Zulassung des Rechtsmittel auszulegende Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Die Zulassungsvoraussetzungen seien nicht gegeben. Insbesondere liege der Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts nicht vor. Es sei in der Rechtsprechung zwar anerkannt, dass es sich bei § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI um ein echtes Unterlassungsdelikt handele und eine Verurteilung deshalb nur möglich sei, wenn der Verpflichtete leistungsfähig ist. Dies habe das Amtsgericht Helmstedt jedoch nicht verkannt, sondern zutreffend nach den Grundsätzen der „omissio libera in causa“ eine fiktive Leistungsfähigkeit des Betroffenen angenommen, weil dieser rechtzeitig Sozialleistungen hätte in Anspruch nehmen können.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, da es gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen. Aus demselben Grund, ist die Sache gem. § 80 a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen. Bei beiden Entscheidungen handelt es sich um solche des unterzeichnenden Berichterstatters als Einzelrichter. Die Zulassungs- und Übertragungsentscheidung ist zu treffen, weil es rechtlich ungeklärt ist, ob es einem Betroffenen zumutbar ist, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, um seine Leistungsfähigkeit zum Zwecke von Zahlungen an die private Pflegeversicherung herzustellen. Diese Rechtsfrage war für das Amtsgericht, auf dessen Sicht es ankommt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 03.02.2009, 5 Ss OWi 637/08, juris, Rn. 3), entscheidungserheblich.

III.

Die Rechtsbeschwerde hat auf den Hilfsantrag des Betroffenen mit der Sachrüge Erfolg.

1. Allerdings muss - im Gegensatz zur Auffassung des Betroffenen - eine Verurteilung nicht am Fehlen seiner Leistungsfähigkeit scheitern. Es trifft zwar zu, dass es sich bei der Ordnungswidrigkeit gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI um ein echtes Unterlassungsdelikt handelt und dem Handlungspflichtigen die Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten mithin möglich und zumutbar sein muss (OLG Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2013, 53 Ss OWi 93/13, juris, Rn. 8). Daraus folgt, dass einem Betroffenen das Unterlassen der Prämienzahlung nicht vorgeworfen werden kann, wenn er nicht zahlungsfähig ist (OLG Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2013, 53 Ss OWi 93/13, juris, Rn. 8). Dies entlastet ihn jedoch dann nicht, wenn er, was hier das Amtsgericht ohne nähere Prüfung erwägt, einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hat.

Wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, wäre es einem Betroffenen in einem solchen Fall nach den Grundsätzen der „omissio libera in causa“ vorzuwerfen, dass er nicht rechtzeitig den erforderlichen Antrag (§ 37 SGB II) auf Leistungen nach dem SGB II gestellt hat. Denn für Bezieher von Arbeitslosengeld II, die in der sozialen Pflegeversicherung weder versicherungspflichtig noch familienversichert sind, werden für die Dauer des Leistungsbezugs die Aufwendungen für eine angemessene private Pflegeversicherung im notwendigen Umfang übernommen (§ 26 Abs. 2 S. 1 SGB II). Der Zuschuss wird in einem solchen Fall direkt an das Versicherungsunternehmen - hier offenbar die DKV Krankenversicherungs AG - gezahlt (§ 26 Abs. 4 SGB II).

Ein Betroffener kann nach Auffassung des Senats nicht einwenden, dass es ihm unzumutbar sei, den Antrag zu stellen, um die Zahlung des Sozialleistungsträgers nach § 26 Abs. 4 SGB II zu veranlassen. Das Sicherungssystem nach dem SGB II, in das der Antragsteller dadurch faktisch gezwungen wird, mag mit Restriktionen verbunden sein (dazu: Löns in Löns/Herold-Tews, SGB II, 2. Aufl., § 37 Rn. 4). Die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II ist aber dennoch zumutbar, weil nur so die regelmäßige Zahlung von Beiträgen an die private Pflegeversicherung gesichert werden kann. Denn der Versicherungsgeber ist gemäß § 110 Abs. 4 SGB XI nicht berechtigt, Beitragsrückständen mit einer Kündigung zu begegnen (vgl. zum Ausschluss des Kündigungsrechts: BT Drucksache 12/5952, S. 49 sowie Gürtner in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 82. Aufl., Rn. 24 ff.).

2. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils ist dennoch geboten, weil es unter Darlegungsmängeln leidet:

Da die private Pflegeversicherung mit Abschluss eines Versicherungsvertrages zustande kommt (Beck in jurisPK, SGB XI, § 23 Rn. 25; Behrend in jurisPK, SGB XI, § 110 Rn. 10), ist zunächst der Vertragsschluss darzulegen. Entsprechende Feststellungen fehlen im angefochtenen Urteil. Weiterhin geht das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil nicht darauf ein, wann die Beiträge nach dem Versicherungsvertrag fällig waren. Ob Fälligkeit gegeben ist, bestimmt sich nach den vertraglichen Regelungen (Gutzler in juris PK SGB XI § 121 Rn. 30). Es ist deshalb zu untersuchen, ob und welche einzelnen Beiträge bis zum 8. September fällig waren.

Schließlich bestimmt sich der Anspruch auf Gewährung eines Beitragszuschusses zur privaten Pflegeversicherung nach § 26 Abs. 2 SGB II danach, ob ein Leistungsanspruch nach dem SGB II besteht (BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 4 AS 108/10 R, juris, Rn. 13; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.03.2013, L19 AS 2091/12, juris, Rn. 32). Ob dies der Fall ist, insbesondere die Voraussetzungen des § 7 SGB II vorliegen, lässt sich dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht entnehmen. Das Urteil erschöpft sich vielmehr in der Feststellung, dass der Betroffene „zum Beispiel Arbeitslosengeld“ in Anspruch nehmen könne.

IV.

Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde ist dem Amtsgericht vorzubehalten, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsmittels nicht abzusehen ist.

V.

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Amtsgericht bei Annahme eines Anspruchs SGB II die genaue Höhe der bisher lediglich mit „rund 17,- €“ angegebenen Beträge wird ermitteln und sodann überprüfen müssen, ob es sich um den Betrag handelt, den private Versicherungsunternehmen von beitragsprivilegierten Personen höchstens fordern können (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.10.2012, B14 AS 11/12R, juris, Rn. 32; Behrend in juris PK SGB XI, § 110 Rn. 41).