Arbeitsgericht Hannover
Urt. v. 04.05.1992, Az.: 3 Ca 318/91

Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung; Möglichkeit der Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Bibliographie

Gericht
ArbG Hannover
Datum
04.05.1992
Aktenzeichen
3 Ca 318/91
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 20445
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGHAN:1992:0504.3CA318.91.0A

In dem Rechtsstreit
hat das Arbeitsgericht in Hannover
auf die mündliche Verhandlung vom 04. Mai 1992
durch
die Richterin ... als Vorsitzende ... und
die ehrenamtlichen Richten ... als Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

  3. 3.

    Der Streitwert wird auf 651,60 DM festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte zusteht.

2

Eine kaufmännische Angestellte der Beklagten blieb in der Zeit vom 02.04. bis 12.05.1991 ihrem Arbeitsplatz fern. Sie legte für diesen Zeitraum Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Ein Finger der linken Hand war gebrochen und der Unterarm in Gips.

3

Die Arbeitnehmerin war in der Buchhaltung beschäftigt und nahm dort Sachbearbeitertätigkeiten am Schreibtisch wahr. Dabei mußte sie u.a. Rechnungen prüfen, Rücksprachen halten und Vermerke mit Stempel und handschriftlichen Kurzerklärungen versehen. Gelegentlich fielen Tätigkeit an der EDV-Tastatur an.

4

Die Arbeitnehmerin ist Linkshänderin, schreibt aber mit der rechten Hand.

5

Die Beklagte verweigerte ab dem 01.05.1991 die Gehaltsfortzahlung an die Arbeitnehmern. Daraufhin zahlte die Klägerin an ihr Mitglied bis zum 12.05.1991 Krankengeld in Höhe der Klagsumme.

6

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte sei zur Erstattung der geleisteten Zahlung verpflichtet. Die Arbeitnehmerin habe durch Vorlage der ärztlichen Bescheinigungen die Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen. Auf deren Richtigkeit könne man vertrauen. Ferner vertritt die Klägerin die Auffassung, der Arbeitgeber sei bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers verpflichtet, dies der Krankenkasse mitzuteilen und die Einholung eines Gutachtens durch den medizinischen Dienst zu veranlassen.

7

Die Klägerin beantragt,

den gemäß § 115 SGB Xübergegangenen Anspruch in Höhe des gezahlten Krankengeldes = 651,60 DM zu erfüllen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Sie sei zur Fortzahlung des Gehaltes nicht verpflichtet gewesen, da die Arbeitnehmerin entgegen der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht arbeitsunfähig gewesen sei. Die ihr obliegenden Tätigkeiten hätte sie durchaus erfüllen können. Die Beklagte ist der Auffassung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei insgesamt erschüttert. Die Ärzte seien ihrer Erkundigungspflicht bei deren Ausstellung nicht nachgekommen.

10

Wegen des Parteivorbringens im übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle verwiesen.

Entscheidungsgründe

11

I.

Die Klage ist unbegründet; der Klägerin steht ein Anspruch aus übergegangenem Recht aus § 115 Abs. 1 SGB X nicht zu.

12

Der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist durch den nicht bestrittenen Sachvortrag der Beklagten erschüttert worden. Die Klägerin ist dem mit keinem substantiierten Tatsachenvortrag entgegengetreten.

13

Ein Anspruch des Sozialleistungsträgers aus übergegangenem Recht aus § 115 Abs. 1 SGB X besteht, wenn auch dem Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber ein Anspruch auf Arbeitsentgelt zustand. Für Angestellte ergibt sich ein solcher Anspruch auf Gehaltsfortzahlung bis zu sechs Wochen regelmäßig aus § 616 Abs. 2 BGB.

14

Eine durch den Arbeitnehmer vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat grundsätzlich die tatsächliche Vermutung der Richtigkeit für sich, so daß zunächst einmal von dem Nachweis der Arbeitsunfähigkeit auszugehen ist (SAG, AP Nr. 2 zu § 3 LohnfortzG).

15

Bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handelt es sich um eine Privaturkunde im Sinne von § 416 ZPO. Der Arbeitgeber kann daher im Rechtsstreit Umstände darlegen und gegebenenfalls beweisen, daß der Arzt den Begriff der Arbeitsunfähigkeit verkannt hat oder Tatsachen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten Erkrankung Anlaß geben. Er kann also Tatsachen darlegen, aus denen sich eine Erschütterung des Anscheinsbeweises ergibt.

16

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts hat die Beklagte durch ihren Vortrag den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert. Es ist durchaus nachvollziehbar, eine Arbeitnehmerin, die im wesentlichen mit Schreibarbeiten befaßt ist und mit der rechten Hand schreibt, nicht für arbeitsunfähig im Sinne des Gesetzes zu halten, wenn sich lediglich der linke Arm in Gips befindet.

17

Denn Arbeitsunfähigkeit besteht nur, wenn der Arbeitnehmer infolge einer Krankheit unfähig ist, seine ihm vertraglich obliegende Leistung zu verrichten oder diese ihn vernünftigerweise nicht zugemutet werden kann (z.B. BAG, AP Nr. 52 zu § 616 BGB).

18

Die Klägerin ist, obwohl bereits in der Güteverhandlung auf die Möglichkeit der Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hingewiesen wurde, dem Sachvortrag der Beklagten in keiner Weise entgegengetreten.

19

Nur ein substantiiertes Bestreiten hätte hier gegebenenfalls die Beklagte wiederum beweispflichtig gemacht.

20

Der Hinweis der Klägerin, die behandelnden Ärzte als Zeugen zu vernehmen, entbindet diese nicht von einem konkreten Sachvortrag. Ist nämlich der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert, muß der Arbeitnehmer weiteren Beweis erbringen (vgl. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 6. Aufl., § 98 VI 6 c).

21

Die Beklagte hat hingegen nachteilige Umstände in den Prozeß eingeführt, aus denen sich nach Ansicht der Kammer ernsthafte und begründete Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigungen ergeben.

22

Ihr kann auch nicht entgegengehalten werden, daß sie diese Zweifel nicht schon im Verlaufe des Krankschreibungszeitraums zum Anlaß nahm, bei der Krankenkasse die Durchführung einer Begutachtung durch den medizinischen Dienst im Sinne des § 275 Abs. 1 Nr. 3 b SGB V zu beantragen.

23

Diese Vorschrift räumt dem Arbeitgeber nämlich nur die Möglichkeit ein, eine Begutachtung von der Krankenkasse zu verlangen; eine Obliegenheit oder sonstige Verpflichtung besteht diesbezüglich nicht. Vielmehr ergibt sich daraus lediglich eine Verpflichtung der Krankenkasse, in bestimmten Fällen eine gutachtliche Stellungnahme einzuholen.

24

Die Klage war daher abzuweisen.

25

II.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 651,60 DM festgesetzt.

Der Streitwert war gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 3 ZPO in Höhe der geltend gemachten Forderung festzusetzen.