Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.05.2008, Az.: 2 Ws 175/08

Verhältnis des Rechts eines einzelnen Angeklagten auf Verteidigung durch seinen Vertrauensanwalt zum Recht der anderen Angeklagten auf Aburteilung in angemessener Frist; Ablehnung der Bestellung eines die Anwesenheit an der Mehrzahl der Hauptverhandlungstermine nicht zusichernden Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger im Hinblick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens; Behandlung des Antrags auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers bei weitgehender Verhinderung des beigeordneten Vertrauensanwalts an der Terminswahrnehmung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
20.05.2008
Aktenzeichen
2 Ws 175/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 16258
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2008:0520.2WS175.08.0A

Fundstellen

  • NJW 2008, 3370 (amtl. Leitsatz)
  • NStZ 2008, 583 (Volltext mit amtl. LS)
  • StRR 2008, 282 (Kurzinformation)

Verfahrensgegenstand

Versuchter Totschlag u.a.
hier: Beschwerde gegen den Widerruf der Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. M. als Pflichtverteidiger

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zur Abwägung zwischen dem Recht aller Angeklagten auf Aburteilung in angemessener Frist und dem Recht des einzelnen Angeklagten auf Verteidigung durch seinen Vertrauensanwalt bei Auswahl des Pflichtverteidigers und Entscheidungen über den Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung.

  2. 2.

    Bei weitgehender Verhinderung des beigeordneten Vertrauensanwalts an der Terminswahrnehmung in einem Umfangsverfahren besteht in der Regel keine Verpflichtung einen zusätzlichen weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen, vielmehr kommt dann vorrangig die Entpflichtung des Vertrauensanwalts und die Beiordnung eines anderen Verteidigers in Betracht.

In der Strafsache
...
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht .......,
den Richter am Oberlandesgericht ....... und
den Richter am Oberlandesgericht .......
am 20. Mai 2008
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer - Jugendstrafkammer - des Landgerichts V. vom 13. Mai 2008 wird verworfen.

Gründe

1

Die Gründe des angefochtenen Beschlusses treffen zu. Das Beschwerdevorbringen greift ihnen gegenüber nicht durch.

2

Zwar gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, die Wünsche des Angeklagten auf Beiordnung des Verteidigers seines Vertrauens nach Möglichkeit zu berücksichtigen. Ein bindender Anspruch des Angeklagten besteht insoweit jedoch auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht (etwa B. v. 2.3.2006, 2 BvQ 10/06, m.w.N.). Insbesondere ist ein wichtiger Grund für die Ablehnung der Bestellung als Pflichtverteidiger oder deren Aufhebung darin zu sehen, dass der Verteidiger nicht zuzusichern vermag, an der ganz überwiegenden Mehrzahl der vorgesehenen Hauptverhandlungstermine teilzunehmen (BverfG a.a.O.). Denn der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (vgl. nur MeyerGoßner, StPO, 50. Aufl., Rn. 3 zu § 143 StPO), kann nicht erreicht werden, wenn der Pflichtverteidiger an einem Großteil der avisierten Hauptverhandlungstermine nicht sicher zur Verfügung steht. Das gilt gerade in vorliegendem Verfahren, das gegen sechs Angeklagte gerichtet ist, die sich alle - drei davon in dieser Sache - in Untersuchungshaft befinden und von denen einer zur Tatzeit noch Jugendlicher war. Denn in einem solchen Verfahren kommt den Interessen auch der anderen Angeklagten und dem Beschleunigungsgebot besondere Bedeutung zu. Das Recht der Angeklagten auf Aburteilung in angemessener Frist hat wegen der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts in einer solchen Situation den Vorrang vor dem Recht eines einzelnen Angeklagten auf Verteidigung durch seinen Vertrauensanwalt, so dass ihm nötigenfalls auch durch die Entpflichtung des Ver trauensanwalts Geltung zu verschaffen ist (OLG Hamm StV 2006, 481, 482) [OLG Hamm 02.03.2006 - 2 Ws 56/06].

3

Entgegen der Auffassung des Angeklagten besteht in einer solchen Konstellation auch keine Verpflichtung, den Interessenausgleich dahin vorzunehmen, dem Angeklagten einen zusätzlichen zweiten Pflichtverteidiger beizuordnen. Bereits aus der Regelung des § 143 StPO folgt nämlich, dass regelmäßig die Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger ausreichend ist. Die Bestellung von mehreren Pflichtverteidigern kann nur ausnahmsweise bei besonderen Umständen geboten sein, die hier offensichtlich nicht vorliegen, weil die Sach und Rechtslage keineswegs besonders schwierig ist, keine besonderen Kenntnisse nötig sind, über die der Vertrauensanwalt in besonderem Maße verfügt, und auch keine aufwendige Einarbeitung erforderlich ist.

4

Der Angeklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

5

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).