Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 13.04.2021, Az.: 1 Ss (OWi) 103/20
Pflicht zur Amtsaufklärung durch das Gericht bei Abweichen von Regelgeldbuße; Erforderlicher Sachvortrag zur Auslösung der Amtsaufklärungspflicht; Wirtschaftliche Verhältnisse des Betroffenen nur in Ausnahmefällen von Bedeutung; Relevanz der Höhe des Einkommens nur bei besonderen Sachverhalten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 13.04.2021
- Aktenzeichen
- 1 Ss (OWi) 103/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 18621
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2021:0413.1SS.OWI103.20.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Salzgitter - 24.02.2020 - AZ: 1a OWi 901 Js 44934/19
Rechtsgrundlagen
- § 79 Abs. 1 OWiG
- § 473 Abs. 1 S. 1 StPO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Im Anwendungsbereich der Bußgeldkatalogverordnung zwingt die Amtsaufklärungspflicht das Tatgericht nur dann dazu, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen festzustellen, wenn in Bezug auf diese konkrete Anhaltspunkte für Besonderheiten vorliegen oder das Tatgericht ein Abweichen von der Regelgeldbuße auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen stützt.
- 2.
Die Amtsaufklärungspflicht des Tatrichters bezüglich der wirtschaftlichen Verhältnisse wird regelmäßig erst durch eigenen Sachvortrag des Betroffenen ausgelöst (Anschluss: KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020 - 3 Ws (B) 49/20, Rn. 21 ff., juris; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 1 SsBs 43/20, Ls. und Rn. 12, juris).
Tenor:
- 1.
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Salzgitter vom 24. Februar 2020 wird als unbegründet verworfen.
- 2.
Die Betroffene hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
I.
Das Amtsgericht Salzgitter hat die Betroffene mit Urteil vom 24. Februar 2020 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 66 km/h zu einer Geldbuße von 460,00 € verurteilt und daneben ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG verbundenes Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten angeordnet.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr die Betroffene am 6. Juni 2019 um 11:20 Uhr als Führerin eines Pkw in Salzgitter die B 248 (in Höhe der Upener Kreuzung) in Richtung Seesen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist an dieser Stelle durch das jeweils beidseitig aufgestellte Verkehrszeichen 274 mit dem Zusatzzeichen 276 in einer Entfernung von 225 Metern vor der Messstelle auf 70 km/h beschränkt. Die Betroffene hätte die Geschwindigkeitsbegrenzung bei zumutbarer Sorgfalt wahrnehmen können und müssen, beachtete diese jedoch aufgrund unaufmerksamer Fahrweise nicht und wurde mit einer Geschwindigkeit von 136 km/h (141 km/h abzüglich 5 km/h Toleranz) durch eine Geschwindigkeitsmesseinrichtung des Typs TRAFFIPAX TraffiPhot S gemessen. Die im Verhandlungstermin anwesende Betroffene hat ausweislich der Urteilsgründe zu ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen angegeben, sie sei ledig, als Pharmareferentin selbständig beruflich tätig und verfüge über ein geregeltes Einkommen. Weitere Angaben hat die Betroffene nicht gemacht.
Gegen dieses in Anwesenheit der Betroffenen und ihres bevollmächtigten Verteidigers am 24. Februar 2020 verkündete und dem Verteidiger am 4. April 2020 zugestellte Urteil hat der Verteidiger mit beim Amtsgericht am 28. Februar 2020 eingegangenem Schriftsatz vom 27. Februar 2020 Rechtsbeschwerde eingelegt. Er hat diese sogleich mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet und Rechtsbeschwerdeanträge gestellt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde gemäß § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG als unbegründet zu verwerfen.
Der Verteidiger hat mit Gegenerklärung vom 20. Juni 2020 weiter vorgetragen.
II.
Die durch die Einzelrichterin gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragene Rechtsbeschwerde ist nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthaft, fristgerecht eingelegt worden und auch sonst zulässig.
In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg.
Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zeigt keine Rechtsverletzung zum Nachteil der Betroffenen auf.
1.
In Bezug auf den Schuldspruch ist die Rechtsbeschwerde offensichtlich unbegründet. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig in der dortigen Antragsschrift vom 29. Mai 2020 Bezug und sieht von einer weitergehenden Begründung ab.
2.
Die auf die allgemein erhobene Sachrüge hin veranlasste Nachprüfung der Rechtsfolgenentscheidung in materiell-rechtlicher Hinsicht deckt ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen auf. Insbesondere gefährdet es nicht den Bestand der Rechtsfolgenentscheidung, dass das Tatgericht trotz der Höhe der verhängten Geldbuße und der geringfügigen Erhöhung der Regelgeldbuße keine konkreten Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Betroffenen getroffen hat.
Die Bemessung der Rechtsfolgen liegt grundsätzlich im Ermessen des Tatgerichts, weshalb sich die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht darauf beschränkt, ob dieses von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist und von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat; insoweit ist die getroffene Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren zu respektieren (OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. Dezember 2012 - 1 Ss (OWi) 163/15, Rn. 11, juris; KG Berlin, Beschluss vom 12. März 2019 - 3 Ws (B) 53/19, Rn. 7, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 - 2 Ss-OWi 1029/16, Rn. 9, juris).
Vorliegend weisen weder die Festsetzung der Geldbuße von 460,00 € noch die Anordnung des zweimonatigen Regelfahrverbots einen Rechtsfehler zu Lasten der Betroffenen auf.
a)
Grundlage für die Bemessung der Geldbuße sind gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG zuvorderst die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf, der den Täter trifft. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen kommen bei der Bemessung der Geldbuße gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 OWiG nur "in Betracht" und bleiben bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten sogar regelmäßig unberücksichtigt. Sie spielen mithin bei der Bußgeldzumessung nur eine untergeordnete Rolle (OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019 - III-3 RBs 82/19, Rn. 15, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017, Rn. 12, juris). Diese untergeordnete Rolle der wirtschaftlichen Verhältnisse findet bei Verkehrsordnungswidrigkeiten dadurch ihren Ausdruck, dass sich die Höhe der Bußgelder, deren Regelsätze durch den Verordnungsgeber in der Bußgeldkatalogverordnung aus Gründen der Vereinfachung sowie insbesondere auch der Anwendungsgleichheit festgelegt sind, in Übereinstimmung mit § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG an der Bedeutung des Verkehrsverstoßes und dem Tatvorwurf orientiert (OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 - 2 Ss OWi 1029/16, Rn. 12, juris; KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020 - 3 Ws (B) 49/20 - 122 Ss 19/20, Rn. 21, juris). Den Regelsätzen der Bußgeldkatalogverordnung liegen gewöhnliche Tatumstände und durchschnittliche wirtschaftliche Verhältnissen zugrunde (KG Berlin, a.a.O.; OLG Frankfurt, a.a.O., Rn. 12; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019 - III - 3 RBs 82/19, Rn. 15, juris). Ein Regelfall i. S. d. Bußgeldkatalogverordnung setzt voraus, dass die Tatausführung allgemein üblicher Begehungsweise entspricht und weder objektiv noch subjektiv maßgebliche Besonderheiten aufweist; besondere Umstände, die ein Abweichen von der Regelrechtsfolge rechtfertigen, können in der Person des Betroffenen liegen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 - 2 Ss OWi 1029/16, Rn. 12, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019 - III-3 RBs 82/19, Rn. 15, juris) und sich dementsprechend auch aus besonders guten oder besonders schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen eines Betroffenen ergeben.
Die in der Bußgeldkatalogverordnung festgelegten Regelsätze (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BKatV) sowie auch die Regelfahrverbote sind Zumessungsrichtlinien im Rahmen von § 17 Abs. 3 OWiG. Sie haben Rechtssatzqualität; an sie sind im Regelfall nicht nur die Verwaltungsbehörden, sondern auch die Gerichte gebunden (BGH, Beschluss vom 28. November 1991 - 4 StR 366/91, BGHSt 38, 125-137, Rn. 24, m.w.N., zit. nach juris). Dies vermag zwar nichts daran zu ändern, dass Rechtsgrundlage für die Bußgeldbemessung auch unter dem Regime der Bußgeldkatalogverordnung die Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG bleiben (KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020 - 3 Ws (B) 49/20, Rn. 21, juris; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 11. November 2020, 201 ObOWi 1043/20, Ls. und Rn. 11, juris). Allerdings folgt aus der Regel-Ausnahme-Systematik des Bußgeldkataloges, dass Umstände aus dem persönlichen Bereich des Täters, die ein Abweichen von der im Bußgeldkatalog vorgegebenen Regelrechtsfolge rechtfertigen könnten - sei es von der Regelgeldbuße oder dem Regelfahrverbot -, nicht von vornherein Gegenstand der Amtsaufklärungspflicht sind. Diese Umstände, zu denen auch die wirtschaftlichen Verhältnisse - nicht aber etwaige Voreintragungen - gehören, hat das Tatgericht erst zu erwägen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für ihr Vorliegen ergeben (KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020, a.a.O, Rn. 21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Dezember 2018 - 1 Rb 10 Ss 644/18, Rn. 12, juris). Derartige konkrete Anhaltspunkte werden sich indes regelmäßig erst bei entsprechenden Angaben des Betroffenen ergeben. Diesem obliegt es mithin, durch eigenen konkreten Sachvortrag (zur Obliegenheit, etwaige Fahrverbotshärten umfassend vorzutragen vgl. KG Berlin, Beschluss vom 6. April 2018 - 3 Ws (B) 82/18, Rn. 12, juris; OLG Karlsruhe, a.a.O., sowie auch BGH, Beschluss vom 28. November 1991 - 4 StR 366/91, juris) die Aufklärungspflicht des Tatrichters auszulösen (KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020, a.a.O., Rn. 21; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 1 SsBs 43/20, Ls. und Rn. 12, juris). Eine "Beweislast" des Betroffenen ist damit nicht verbunden. Bei Vorliegen eines schlüssigen und substantiierten Sachvortrags hat der Tatrichter diesem nachzugehen und sich von dessen Richtigkeit zu überzeugen (OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 12).
b)
Unter Anlegung dieses Maßstabes begegnet die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts keinen Bedenken.
Rechtsfehlerfrei ist das Amtsgericht zunächst von der Regelgeldbuße von 440,00 € (§ 1 Abs. 2 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.9 der Tabelle 1 des Anhangs zu Nr. 11 d. BKat) für den Fall fahrlässiger Begehungsweise und gewöhnlicher Tatumstände ausgegangen. Dass es diese Regelgeldbuße sodann im Hinblick auf die zwei rechtsfehlerfrei festgestellten Vorahndungen - äußerst maßvoll - auf 460,00 € erhöht hat, gefährdet den Bestand der Rechtsfolgenentscheidung nicht.
Zwar hat das Amtsgericht zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Betroffenen lediglich festgestellt hat, diese verfüge als selbständige Pharmareferentin über ein geregeltes Einkommen. Das Fehlen weitergehender Feststellungen - insbesondere zur konkreten Höhe des Einkommens der Betroffenen - ist bei Zugrundelegung des oben dargelegten Maßstabes indes rechtlich nicht zu beanstanden. Denn das Amtsgericht hat das Abweichen vom Regelsatz nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen gestützt und auf der Grundlage der vorgenannten Angaben der in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen, die sich über ihre Angaben (selbständige Pharmareferentin mit geregeltem Einkommen) hinaus zur Sache nicht eingelassen hat, bestand für das Amtsgericht kein konkreter Anhalt dafür, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit der Betroffenen unterdurchschnittlich sein könnte.
Soweit der Senat in der Vergangenheit vertreten hat, bei jeder Abweichung von der in der Bußgeldkatalogverordnung vorgegebenen (ggf. nach § 3 Abs. 4a BKatV verdoppelten) Regelgeldbuße seien jenseits der Geringfügigkeitsschwelle von 250,- € in den Urteilsgründen grundsätzlich Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich (OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Oktober 2015 - 1 Ss (OWi) 156/15, Rn. 12, juris), wird hieran nicht festgehalten. Denn es würde dem Regel-Ausnahme-System der Bußgeldkatalogverordnung zuwiderlaufen, allein deshalb, weil das Tatgericht die Regelgeldbuße wegen festgestellter straßenverkehrsrechtlicher Vorbelastungen (angemessen) erhöht hat, auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen eine tatrichterliche Aufklärung zu verlangen. Die wegen der persönlichen Schuld des Wiederholungstäters erfolgende Erhöhung der Regelgeldbuße berührt die Frage, ob das Bußgeld unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse angemessen ist, in keiner Weise. Im Falle einer maßvollen Erhöhung der Regelgeldbuße besteht ferner auch kein Anlass, an der - ohne die Erhöhung bei fehlenden Angaben des Betroffenen nicht in Frage stehenden - Leistungsfähigkeit des Betroffenen zu zweifeln. Schließlich kommt noch hinzu, dass es bei einem zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen schweigenden Betroffenen auch unverhältnismäßig wäre, diese Feststellungen mit einer - ggf. mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen einhergehenden und zur Bedeutung der Tat und Höhe der Geldbuße außer Verhältnis stehenden - Maßnahme wie der Durchsuchung der Wohn- oder Geschäftsräume nach Einkommensnachweisen des Betroffenen zu treffen (KG Berlin, Beschluss vom 12. März 2019 - 3 Ws (B) 53/19, Rn. 14, juris).
Gegen die Anordnung des zweimonatigen Regelfahrverbots ist ebenfalls nichts zu erinnern. Insoweit hat das Amtsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines Ausnahmefalles, der ein Absehen vom indizierten Fahrverbot hätte angezeigt erscheinen lassen können, mangels Vorliegens entsprechender Anhaltspunkte verneint.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.