Arbeitsgericht Braunschweig
Urt. v. 23.11.2000, Az.: 1 Ca 389/00

Soziale Rechtfertigung einer Kündigung; Dringende betriebliche Erfordernisse; Durchführung des Interessenausgleichs; Tätigkeit in anderem Produktbereich; Anspruch auf Weiterbeschäftigung

Bibliographie

Gericht
ArbG Braunschweig
Datum
23.11.2000
Aktenzeichen
1 Ca 389/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 28100
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGBS:2000:1123.1CA389.00.0A

Fundstellen

  • NZI 2001, 53
  • ZInsO 2001, 479-480 (Volltext mit amtl. LS)

In dem Rechtsstreit
hat die 1. Kammer des Arbeitsgerichts Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung vom 23.11.2000
durch
den Direktor des Arbeitsgerichts als Vorsitzender und
die ehrenamtlichen Richter als Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 29.08.2000 nicht beendet wird, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht.

  2. 2.

    Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Universalfräser weiterzubeschäftigen.

  3. 3.

    Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  4. 4.

    Der Streitwert wird auf 14.840,00 DM festgesetzt.

Tatbestand

1

Der ... Kläger ist seit dem ... bei der Schuldnerin, der Firma ... in deren Produktionsbereich ... als ... beschäftigt. Zuletzt verdiente er ... brutto monatlich.

2

Über das Vermögen der Schuldnerin wurde durch das Amtsgericht Braunschweig, Insolvenzgericht, am Morgen des ... das Insolvenzverfahren eröffnet. Zum Insolvenzverwalter ist der Beklagte bestellt.

3

Noch am gleichen Tag vereinbarte der Beklagte mit dem bei der Schuldnerin bestehenden Betriebsrat einen Interessenausgleich. Danach soll der Betrieb in den Produktionsbereichen Getriebetechnik und Fördertechnik im Verlaufe des 4. Quartals 2000 eingestellt und vollständig stillgelegt werden. Sämtliche Mitarbeiter, die aufgrund der Stilllegung dieser Produktionsbereiche nicht mehr benötigt werden, sind aus betriebsbedingten Gründen zu kündigen. Dem Interessenausgleich war eine Liste von 29 namentlich benannten Arbeitnehmern beigefügt, deren Arbeitsverhältnisse durch Kündigung beendet werden sollten. Wegen des Inhalts des Interessenausgleichs im Einzelnen wird auf Blatt 52-55 der Gerichtsakte Bezug genommen.

4

Mit Schreiben vom 29.08.2000, dem Kläger am 30.08.2000 zugegangen, kündigte der Beklagte dem Kläger unter Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO zum 30.11.2000.

5

Der Beklagte hat insgesamt 29 Arbeitnehmern der Schuldnerin gekündigt, beschäftigt aber weitere 29 Arbeitnehmer weiter.

6

Mit der am 19.09.2000 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen Klage setzt sich der Kläger gegen die Kündigung des Beklagten mit Schreiben vom 29.08.2000 zur Wehr. Unter Bestreiten der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch der Kündigung greift er die Kündigung als sozial ungerechtfertigt an. Er weist darauf hin, dass er in dem Produktionsbereich ... beschäftigt war, dieser Bereich weiterbetrieben werde und daher sein Arbeitsplatz nicht weggefallen ist. Unter Berücksichtigung der bei ihm vorliegenden Sozialdaten sei die von dem Beklagten getroffene Sozialauswahl überdies grob fehlerhaft.

7

Unter Berufung auf die Entscheidung des Großen Senats des Bundearbeitsgerichts vom 27.02.1985 begehrt der Kläger tatsächliche Weiterbeschäftigung.

8

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch Kündigung vom 29.08.2000 nicht beendet wird,

  2. 2.

    festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit fortbesteht,

  3. 3.

    im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. wird der Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Universalfräser weiterzubeschäftigen.

9

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Er vertritt die Ansicht, aufgrund des mit dem Betriebsrat abgeschlossenen Interessenausgleichs und der dem Interessenausgleich als Anlage beigefügten Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer bestehe die Vermutungsregelung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, dass die Kündigung des Klägers durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Für die Aufrechterhaltung des Produktionsbereiches ... werde der Kläger nicht mehr benötigt. Da die zu kündigenden Arbeitnehmer in dem Interessenausgleich namentlich genannt worden seien, sei die getroffene soziale Auswahl nach § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO in nur eingeschränktem Maße überprüfbar und als nicht grob fehlerhaft anzusehen, wenn mit ihr eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen werde. Der Beklagte behauptet insoweit, dass durch die getroffene Sozialauswahl bei dem verbleibenden Restbetrieb der Schuldnerin eine ausgewogene Personalstruktur erhalten bleibe und sogar geschaffen werde.

11

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 313 Abs. 2 ZPO auf die Schriftsätze der Parteien, Protokollerklärungen und die zu der Gerichtsakte gereichten Unterlagen Bezug genommen.

Gründe

12

Die Klage ist vollen Umfang begründet.

13

Es kann dahingestellt bleiben, ob vor Ausspruch der Kündigung der Betriebsrat der Beklagten ordnungsgemäß nach § 102 BetrVG beteiligt wurde. Da die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, ist die Kündigung schon aus diesem Grunde rechtsunwirksam.

14

Überdies ist auch der Weiterbeschäftigungsantrag begründet.

15

Dabei stützt die Kammer ihre Entscheidung im Wesentlichen auf die nachfolgend gemäß § 313 Abs. 3 ZPO kurz zusammengefassten Erwägungen:

16

Auf das Arbeitsverhältnis findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung, denn der Kläger ist bei der Beklagten, die ausschließlich Auszubildender in der Regel mehr als fünf Arbeitnehmer im Sinne des § 23 Abs. 1 KSchG beschäftigt, ohne Unterbrechung länger als 6 Monate tätig (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG).

17

Gemäß § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen (§ 1 Absatz 2 letzter Satz KSchG); ihm obliegt daher auch die volle Darlegungslast für die Kündigungsgründe.

18

Im konkreten Fall stützt der Beklagte die Kündigung auf dringende betriebliche Erfordernisse und verweist auf den zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat abgeschlossenen Interessenausgleich vom 29.08.2000 und die sich daraus nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO ergebende Vermutung, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auch des Klägers als einem der in der Namensliste zum Interessenausgleich genannten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist.

19

Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar.

20

In der Präambel des zwischen dem Betriebsrat und dem Beklagten am ... abgeschlossenen Interessenausgleichs ist die Feststellung enthalten, dass Unternehmer und Betriebsrat sich darüber einig sind, dass aufgrund der Auftragslage und der Marktsituation eine erfolgversprechende Sanierung der Produktbereiche Getriebebau und Fördertechnik ausgeschlossen ist und daher diese Produktbereiche im Verlaufe des 4. Quartals 2000 völlig stillgelegt werden sollen.

21

Nach § 2 des Interessenausgleichs wird daher sämtlichen Mitarbeitern, die aufgrund der Stilllegung der genannten Produktbereiche nicht mehr benötigt werden, aus betriebsbedingten Gründen gekündigt. Unternehmer und Betriebsrat sind sich über die betroffenen und daher nicht mehr benötigten Mitarbeiter einig. Eine Liste der betroffenen Mitarbeiter ist dem Interessenausgleich als Anlage 1 beigefügt (§ 2 Satz 2 Interessenausgleich).

22

Im konkreten Fall befand sich der Arbeitsplatz des Klägers unstreitig jedoch nicht in den zu schließenden Produktbereichen Getriebebau und Fördertechnik, sondern in dem weiterhin aufrechtzuerhaltendem Produktbereich Zahnradtechnik. Nach dem Interessenausgleich ist jedoch eine Kausalität zwischen Stilllegung der Produktbereiche Getriebetechnik und Fördertechnik und Kündigung festgelegt ("Sämtliche Mitarbeiter, die aufgrund der Stilllegung ... nicht mehr benötigt werden, wird ...").

23

An dieser Kausalität fehlt es hier. Der Arbeitsplatz des Klägers kann nicht wegen der Stilllegung der beiden oben genannten Produktbereiche weggefallen sein, weil sich sein Arbeitsplatz gar nicht in diesen Produktbereichen befand.

24

Wenn der Beklagte sodann weiterhin behauptet hat, der Kläger werde für die Aufrechterhaltung des Produktionsbereiches Zahnradtechnik nicht mehr benötigt, so hat der Beklagte nicht weiter substantiiert dargelegt, aus welchen Gründen dieses nicht der Fall sein soll. Der Hinweis des Beklagten auf die Vermutungsregelung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist insoweit nicht hilfreich, da der Fall einer Umorganisation und eventuellen personellen Anpassung im verbleibenden Produktionsbereich Zahnradtechnik nicht mit Inhalt des Interessenausgleichs vom ... ist. Mithin ist der Beklagte nach wie vor voll darlegungs- und beweispflichtig für den Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers im Produktionsbereich Zahnradtechnik. Er hat jedoch seiner Darlegungsverpflichtung nicht genügt.

25

Nach allem ist schon aus diesem Grunde die ausgesprochene Kündigung sozial ungerechtfertigt.

26

Auch der Weiterbeschäftigungsantrag ist begründet. Nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Februar 1985 - GS 1/84 - (Der Betrieb 85/2197 ff.) hat der gekündigte Arbeitnehmer gemäß den §§ 611, 613 BGB in Verbindung mit § 242 BGB einen Anspruch auf vertragsgemäße tatsächliche Beschäftigung, wenn auf Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers hin festgestellt wird, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist.

27

Ein dem Beschäftigungsinteresse des Klägers entgegenstehendes überwiegendes und schutzwertes Interesse des Beklagten an der Nichtbeschäftigung ist seitens des Beklagten nicht dargelegt worden, so dass auch der Klage auf tatsächliche Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses stattzugeben war.

28

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO in Verbindung mit § 46 Abs. 2 ArbGG.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 14.840,00 DM festgesetzt.

Die Streitwertfestsetzung im Urteil begründet sich auf §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG in Verbindung mit § 12 Abs. 7 ArbGG, wobei der Feststellungsantrag in Höhe von 3 Monatseinkommen und der Weiterbeschäftigungsantrag in Höhe eines Monatseinkommens zu bewerten waren.