Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.01.1997, Az.: L 1 An 59/96

Beurteilungsmaßstäbe bei der Ermittlung der Erwerbsfähigkeit im Rahmen eines Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit; Letzte versicherungspflichtige, zugleich qualitativ hochwertigste Beschäftigung oder Tätigkeit als bisheriger Beruf im Rahmen der Ermittlung der Erwerbsunfähigkeit; Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit gemessen an der Wertigkeit des bisherigen Berufs; Beurteilung der Wertigkeit der verschiedenen beruflichen Tätigkeiten nach dem Mehrstufenschema; Einordnung in die dritte Stufe von unten nach dem Mehrstufenschema bei einer Ausbildung zum Fleischer und Fleischermeister; Zulässigkeit der Verweisung eines Fleischermeisters auf Tätigkeiten eines Küchenbuchhalters, Lagerleiters und Arbeiters im Lebensmittelbereich und eines Anlagenmaschinenführers

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
30.01.1997
Aktenzeichen
L 1 An 59/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 14640
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:1997:0130.L1AN59.96.0A

Fundstellen

  • SGb 1998, 314
  • SGb 1998, 533
  • SGb 1998, 116 (amtl. Leitsatz)

In dem Rechtsstreit
hat der 1. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 1997
durch
den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht L.,
den Richter am Landessozialgericht W.,
den Richter am Landessozialgericht H. sowie
die ehrenamtlichen Richter G. und V.
für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts O. vom 13. Februar 1996 wird aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der im September 1947 geborene Kläger begehrt die Zahlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

2

In seinem Rentenantrag vom März 1992 gab der Kläger an, von März 1963 bis März 1966 den Beruf des Fleischers erlernt zu haben, 1971 habe er die Meisterprüfung in diesem Beruf abgelegt und sei bis 1991 als Ladenschlachter tätig gewesen.

3

Die Beklagte zog medizinische Unterlagen des Arbeitsamts V. bei und ließ das Gutachten des Orthopäden H. vom 18.05.1992 erstatten, der noch vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung für zumutbar hielt. Die Beklagte holte eine berufskundliche Stellungnahme vom 10.09.1992 ein, nach der der Kläger noch als Telefonverkäufer tätig sein könne. Mit Bescheid vom 07.10.1992 lehnte die Beklagte deshalb den Rentenantrag ab. Den nicht begründeten Wider Spruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 26.03.1993 zurück.

4

Hiergegen hat der Kläger bei dem Sozialgericht (SG) O. Klage erhoben und vorgetragen, bei seinen Leistungseinschränkungen seien im Umfeld des Fleischerberufs keine Verweisungstätigkeiten zu finden. Er habe sich vergeblich für die Position eines Telefonverkäufers im Fleischgroßhandel beworben. Da er sich in einer Nebenerwerbslandwirtschaft betätige, sei er örtlich gebunden.

5

Das SG hat Befundberichte beigezogen und das orthopädische Gutachten des Dr. S. vom 09.03.1995 erstatten lassen.

6

Der Sachverständige hat folgende Diagnosen gestellt:

  1. 1.

    Hypomobile dezentrierte normotrophe Coxarthrose, links mehr als rechts mit überwiegend belastungsabhängiger schmerzhafter Funktionseinbuße.

  2. 2.

    Zustand nach knöchern unter leichter Fehlform (ventrale Höhenminderung) verheilter Fraktur des 8. BWK.

  3. 3.

    Beginnende Gonarthrose beiderseits - derzeit klinisch kompensiert.

7

Er hat sich der Leistungsbeurteilung durch den Orthopäden Hahn angeschlossen.

8

Das SG hat die berufskundliche Stellungnahme des Fleischermeisters S. vom 14.07.1995 eingeholt.

9

Durch Urteil vom 13.02.1996 hat das SG O. die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 01.04.1992 eine Rente wegen BU zu zahlen. In der Begründung heißt es, der Kläger sei berufsunfähig, weil er seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben könne und auch Verweisungstätigkeiten nicht in Betracht kämen.

10

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie trägt vor, daß dem Urteil aus berufskundlicher Sicht nicht zugestimmt werden könne. Der erkennende Senat habe in seinem Urteil vom 12.01.1995 (Az.: L 1 An 82/94) einen Fleischer auf die Tätigkeit als Lagerverwalter verwiesen. Hiermit würde der Kläger nicht überfordert. Die Beklagte hat die entsprechenden Auskünfte der Standortverwaltung C. vom 20.12.1994 und des Allgemeinen Krankenhauses C. vom 21.12.1994 übersandt, die auch dem Kläger zugänglich gemacht worden sind.

11

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts O. vom 13. Februar 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

13

Er begründet seinen Antrag mit Schriftsatz vom 08.08.1996 und macht geltend, daß es für ihn keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten gebe.

14

Der Senat hat den Beteiligten noch die berufskundlichen Auskünfte des Sachverständigen K. vom 16.12.1992 aus L 2 I 310/92, vom 03.07.1995 aus L 1 An 156/94 und vom 21.02.1996 aus L 1 I 63/95 sämtlich des Landessozialgerichts Niedersachsen übersandt mit dem Hinweis, daß sie Gegenstand der mündlvom 21.02.1996 aus L 1 I 63/95 sämtlich des Landessozialgerichts Niedersachsen übersandt mit dem Hinweis, daß sie Gegenstand der mündlichen Verhandlung sein würden.

15

Wegen des Sachverhalts im übrigen wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Akten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des SG O. vom 13. Februar 1996 war aufzuheben, da dem Kläger noch keine Rente wegen BU zusteht.

17

Nach § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie

  1. 1.

    berufsunfähig sind,

  2. 2.

    in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeiten haben und

  3. 3.

    vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

18

Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nichts weil er nicht berufsunfähig ist. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und dem Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

19

Voraussetzung für das Vorliegen von BU ist zunächst, daß der Versicherte seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann. "Bisheriger Beruf" ist in der Regel die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, von der auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen ist, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (BSG Urteil vom 14.09.1995, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 50). Nach diesen Grundsätzen ist der bisherige Beruf des Klägers der des Fleischermeisters, da er ihn erlernt und in seinem Berufsleben ausgeübt hat. Aufgrund der vorliegenden medizinischen und berufskundlichen Gutachten ist davon auszugehen, daß er diesen Beruf nicht mehr ausüben kann, weil hier auch schwere Arbeiten zu verrichten sind. Dem ist der Kläger nach den Feststellungen des Dr. S. nicht mehr gewachsen.

20

Gleichwohl ist der Kläger nicht berufsunfähig, weil er noch zumutbar auf andere Tätigkeiten verwiesen werden kann. Die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit bestimmt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zugemutet werden können im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI einem Versicherten grundsätzlich alle von ihm - nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten - ausführbaren Tätigkeiten, die nach ihrer Wertigkeit dem bisherigen Beruf nicht zu fern stehen (BSG aaO).

21

Zur Beurteilung der Wertigkeit der verschiedenen beruflichen Tätigkeit hat die Rechtsprechung des BSG ein Mehrstufenschema entwickelt, dem zufolge die Berufe der Versicherten in vier Gruppen eingeteilt werden können. In der Angestelltenversicherung beginnt das Mehrstufenschema mit dem Leitberuf des "unausgebildeten Angestellten", setzt sich fort mit dem Leitberuf des "Angestellten mit einer Ausbildung von bis zu zwei Jahren", ferner des "Angestellten mit einer länger als zweijährigen Ausbildung" und schließlich in einer vierten obersten Gruppe der Angestellten diejenigen Berufe, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium beruht (BSG Urteil vom 22.02.1990, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 1).

22

Der Kläger ist in die dritte Stufe von unten des Mehrstufenschemas einzuordnen, in das Angestellte mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren gehören. Die Ausbildung zum Fleischer und Fleischermeister hat länger als zwei Jahre gedauert. Eine Einstufung in die oberste, vierte Stufe des Mehrstufenschemas ist dagegen nicht möglich, weil die Ausbildung zum Handwerksmeister nicht mit einem Hochschulstudium vergleichbar ist.

23

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der der Senat ebenfalls folgt, kann ein in die dritte Stufe von unten des Mehrstufenschemas einzuordnender Versicherter auf Tätigkeiten dieser Stufe und auf solche verwiesen werden, die eine Stufe tiefer einzuordnen sind. Wie der berufskundliche Sachverständige K. überzeugend dargelegt hat, kann ein Fleischermeister auf Tätigkeiten eines Küchenbuchhalters, Lagerleiters und Arbeiters im Lebensmittelbereich und eines Anlagenmaschinenführers verwiesen werden. Ein Einsatz als Anlagenmaschinenführer in der industriellen Lebensmittelherstellung kommt nach den Darlegungen des berufskundlichen Sachverständigen in den Bereichen Gewürzherstellung, Zusatzstoffherstellung, Genußmittel und Getränke sowie in der Herstellung von Tierfutternahrung in Betracht. Die hier beschäftigten Maschinenführer werden regelmäßig im Facharbeiter lohn entlohnt. Erforderlich ist die berufliche Qualifikation entweder als Fleischer oder Bäcker bzw. Lebensmittelhersteller. Die hierfür erforderlichen Kenntnisse können in der nach der Rechtsprechung des BSG zumutbaren Zeit von drei Monaten erworben werden. Für diese Tätigkeit sind besondere kaufmännische Kenntnisse, deren Vorhandensein der Kläger verneint, nicht erforderlich, so daß es auf diesen Gesichtspunkt für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht ankommt. Davon abgesehen ist das Vorbringen des Klägers, er sei stets nur handwerklich tätig gewesen und besitze keine kaufmännischen Tätigkeiten, unbeachtlich. Die Berufsentfremdung im bisherigen Beruf ist rentenrechtlich nicht geschützt (Urteil des BSG vom 08.09.1993, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 35). Der Kläger kann deshalb auch auf die Tätigkeit eines Küchenbuchhalters verwiesen werden, die nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Kurtz gerade von einem Meister verrichten werden kann. Ferner kommt die Tätigkeit eines Lagerleiters im Lebensmittelbereich in Betracht, bei der keine umfangreichen buchhalterischen Kenntnisse vorhanden sein müssen. Es handelt sich um einfache kaufmännische Vorgänge, bei denen eventuell Karteikarten zu führen sind oder EDV-Hilfe erforderlich ist. Auch hierfür reicht jeweils eine dreimonatige Ausbildung aus. Diese Tätigkeit ist einer Facharbeitertätigkeit sozialadäquat. In diesem Bereich gibt es Arbeitsplätze im Lebensmittelgroßhandel, bei Warengenossenschaften, Lagerhausgesellschaften, Gewürzwerken und bei Unternehmungen, die Lebensmittel üblicherweise lagern, wie z. B. das Deutsche Rote Kreuz, die Bundeswehr, Krankenhäuser u.s.w. Die Entlohnung eines Lagerleiters liegt über der des Facharbeiters.

24

Die genannten Verweisungstätigkeiten sind dem Kläger auch nicht deshalb unzumutbar, weil er noch eine landwirtschaftliche Nebenerwerbsstelle betreibt. Ein Versicherter, der noch vollschichtig leistungsfähig ist, muß sich nach der ebenfalls ständigen Rechtsprechung des BSG auf das gesamte Bundesgebiet verweisen lassen. Notfalls muß er die Nebenerwerbstelle aufgeben, in der er nach seinen Angaben ohnehin nicht mitarbeitet, sondern nur Anweisungen gibt.

25

Den genannten Beschäftigungen ist der Kläger auch von seinem körperlichen Leistungsvermögen her gewachsen, da er noch vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichten kann. Die Hauptproblematik besteht bei dem Kläger im Gebiet des Hüftgelenks. Auffällig ist die Abspreizhemmung und die Limitierung der Innendrehfähigkeit. Wenn der Sachverständige ausgeführt hat, daß die degenerativen Veränderungen in diesem Bereich im Laufe der Jahre noch zunehmen werden und sich dann die Notwendigkeit einer Hüfttotalendoprothese ergeben kann, sind das Ausführungen, die die Leistungsbeurteilung in der Zukunft, aber nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts verändern kann. Die Veränderungen im Bereich der Kniegelenke befinden sich im Stadium der Kompensation und genügen derzeit den an sie gestellten Anforderungen. Bezüglich des Hüftgelenks muß der Kläger schweres Heben und Tragen sowie dauerndes Bücken und Aufrichten vermeiden, was bei den genannten Tätigkeiten aber auch nicht gefordert wird.

26

Da der Kläger somit nicht berufsunfähig ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

28

Es hat kein rechtlicher Grund vorgelegen, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.