Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 19.04.2022, Az.: 1 Ws 67/22

Wiederaufnahme eines vorläufig eingestellten Verfahrens; Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen vorläufige Einstellung des gerichtlichen Verfahrens; Ermessensüberprüfung der Ablehnung der Wiederaufnahme eines vorläufig eingestellten Verfahrens

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
19.04.2022
Aktenzeichen
1 Ws 67/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 22020
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2022:0419.1WS67.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 07.02.2022

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Staatsanwaltschaft steht gegen die Entscheidung eines Gerichtes, das gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellte Verfahren nicht wiederaufzunehmen, grundsätzlich ein Beschwerderecht zu.

  2. 2.

    Dass die Wiederaufnahmeentscheidung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht, entzieht diese Entscheidung nicht der beschwerdegerichtlichen Nachprüfung; vielmehr berührt dieser Umstand lediglich den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichtes, das den dem (Tat-) Gericht eingeräumten Ermessensspielraum zu achten hat und seine Abwägung nicht an die Stelle derjenigen des Prozessgerichtes setzen darf.

  3. 3.

    Die beschwerdegerichtliche Nachprüfung der Ablehnung einer Wiederaufnahme eines gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellten Verfahrens hat anhand der allgemeinen Grundsätze zu Ermessensentscheidungen zu erfolgen. Danach sind die für die getroffene Entscheidung bestimmenden Umstände darzulegen; die Entscheidung selbst ist auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhaltes unter Berücksichtigung aller erkennbar maßgebenden Umstände zu treffen.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Braunschweig wird der Beschluss der 16. großen Strafkammer des Landgerichts Braunschweig vom 7. Februar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an das Landgericht Braunschweig zurückgegeben.

Gründe

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts Braunschweig kann keinen Bestand haben, denn sie ist nicht frei von Rechtsfehlern.

I.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig strebt die Wiederaufnahme des mit Beschluss der 16. großen Strafkammer des Landgerichts Braunschweig vom 14. Januar 2021 gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Strafverfahrens wegen Verstoßes gegen das Wertpapierhandelsgesetz (§ 38 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 WpHG a.F.) gegen den Angeklagten A. an (Anm. des Senats: Soweit in dem Einstellungsbeschluss der 14. Januar 2020 genannt ist [Bl. 189-190 Bd. XIV d.A.], liegt ein offensichtlicher Schreibfehler vor).

Dem Angeklagten A. wird in dem vorgenannten Verfahren mit Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 16. September 2019 vorgeworfen, entgegen der ihm obliegenden gesetzlichen Pflicht den Kapitalmarkt vorsätzlich zu spät über die aus dem Aufdecken des sogenannten "Diesel-Skandals" resultierenden erheblichen Zahlungsverpflichtungen des V.-Konzerns in Milliardenhöhe informiert und damit rechtswidrig Einfluss auf den Börsenkurs des Unternehmens genommen zu haben (sog. "Marktmanipulations-Verfahren"). Mit Beschluss vom 24. September 2020 hat die zuständige 16. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig die vorgenannte Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

Beim Landgericht Braunschweig ist gegen den Angeklagten A. darüber hinaus - vor der 6. großen Strafkammer - ein weiteres Strafverfahren anhängig. Gegenstand dieses Strafverfahrens sind Vorwürfe wegen Betruges u.a. im Zusammenhang mit dem Einbau von Dieselmotoren mit einer unzulässigen Abschaltautomatik (Aktenzeichen vormals 6 KLs 411 Js 49032/19 (23/19), nunmehr 6 KLs 80/21; sog. NOx-Verfahren).

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 8. Dezember 2020 und nach Anhörung des Angeklagten stellte die 16. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig mit dem vorgenannten Beschluss vom 14. Januar 2021 das bei ihr anhängige Verfahren gegen den Angeklagten A. gemäß § 154 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StPO im Hinblick auf die im Verfahren 6 KLs 411 Js 49032/15 (23/19) zu erwartende Strafe ein (Az. des Bezugsverfahren nunmehr: 6 KLs 80/21). Zur Begründung führte die 16. große Strafkammer aus, im Verfahren 6 KLs 411 Js 49032/15 (23/19) würden dem Angeklagten A. Verstöße gegen §§ 263 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 1 und 2, 266 Abs. 1 und 2, 13 StGB sowie gegen § 16 UWG in den Jahren 2014 und 2015 zur Last gelegt. Mit Beschluss vom 8. September 2020 habe die 6. große Strafkammer das Verfahren gegen den Angeklagten A. wegen des Vorwurfes des Betruges eröffnet und einen hinreichenden Tatverdacht wegen gewerbs- und bandenmäßiger Begehung bejaht (§ 263 Abs. 5 StGB). Der Strafrahmen des § 263 Abs. 5 StGB betrage Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Demgegenüber sehe der verfahrensgegenständliche Vorwurf nach § 38 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 WpHG a.F. einen Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Die Hauptverhandlung im Verfahren 6 KLs 411 Js 49032/15 (23/19) beginne im Februar 2021.

Allerdings kam es in der Folge nicht zu dem geplanten Beginn der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten A. in dem Verfahren 6 KLs 23/19 im Februar 2021. Vielmehr wurde das Verfahren gegen den Angeklagten A. - nachdem zunächst bereits eine Verlegung des Beginns der Hauptverhandlung auf September 2021 erfolgen musste - durch Beschluss der 6. großen Strafkammer vom 9. September 2021 (Bl. 210-215 Bd. XIV d.A.) zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt (Az. nunmehr: 6 KLs 80/21). Die 6. große Strafkammer hat im Zusammenhang mit der vorgenannten Abtrennungsentscheidung mitgeteilt, mit der Verhandlung in der abgetrennten Sache gegen den Angeklagten A. erst beginnen zu wollen, wenn die Hauptverhandlung gegen die vier verbleibenden Angeklagten abgeschlossen ist. In jenem Verfahren sind (vorerst) Hauptverhandlungstermine bis Ende August 2023 anberaumt.

Vor diesem Hintergrund beantragte die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit Verfügung vom 8. Oktober 2021 gegenüber der 16. großen Strafkammer, das mit Beschluss vom 14. Januar 2021 vorläufig nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellte Verfahren gegen den Angeklagten A. wiederaufzunehmen. Zur Begründung ihres Antrages führte die Staatsanwaltschaft aus, es sei aufgrund der Abtrennungsentscheidung der 6. großen Strafkammer erst in mehreren Jahren mit einer Verhandlung gegen den Angeklagten A. in jener Sache zu rechnen. Angesichts des fortschreitenden Alters und des sich wahrscheinlich verschlechternden Gesundheitszustandes des Angeklagten A. sei zu befürchten, dass sich dieser - würde das Verfahren vor der 16. großen Strafkammer nicht wiederaufgenommen werden - nie mehr einer Hauptverhandlung werde stellen müssen.

Der Angeklagte A. ist mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23. Dezember 2021 (Bl. 252 ff. Bd. XIV d.A.) dem Wiederaufnahmebegehren der Staatsanwaltschaft entgegengetreten. Der Verteidiger vertritt die Auffassung, eine Wiederaufnahme komme in der Regel nur nach Erlass der abschließenden Entscheidung im anderen Verfahren und auch nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Beschuldigte wegen der anderen Tat wesentlich geringer als vorgesehen verurteilt, freigesprochen oder das Verfahren eingestellt worden sei. Die Wiederaufnahme vor rechtskräftigem Abschluss des Bezugsverfahrens setze jedenfalls einen wichtigen Grund voraus. Ein solcher sei in einer vom OLG Celle (Urteil vom 4. April 1984 - 1 Ss 117/84) entschiedenen Konstellation angenommen worden, wo der Ausgang des Bezugsverfahrens noch nicht abzusehen gewesen war und darüber hinaus in dem zu entscheidenden Verfahren der Eintritt der Verfolgungsverjährung sowie in nicht allzu ferner Zukunft sogar der Eintritt der absoluten Verjährung gedroht habe. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zu der hier - nach Auffassung der Staatsanwaltschaft - gegebenen Fallkonstellation, dass das Bezugsverfahren wegen potentieller Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nicht durchgeführt werden könne, sei keine gerichtliche Entscheidung bekannt, die in einer solchen Konstellation einen wichtigen - ausnahmsweise eine Wiederaufnahme eines nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahrens rechtfertigenden - Grund angenommen habe. Jedenfalls sei im vorliegenden Fall eine Wiederaufnahme des Verfahrens verwehrt, weil nicht festgestellt werden könne, dass die Grundlage der Einstellungsentscheidung vom 14. Januar 2021 zwischenzeitlich entfallen sei. Es seien keine Gründe dafür zu erkennen, warum in dem abgetrennten Verfahren gegen den Angeklagten A. keine Verhandlung mehr durchgeführt werden sollte. Die Abtrennung sei aufgrund einer unaufschiebbaren Operation des Angeklagten A. erfolgt. Die Genesung verlaufe erwartungsgemäß, die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten werde zeitnah wiederhergestellt sein. Für die Annahme der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte könnte nach Abschluss des Betrugsverfahrens gegen die vier ehemaligen Mitangeklagten (6 KLs 23/19) verhandlungsunfähig sein, bestünden keine Anhaltspunkte. Im Übrigen sei es auch nicht sachgerecht, das eingestellte Verfahren gegen den Angeklagten A. wiederaufzunehmen. Derartiges würde zu einer unnötigen "Verdoppelung" der Beweisaufnahme führen, weil sowohl für das Verfahren vor der 6. großen Strafkammer als auch zur Klärung der Vorwürfe im vorliegenden Verfahren erforderlich sei zu ermitteln, wann und in welchem Umfang der Angeklagte A. Kenntnis davon erlangt habe, dass Behörden und Kunden in Europa und den USA mit einer unzulässigen Software darüber getäuscht wurden, dass die Abgasnormen von Dieselfahrzeugen der V. AG nicht eingehalten wurden. Angesichts dessen, dass die vor der 6. großen Strafkammer anhängigen Vorwürfe deutlich schwerer wögen, würde die Wiederaufnahme in vorliegender Sache schließlich auch nicht die Notwendigkeit einer Verhandlung vor der 6. großen Strafkammer entfallen lassen.

Mit Beschluss vom 7. Februar 2022 (Bl- 276-281 Bd. XIV d.A.) hat die 16. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, die Möglichkeit der Wiederaufnahme sei aus Gründen des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes erheblich eingeschränkt. Sie sei bei Vorliegen eines besonderen Grundes aber grundsätzlich bereits vor einer verfahrensabschließenden Entscheidung im Bezugsverfahren möglich. In hiesiger Sache bestünden indes die Gründe, aus denen die Einstellungsentscheidung erfolgt sei, fort. Die Verschiebung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten A. falle bei einer Gesamtabwägung nicht entscheidend ins Gewicht. Zwar sei mit einer Hauptverhandlung gegen den Angeklagten im Bezugsverfahren erst nach Abschluss der Hauptverhandlung gegen die vier weiteren Angeklagten zu rechnen. Das Ursprungsverfahren 6 KLs 23/19 werde indes beschleunigt geführt. Angesichts der nach Angaben des Verteidigers fortschreitenden Genesung des Angeklagten A. bestehe daher kein Grund zu der Annahme, dass bis zum Abschluss des Verfahrens 6 KLs 23/19 eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes drohe. Mit einer ähnlich umfangreichen Beweisaufnahme wie im Verfahren 6 KLs 23/19 sei schließlich im Bezugsverfahren 6 KLs 80/19 (Anm. d. Senates: gemeint ist 6 KLs 80/21) nicht zu rechnen. Das Verfahren gegen den Angeklagten A. sei durch die 6. große Strafkammer vor der Abtrennungsentscheidung vom 9. September 2021 bereits intensiv vorbereitet gewesen. Zudem könne die 6. große Strafkammer für eine konzentrierte Beweisaufnahme dann auch Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung in Sachen 6 KLs 23/19 nutzen. Schließlich beschränke sich der Tatvorwurf im Hinblick auf den Angeklagten A. nur auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum des in der Anklageschrift genannten Gesamtzeitraumes und nur einen vergleichsweise kleinen Teil der in der Anklageschrift aufgeführten Gesamtfahrzeuge. An der Strafandrohung im Bezugsverfahren 6 KLs 80/21 habe sich gegenüber dem "Einstellungszeitpunkt" nichts verändert. Eine zeitnah drohende Verjährung sei weder im Verfahren 6 KLs 80/21 - wo überdies § 78 Abs. 4 StGB einschlägig sei - noch im eingestellten Verfahren 16 KLs 75/19 zu besorgen. Im Übrigen sei eine Wiederaufnahme und Terminierung im Verfahren 16 KLs 75/19 vor dem Hintergrund der im Bezugsverfahren ähnlichen Fragestellung nicht prozessökonomisch. Denn angesichts der erheblich schärferen Strafandrohung im NOx-Verfahren komme dort eine Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das WpHG-Verfahren nicht realistisch in Betracht.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit ihrer mit Verfügung vom 15. Februar 2022 eingelegten Beschwerde (Bl. 284-287 Bd. XIV d.A.). Sie bringt vor, die 16. große Strafkammer habe ermessensfehlerhaft den falschen Maßstab angelegt. Ein verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz darauf, dass Strafverfahren nicht betrieben werden, bestünde nicht. Die Kammer verkenne das sich aus dem Rechtsstaatprinzip ergebende Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. Grundlage der Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO im vorliegenden Fall sei gewesen, die Durchführung des Verfahrens 6 KLs 23/19 gegen den Angeklagten A. zu fördern. Nachdem das Verfahren gegen den Angeklagten A. indes abgetrennt und frühestens 2023, ggf. aber auch erst später, beginnen werde, werde dieser Zweck nicht mehr erreicht. Darüber hinaus könnte auch nicht mit einer späteren konzentrierten Beweisaufnahme im abgetrennten Verfahren unter Rückgriff auf Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung 6 KLs 23/19 gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR vom 16. Februar 2021 (NJW 2021, 2947) dürfe die Kammer sich nämlich gerade noch kein detailliertes rechtliches Bild von der Rolle der später angeklagten Person machen, wolle sie sich nicht dem Vorwurf der Vorbefassung aussetzen. Letztlich sei daher derzeit völlig offen, wann mit einem Abschluss des Verfahrens 6 KLs 80/21 gegen den Angeklagten A. gerechnet werden könne. Dass bei dieser Sachlage in der vorliegenden Strafsache sehr wohl der Eintritt der Verjährung drohe, bevor die Verhandlung in dem Bezugsverfahren überhaupt habe beginnen können, habe das Gericht außer Acht gelassen.

Mit Beschluss vom 23. Februar 2022 (Bl. 292-295 Bd. XIV d.A.) hat die 16. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht Braunschweig zur Entscheidung vorgelegt. Die Kammer hält die Beschwerde der Staatsanwaltschaft bereits für unzulässig. Darüber hinaus gebe die Beschwerdebegründung aber auch in der Sache keinen Anlass zur Änderung der erlassenen Entscheidung. Dass die Einstellung im vorliegenden Verfahren zur Förderung der Durchführung des Verfahrens 6 KLs 23/19 erfolgt sei, sei unzutreffend und lasse sich der Einstellungsentscheidung auch nicht entnehmen. Darüber hinaus werde daran festgehalten, dass sich aufgrund der Erkenntnisse im Verfahren 6 KLs 23/19 eine nachfolgende Hauptverhandlung in der Sache 6 KLs 80/21 effizienter werde planen lassen.

Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Braunschweig (Bl. 298-303 Bd. XIV d.A.). Sie beantragt, auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Braunschweig den Beschluss der 16. großen Strafkammer des Landgerichts Braunschweig vom 7. Februar 2022 aufzuheben. Die Kammer habe jedenfalls nicht im Blick gehabt, dass nach derzeitigem Stand der beiden Verfahren nahezu ausgeschlossen erscheine, dass im vorliegenden Verfahren ein erstinstanzliches Urteil gegen den Angeklagten A. vor Erreichen der absoluten Grenze des § 78c Abs. 3 S. 2 StPO werde gefällt werden können, falls die in dem Verfahren 6 KLs 80/21 verhängte Sanktion nicht der bei der vorläufigen Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO erwarteten Strafe entsprechen oder das Verfahren mit einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen enden sollte. In dem Bezugsverfahren sei - da mit einer geständigen Einlassung des Angeklagten A. nicht zu rechnen und daher bei realistischer Prognose nahezu dasselbe Beweisprogramm durchzuführen sei, wie in der Sache 6 KLs 23/19 - mit einem Urteil nicht vor dem Jahr 2025 zu rechnen. Berücksichtige man ferner, dass der Angeklagte auch in vorliegender Sache nicht geständig sei und daher auch hier eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich wäre, müsse in dem vorliegenden Verfahren spätestens im Laufe des Jahres 2023 mit der Hauptverhandlung begonnen werden, um nicht Gefahr zu laufen, dass Verjährung während laufender Hauptverhandlung eintrete.

Das Landgericht habe darüber hinaus aber auch ermessensfehlerhaft außer Acht gelassen, dass der Verfahrenseinstellung in vorliegender Sache die Erwartung zugrunde gelegen habe, das Bezugsverfahren gegen den Angeklagten A. würde im Februar 2021 beginnen. Wenn nunmehr das Bezugsverfahren nicht im Februar 2021, sondern frühestens Mitte des Jahres 2023 beginnen sollte, werde sich dies erheblich strafmildernd auswirken; das Landgericht hätte sich daher mit der Frage der Prognosekorrektur zumindest beschäftigen müssen. Konkrete Ausführungen dazu, ob in dem Bezugsverfahren weiterhin eine Strafe zu erwarten sei, neben derer die in dem vorliegenden Verfahren zu erwartende Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht falle, fehlten indes.

Der Angeklagte hatte über seinen Verteidiger rechtliches Gehör. Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und lässt mit Verteidigerschriftsatz vom 31. März 2022 ausführen, die Ablehnung der Wiederaufnahme würde jedenfalls keine Ermessensfehler aufweisen. Insbesondere habe das Landgericht durchaus zutreffend dargelegt, dass weder in dem vorliegenden Verfahren noch in dem Bezugsverfahren zeitnah Verjährung drohe. Zwar habe die 16. Strafkammer den Zeitpunkt, wann im vorliegenden Verfahren Verjährung eintrete, nicht konkret benannt; dass die Kammer diesen Zeitpunkt nicht im Blick gehabt habe, könne indes nicht ernsthaft behauptet werden. Die Annahme des Landgerichts, vor dem Hintergrund der zu erwartenden Verfahrensbeschleunigung im Bezugsverfahren drohe vor dessen Beendigung keine Verjährung in vorliegender Sache, überzeuge ohne Weiteres. Soweit die Staatsanwaltschaft im Übrigen annehme, dass das vorliegende Verfahren jedenfalls dann mit einem Urteil abgeschlossen sein müsse, wenn zum Zeitpunkt der Verjährung des vorliegenden Verfahrens noch keine Entscheidung im Bezugsverfahren ergangen sei, verkenne sie den Sinn der Regelung des § 154 StPO. Dass die minderschweren Tatvorwürfe, die im Hinblick auf schwerere aus Gründen der Prozessökonomie nach § 154 StPO eingestellt werden, regelmäßig früher verjähren, dürfe nicht zu einer Aushebelung der Regelung des § 154 StPO führen. Vielmehr müsse die mit der Einstellungsentscheidung getroffene Vermutung auch im Falle der Verjährung des eingestellten Verfahrens Bestand haben. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei allein dann denkbar, wenn ein Abschluss des Bezugsverfahrens nicht absehbar und andererseits in dem vorläufig eingestellten Verfahren in nicht allzu ferner Zukunft der Eintritt der Verjährung drohe (OLG Celle, Urteil vom 4. April 1984 - 1 Ss 117/84). Solange eine Ahndung im Bezugsverfahren möglich erscheine, könne die drohende Verjährung die Wiederaufnahme des vorläufig eingestellten Verfahrens nicht rechtfertigen. Der Eintritt der Verjährung im Bezugsverfahren gegen den Angeklagten A. sei aber in keinem Fall zu besorgen.

II.

1.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig.

Gemäß § 304 Abs. 1 StPO ist gegen alle von den Gerichten (im ersten Rechtszug oder im Berufungsverfahren) erlassenen Beschlüsse die Beschwerde als Rechtsmittel zulässig, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht.

Letzteres ist hinsichtlich der vorliegenden Konstellation nicht der Fall. Mit der in der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Hamm, Beschluss vom 31. März 2017 - III-4 Ws 27/17, Rn. 8, juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2006 - 1 Ws 465/06, Rn. 5, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 14. Juni 1996 - Ws 277/96, NStZ-RR 1997, 44) vorherrschenden Auffassung vermag der Senat auch aus anderen Gründen (vgl. hierzu grundlegend: BGH, Urteil vom 21. Dezember 1956 - 1 StR 337/56, BGHSt 10, 88-94 (91 f.); Rieß, NStZ 1985, 39 ff., 40 [OLG Frankfurt am Main 03.08.1983 - 3 Ws 503/83]) keinen rechtlich begründeten Anlass zu erkennen, der Staatsanwaltschaft das Beschwerderecht gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme eines gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellte Verfahren zu versagen.

Die in der älteren Rechtsprechung (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. August 1982 - 1 Ws 865-866/81, MDR 1983, 252f. (253); OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. August 1983 - 3 Ws 503/83, NStZ 1985, 39 f.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Juli 1983 - 1 Ws 214/83, MDR 1984, 73) sowie auch von Teilen der Literatur (Gerecke/Julius/Temming in: Zöller, StPO, 6. Auflage, § 154 Rn. 20; Teßmer in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2016, § 154, Rn. 91; Beukelmann in: BeckOK StPO, 42. Ed., § 154, Rn. 30, ohne Begründung) für die Ablehnung eines Beschwerderechtes der Staatsanwaltschaft gegen den gerichtlichen Beschuss, ein nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestelltes Verfahren nicht gemäß § 154 Abs. 4 StPO wiederaufzunehmen, angeführten Argumente überzeugen nicht.

Der Ausschluss des Beschwerderechtes der Staatsanwaltschaft kann zunächst nicht daraus hergeleitet werden, dass ihr - nach nahezu allgemeiner Auffassung (BGH, Urteil vom 21. Dezember 1956 - 1 StR 337/56 [grundlegend], BGHSt 10, 88-94; BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2006 - 2 StR 271/05, Rn. 6 [unter Verweis auf eine ausnahmsweise gegebene Anfechtungsmöglichkeit des Angeklagten bei feststehender Unschuld]; Diemer in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Auflage, § 154, Rn. 26 m.w.N.; Mavany in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2020, § 154, Rn. 53, m.w.N.) - kein Rechtsmittel gegen die auf ihren Antrag hin erfolgte gerichtliche Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zusteht (so aber: Teßmer in: Münchener Kommentar zur StPO, 1, Aufl. 2016, § 154 Rn. 91). Denn die der Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zugrundeliegende Prozesssituation unterscheidet sich - soweit es die Staatsanwaltschaft betrifft - maßgeblich von der im Falle der Versagung der Wiederaufnahme gegebenen Sachlage: Während sie im Falle der Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO durch ihren vorangegangenen Antrag an diese Entscheidung gebunden ist (BGH, Urteil vom 21. Dezember 1956, a.a.O., S. 91 f.), hängt die Entscheidung über die Wiederaufnahme nicht von einer Mitwirkung der Staatsanwaltschaft ab. Ihr schon im Grundsatz die Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung zu versagen, ist bei dieser Sachlage mit dem Legalitätsprinzip nicht vereinbar (OLG Hamm, Beschluss vom 31. März 2017 - III-4 Ws 27/17, Rn. 15, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 14. Juni 1996 - Ws 277/96, NStZ-RR 1997, 44; Rieß, a.a.O.). Lediglich für den Angeklagten macht es daher in der Sache keinen Unterschied, ob das gegen ihn gerichtete Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wird oder das Gericht die Wiederaufnahme des eingestellten Verfahrens ablehnt. Denn er ist in beiden Fällen - weil er grundsätzlich keinen Anspruch darauf hat, dass ein Strafverfahren allein zu dem Zwecke fortgeführt wird, seine Unschuld zu erweisen (BGH, Urteil vom 21. Dezember 1956, a.a.O., S. 93) - nicht beschwert (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 31. März 2017 - III-4 Ws 27/17, Rn. 17, juris).

Dass gegen den die Wiederaufnahme anordnenden Beschluss - trotz Fehlens einer entsprechenden Bestimmung - weder der Staatsanwaltschaft noch dem Angeklagten ein Beschwerderecht zusteht, lässt sich ebenfalls nicht dafür ins Feld führen, dies müsse auch bei der Versagung der Wiederaufnahme der Fall sein (so aber: Meyer-Goßner, Anmerkung zu OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2006 - 1 Ws 465/06, NStZ 2007, 421). Denn der Ausschluss des Beschwerderechtes im Falle der Anordnung der Wiederaufnahme folgt - als der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung - jedenfalls nach Eröffnung des Hauptverfahrens aus § 305 S. 1 StPO (Mavany in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2020, § 154, Rn. 82). Bei Versagung der Wiederaufnahme liegt eine der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung aber gerade nicht vor (Rieß, a.a.O.).

Soweit ferner für die Versagung eines Beschwerderechtes der Staatsanwaltschaft angeführt wird, mit der vorläufigen Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO gehe kraft Gesetzes die Möglichkeit zur Verfügung über das Verfahren von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht über, das zur Wiederaufnahme weder an einen Antrag noch an eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft gebunden sei (OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 3. August 1983 - 3 Ws 503/83), kann auch dieses Argument das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft nicht tragfähig ausschließen. Denn Antrags- und Anfechtungsbefugnis sind auch in anderen in der Strafprozessordnung geregelten Bereichen nicht immer deckungsgleich. Der Senat tritt insoweit den in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des Oberlandesgerichts Hamm (Beschluss vom 31. März 2017. a.a.O.) bei, welches mit Recht hervorgehoben hat, dass etwa im Falle eines Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 453 Abs. 1 S. 2 StPO) oder im Hinblick auf eine Reststrafenaussetzung (§ 454 Abs. 1 S. 2 StPO) ein Antragsrecht der Staatsanwaltschaft nicht normiert und ein entsprechender Antrag für die gerichtliche Entscheidung auch nicht Voraussetzung - die Staatsanwaltschaft vielmehr lediglich anzuhören - ist (OLG Hamm, a.a.O., Rn. 16); gleichwohl steht der Staatsanwaltschaft in den vorgenannten Fallkonstellationen ein Anfechtungsrecht zu (vgl. § 454 Abs. 3 StPO, § 453 Abs. 2 S. 1 StPO).

Schließlich überzeugt es auch nicht, der Staatsanwaltschaft das Recht zur Beschwerde gegen die Versagung der Wiederaufnahme der nach § 154 Abs. 2 StPO erfolgten (vorläufigen) Verfahrenseinstellung abzusprechen, weil die Wiederaufnahmeentscheidung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes steht (so aber: OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Juli 1983 - 1 Ws 214/83, MDR 1984, 73; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. August 1982 - 1 Ws 865-866/81, MDR 1983, 252, 253). Ermessensentscheidungen sind mitnichten per se der beschwerdegerichtlichen Nachprüfung entzogen. Steht eine gerichtliche Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen, berührt dies nach richtiger Auffassung vielmehr lediglich den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichtes, das den dem (Tat-) Gericht eingeräumten Ermessensspielraum zu achten hat und seine Abwägung nicht an die Stelle derjenigen des Prozessgerichtes setzen darf (OLG Hamm, a.a.O., Rn. 14; OLG Oldenburg, a.a.O., Rn. 5; OLG Bamberg, a.a.O.; Mavany in: Löwe-Rosenberg, StPO, a.a.O., Rn. 83; Rieß, a.a.O., S. 41). Dass einer Anfechtbarkeit gerichtlicher Entscheidungen (selbstverständlich) nicht entgegensteht, dass es grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts ist, die (zu erwartende) Strafe zu bemessen und es dem Rechtsmittelgericht daher verwehrt ist, seine Abwägung an die Stelle derjenigen des Tatgerichts zu setzen (hierauf zu Recht hinweisend: BGH, Urteil vom 21. Dezember 1956, a.a.O., S. 92), zeigt im Übrigen der Blick auf das Revisionsrecht: Auch dort ist die tatgerichtliche Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinzunehmen und erfolgt eine - unstreitig zulässige - Nachprüfung nur dahingehend, ob Rechtsfehler vorliegen (statt vieler: BGH, Urteil vom 3. März 2022 - 5 StR 228/21, Rn. 28, juris).

Dass das Gesetz dem über die Wiederaufnahme nach § 154 Abs. 4 StPO entscheidenden Gericht keine Vorgaben macht, wann das Verfahren wiederaufzunehmen ist und mithin der Rahmen zulässiger Ermessenserwägungen nicht vorgegeben ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung (so aber: Meyer-Goßner, NStZ 2007, 421). Vielmehr kann - und muss - insoweit auf die allgemeinen Grundsätze zu Ermessensentscheidungen zurückgegriffen werden. Danach sind - um eine gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen - die für die getroffene Entscheidung bestimmenden Umstände darzulegen; die Entscheidung selbst ist auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhaltes unter Berücksichtigung aller erkennbar maßgebenden Umstände zu treffen (vgl. z.B. für das Recht der Führungsaufsicht: KG Berlin, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 5 Ws 217/20, Rn. 13 f., juris, m.w.N.).

2.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat auch in der Sache Erfolg. Denn die angefochtene Entscheidung ist nicht frei von Rechtsfehlern.

Wie vorstehend ausgeführt, steht die Entscheidung der Strafkammer, ob das gemäß § 154 Abs. 2 StPO (vorläufig) eingestellte Verfahren wiederaufgenommen werden soll, in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Dem Senat obliegt daher allein die Nachprüfung, ob eine fehlerfreie Ermessensausübung erfolgt ist (OLG Hamm, Beschluss vom 5. Juni 2008 - 1 Ws 254/08, Rn. 11, juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2009, a.a.O., Rn. 5; Mavany in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., Rn. 83). Dies ist indes nicht der Fall.

Die 16. große Strafkammer hat nicht alle maßgeblichen Tatsachen in ihrer Entscheidung berücksichtigt.

a.

Allerdings hat die Kammer im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass eine Wiederaufnahme nach § 154 Abs. 4 StPO auch vor einer verfahrensabschließenden Entscheidung im Bezugsverfahren zulässig ist (vgl.: OLG Celle, Urteil vom 4. April 1984 - 1 Ss 117/84, MDR 1985, 71 f., (72)). Die Frist des § 154 Abs. 4 StPO setzt nur das zeitliche Ende für die Wiederaufnahme. Jedoch fordert die Bestandskraft des einstellenden Beschlusses das Vorliegen eines wichtigen Grundes zur Wiederaufnahme des Verfahrens (vgl. OLG Celle, a.a.O.; Mavany in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., Rn. 80), weshalb die Wiederaufnahme in der Regel nur nach Erlass der abschließenden Entscheidung im anderen Verfahren in Betracht kommt. Erst dann kann zumeist festgestellt werden, ob die Grundlage des Einstellungsbeschlusses nachträglich weggefallen ist, weil die Sanktion des Beschuldigten (oder wie hier: des Angeklagten) in dem anderen Verfahren nicht erwartungsgemäß ausgefallen ist und dementsprechend die der (vorläufigen) Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zugrunde gelegte Prognose, die Sanktion in diesem Verfahren werde neben der im Bezugsverfahren zu erwartenden Sanktion nicht beträchtlich ins Gewicht fallen, unzutreffend war. Doch führt das Gesetz in § 154 Abs. 4 StPO keine bestimmten Wiederaufnahmegründe auf. Es ist deshalb rechtlich zulässig, das Verfahren auch aus anderen wichtigen Gründen wiederaufzunehmen (OLG Celle, a.a.O.). Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn die Grundlage einer Einstellungsentscheidung nachträglich entfallen ist, weil sich auf Grund der weiteren Verfahrensentwicklung entweder bereits herausgestellt hat, dass die Sanktionierung wegen der anderen Tat(en) maßgeblich hinter der der Einstellungsentscheidung zugrunde gelegten Erwartung zurückgeblieben ist oder zumindest eine dahingehende Gefahr besteht und bei Realisierung dieser Gefahr die weitere Strafverfolgung nicht mehr gesichert wäre (Mavany in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., Rn. 80). Ein solcher Wegfall der Grundlage der Einstellungsentscheidung kann beispielsweise vorliegen, wenn einerseits der Ausgang des Bezugsverfahrens nicht (mehr) abzusehen ist und andererseits in dem vorläufig eingestellten Verfahren in nicht allzu ferner Zukunft der Eintritt der Verjährung droht (OLG Celle, a.a.O.).

b.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die angefochtene Entscheidung der 16. großen Strafkammer aus Rechtsgründen zu beanstanden. Die von der Kammer angestellten Erwägungen weisen Ermessensfehler auf, weil nicht alle maßgeblichen Umstände in die Entscheidung einbezogen wurden.

(1)

Der Einstellungsentscheidung der 16. großen Strafkammer lag ausdrücklich die Erwartung zugrunde, der Angeklagte A. werde in dem Bezugsverfahren 6 KLs 23/19 (nunmehr: 6 KLs 80/21) am Ende einer im Februar 2021 beginnenden Hauptverhandlung wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges unter Zugrundelegung des Strafrahmens des § 263 Abs. 5 StGB (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren) verurteilt werden. Weil der Strafrahmen für den im vorliegenden (eingestellten) Verfahren gegenständlichen Vorwurf nach § 38 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 WpHG a.F. (nur) Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre oder Geldstrafe vorsehe, falle die im Verfahren 16 KLs 75/19 zu erwartende Strafe neben der im Verfahren 6 KLs 23/19 (nunmehr: 6 KLs 80/21) zu erwartenden Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht.

Die Erwartung des Verfahrensbeginns gegen den Angeklagten A. in der Sache 6 KLs 80/21 im Februar 2021 hat sich nicht erfüllt. Zu Recht hat die Generalstaatsanwaltschaft hervorgehoben, dass nach derzeitiger Sachlage mit einem Beginn der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten A. im Verfahren 6 KLs 80/21 frühestens Mitte des Jahres 2023 zu rechnen ist und dieser Umstand sich im Falle einer Verurteilung nicht unerheblich strafmildernd auswirken dürfte. Gleichwohl hat das Landgericht es versäumt, sich damit auseinanderzusetzen, ob dies etwas an der ihrer Einstellungsentscheidung vom 14. Januar 2021 zugrunde gelegten Prognose bezüglich der Straferwartung im Verfahren 6 KLs 80/21 - die indes Grundlage der Prognose, eine zu erwartende Strafe in vorliegender Sache falle im Hinblick darauf nicht beträchtlich ins Gewicht, ist - ändert. Damit, dass in der vorliegenden Sache 16 KLs 75/19 unter Zugrundelegung des vom Verteidiger berichteten Gesundheitszustandes des Angeklagten A. womöglich bereits zeitnah mit einer Verhandlung begonnen werden könnte mit der Konsequenz, dass in dieser Sache dem Zeitablauf keine derartige strafmildernde Bedeutung zukäme, hat sich die Kammer ebenfalls nicht befasst.

(2)

Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts lässt darüber hinaus nicht erkennen, dass die Kammer erwogen hat, dass in dem vorliegenden - eingestellten - Verfahren 16 KLs 75/19 als Folge der Verschiebung des Beginns des Bezugsverfahrens um mehrere Jahre durchaus die realistische Gefahr besteht, dass ein erstinstanzliches Urteil gegen den Angeklagten A. vor Erreichen der absoluten Grenze des § 78c Abs. 3 Satz 2 StPO (im September 2025) nicht mehr wird ergehen können, falls die in dem Verfahren 6 KLs 80/21 verhängte Sanktion nicht der bei der vorläufigen Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO erwarteten Strafe entsprechen oder das Verfahren mit einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen enden sollte. Weshalb bei Beginn der Hauptverhandlung gegen den - nicht geständigen - Angeklagten A. frühestens Mitte 2023 im Verfahren 6 KLs 80/21 - selbst bei einer in gewissem Maße "effizienteren" Gestaltung der Beweisaufnahme - mit einer derart verkürzten Verfahrensdauer zu rechnen sein sollte, dass danach in der Sache 16 KLs 75/19 erforderlichenfalls noch bis September 2025 ein erstinstanzliches Urteil ergehen könnte, ist für den Senat - jedenfalls auf der Grundlage der Gründe der Entscheidung vom 7.Februar 2022 und der Nichtabhilfeentscheidung vom 23. Februar 2022 - nicht nachvollziehbar. Dass die Kammer eine solche Folge - Gefahr der Verjährung in vorliegender Sache - vor dem Hintergrund ihrer Erwartungen betreffend das Verfahren 6 KLs 80/21 für hinnehmbar hält, lässt sich der angefochtenen Entscheidung schließlich ebenfalls nicht entnehmen.

c.

Die vorstehend benannten Fehler bei der Ermessensausübung der 16. großen Strafkammer führen zur Aufhebung des Beschlusses vom 7. Februar 2022. Der Senat kann als Beschwerdegericht nicht selbst die Wiederaufnahme des Verfahrens beschließen, weil diese Entscheidung nur von dem Gericht getroffen werden kann, das die Einstellung beschlossen hat (OLG Oldenburg, a.a.O., Rn. 8; Rieß, NStZ 1985, 39 ff. [OLG Frankfurt am Main 03.08.1983 - 3 Ws 503/83] (41)). Das Landgericht wird nunmehr erneut zu entscheiden haben.

III.

Die Kostenentscheidung bleibt, da der endgültige Erfolg des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft noch offen ist, dem Landgericht vorbehalten.

IV.

Die insoweit im Raum stehenden Bedenken der Staatsanwaltschaft geben für das weitere Verfahren Anlass zu folgender Bemerkung:

Der Senat teilt die Sorge, die 6. große Strafkammer werde das Verfahren 6 KLs 80/21 gegen den Angeklagten A. wegen begründeter Besorgnis der Befangenheit ("berechtigten Zweifeln an der Unparteilichkeit eines Richters", vgl. EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021 - 1128/17, juris) per se nicht führen können, nachdem sie in dem Ursprungsverfahren 6 KLs 23/19 ein Urteil gesprochen haben wird, wenn in diesem auch Feststellungen in Bezug auf den Angeklagten A. getroffen werden würden, auf der Grundlage des derzeit bekannten Sachverhalts nicht.

Nach Auffassung des Senats folgt aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17) - unbeschadet der Frage der Bindungswirkung der Entscheidung (dazu: BGH, Beschluss vom 1. Juli 2021, 3 StR 518/19, Rn. 42, juris; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020, 3 StR 430/19, Rn. 44, juris) - bereits nicht, dass ein Richter, der zuvor an einem Strafurteil gegen einen Mittäter oder Tatbeteiligten mitgewirkt hat, von der Beteiligung an dem nachfolgenden Verfahren gegen den Mittäter oder Tatbeteiligten wegen Besorgnis der Befangenheit ("berechtigten Zweifeln an der Unparteilichkeit") ausgeschlossen wäre. Dass ein Tatrichter frühere Entscheidungen wegen derselben Straftat erlassen hat, vermag nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für sich genommen noch nicht die Besorgnis der Unparteilichkeit zu begründen (EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021, a.a.O., Rn. 47). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont vielmehr, dass von einem Berufsrichter im Grundsatz erwartet werden kann, er werde sich im Folgeprozess von den zuvor gewonnenen Eindrücken freimachen (EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021, a.a.O., Rn. 51). Gerade in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, gegen die nicht in einem gemeinsamen Verfahren verhandelt werden kann, kann es zudem unerlässlich sein, dass das Strafgericht zur Bewertung der Schuld der Angeklagten auf die Beteiligung Dritter eingeht, gegen die später möglicherweise ein gesondertes Verfahren geführt wird (EGMR, a.a.O., Rn. 47). Dass der Gerichtshof in der Sache 1128/17 gleichwohl von dem Ausschluss eines zur Entscheidung berufenen Richters wegen berechtigter Besorgnis der Befangenheit ausgegangen ist, beruhte letztlich allein darauf, dass Feststellungen getroffen worden waren, die für die rechtliche Einordnung der bereits abgeurteilten Tat gar nicht notwendig waren (EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021, a.a.O., Rn. 61). Dementsprechend hat der Gerichtshof in der genannten Entscheidung auch im Einzelnen dargelegt, warum er nur für den dort zur Entscheidung stehenden Einzelfall davon ausgehe, dass berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit des zuständigen Richters bestünden.