Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 09.03.2000, Az.: S 15 P 46/97
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 09.03.2000
- Aktenzeichen
- S 15 P 46/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 35538
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2000:0309.S15P46.97.0A
Fundstelle
- Breith. 2000, 804-807
Tenor:
- 1.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2 572,09 DM zu zahlen.
- 2.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die von der Beklagten durchgeführte Aufrechnung ihres geltend gemachten Herausgabeanspruches wegen überzahlten Pflegegeldes gegen den laufenden Anspruch des Klägers auf Pflegegeld.
Gegenstand des Rechtsstreites sind Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung. Der 1911 geborene Kläger beantragte am 23. Mai 1995 die Gewährung von Pflegegeld bei der Beklagten unter der Angabe, daß ihm eine monatliche Pflegezulage in Höhe von 468,00 DM gemäß § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zustehe. Die Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin unter ihrem Briefkopf als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Schreiben vom 23. August 1995 ein monatliches Pflegegeld von 400,00 DM nach der Stufe I seit dem 1. April 1995. Gegenstand der Bewilligung war insofern auch der Anteil von 30 % an der Gesamtleistung der Pflegeversicherung, den die "Gemeinschaft privater Versicherungsunternehmen (GPV)" trägt. Nach dem Inhalt der Vereinbarung vom 10. November 1994 fungieren die in der GPV zusammengeschlossenen Versicherungsunternehmen gemeinschaftlich als Risikoträger für die Versicherten der Beklagten und stellen die Versicherungsscheine über die Pflegepflichtversicherung aus. Der Beklagten sind die Aufgaben des Beitragsinkassos und des Leistungswesens übertragen.
Mit Schreiben vom 13. Februar 1997 hat die Beklagte dann ausgeführt, daß der Kläger zur Zeit vom Versorgungsamt ... eine monatliche Pflegezulage in Höhe von 471,00 DM erhalte. Da nach § 34 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB 11) der Anspruch auf Leistungen Ruhe soweit Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit unmittelbar nach § 35 BVG gezahlt würden, sei die Zahlung des Pflegegeldes im vorliegenden Falle zu Unrecht erfolgt. Über die Höhe und die Modalitäten der Rückzahlung des irrtümlich gewährten Pflegegeldes werde noch gesondert benachrichtigt werden. Der "Bescheid" vom 23. August 1995 werde bezüglich der Zahlung des Pflegegeldes aufgehoben. Mit weiterem Schreiben vom 17. März 1997 führte die Beklagte aus, daß durch die Mißachtung des Hinweises des Klägers in den Jahren 1995 und 1996 insgesamt 8 244,62 DM Pflegegeld zu Unrecht gezahlt worden seien. Da es sich bei dem überzahlten Betrag sowohl um Leistungen der GPV als auch um Fürsorgeleistungen des Dienstherrn Bundeseisenbahnvermögen (BEV) handele, sei ein Verzicht auf die Rückforderung oder Einbehaltung des überzahlten Betrages ausgeschlossen. Aufgrund der am 20. Januar 1997 durchgeführten Wiederholungsbegutachtung sei die Einstufung in die Pflegestufe II ab Monat Januar 1997 festgestellt worden. Hierdurch ergebe sich die Möglichkeit, durch Einbehaltung des von der Pflegeversicherung zu zahlenden Differenzbetrages in Höhe von monatlich 329,00 DM (800,00 DM Pflegegeldstufe II - 471,00 DM BVG-Leistung ab Juli 1996 = 329,00 DM), die Rückforderung bis voraussichtlich zum Monat Mai 1999 durchzuführen. Von dieser Möglichkeit werde Gebrauch gemacht, falls der Kläger nicht erklären werde, den zu Unrecht gezahlten Betrag zu einem früheren Zeitpunkt vollständig oder in höheren Raten zurückzuzahlen. Mit weiterem Schreiben vom 25. März 1997 erinnerte die Beklagte an das Schreiben vom 17. März 1997 und kündigte an, die Rückforderung im Zuge der Verrechnung zukünftiger Leistungen der Pflegepflichtversicherung durchzuführen, falls sich der Kläger nicht zu einer vorzeitigen Rückzahlung entschließen könne. Den Widerspruch vom 4. März 1997 gegen das Schreiben vom 13. Februar 1997 hat die Beklagte mit Schreiben vom 6. Juni 1997 zurückgewiesen unter dem Hinweis, daß gegen die Entscheidung bzgl. der Leistungen der GPV die Klagemöglichkeit unmittelbar beim Sozialgericht bestehe. Weiterhin wurde ausgeführt, daß der im Schreiben vom 17. März 1997 bezifferte Betrag in Höhe von 8 244,62 DM sowohl Leistungen der GPV als auch Fürsorgeleistungen des Dienstherrn (BEV) enthalte. Von der noch zu fordernden Gesamtleistung entfielen 30 % = 2 473,39 DM auf die GPV und 70 % = 5 771,23 DM auf das BEV. Leistungen der Pflegestufe I seien vom 1. April 1995 bis 31. Dezember 1996 genehmigt und ab 1. Januar 1997 nach der Pflegestufe II zu gewähren. In der Zeit von April 1995 bis 31. Januar 1997 seien monatlich 400,00 DM Pflegegeld angewiesen worden mit Ausnahme der durch die stationäre Krankenhausbehandlung in den Monaten Juli 1995 und August 1995 zum damaligen Zeitpunkt noch gesetzlich vorgeschriebenen anteiligen Kürzungen des Pflegegeldes. Insgesamt ergebe sich ein Gesamtbetrag in Höhe von 8 573,62 DM angezahltem Pflegegeld einschließlich 400,00 DM für den Monat Januar 1997 (2 572,09 DM GPV; 6 001,53 DM BEV). Für diesen Monat seien in Folge der automatischen Zahlungsweise 400,00 DM Pflegegeld angewiesen worden, obwohl nach der ab 1. Januar 1997 erfolgten Höherstufung 800,00 DM zugestanden hätten. Abzüglich der BVG-Leistung in Höhe von 471,00 DM hätten 329,00 DM für den Monat Januar 1997 überwiesen werden können. Diese mögliche Erstattung wurde jedoch von der Gesamtforderung in Höhe von 8 573,62 DM einbehalten. Hierdurch habe sich die Gesamtforderung - wie in dem Schreiben vom 17. März 1997 angegeben - auf 8 244,62 DM reduziert. Die unrechtmäßige Überweisung des Pflegegeldes habe somit die Jahre 1995, 1996 und den Monat Januar 1997 betroffen. Hiergegen richtet sich die am 11. Juli 1997 eingereichte Klage.
Der Kläger ist der Auffassung, daß die Beklagte in ihren Bescheiden weder eine Ermächtigungsgrundlage für den Aufhebungsbescheid noch für den Erstattungsanspruch angegeben habe. Für die Rücknahme des Bescheides mit Wirkung für die Vergangenheit und den Erstattungsanspruch kämen, §§ 45 Abs. 1, 2 und 4, 50 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB 10) in Betracht. Danach könne ein Bescheid jedoch nicht für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Leistungsempfänger falsche Angaben gemacht habe oder eine einfache Fahrlässigkeit vorliege. Im vorliegenden Falle seien nicht einmal falsche Angaben gemacht worden. Vielmehr habe der Kläger rechtzeitig und wahrheitsgemäß bei der Antragstellung angegeben, daß er Leistungen nach § 35 BVG beziehe. Es könne ihm auch nicht vorgeworfen werden, daß er die Rechtswidrigkeit des Leistungsbescheides in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Dies ergebe sich aus dem Schreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 4. März 1997. Aus den dort angegebenen Gründen gegen die Rücknahme lasse sich erkennen, daß er davon ausgegangen sei, daß er die Pflegezulage für seine Kriegsbeschädigung erhalte und die Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz für seine zivilen Leiden. Am 20. März 1995 habe ein Hausbesuch durch einen Medizinaldirektor des Versorgungsamtes ... zur Überprüfung der Pflegezulage nach dem BVG stattgefunden. Dabei habe man ihm gesagt, die Pflegezulage und die Pflegeversicherung hätten nichts miteinander zu tun. Somit lägen die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 23. August 1995 nicht vor. Hilfsweise werde daraufhingewiesen, daß der Rücknahmebescheid nicht innerhalb der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 erlassen worden sei. Der Beklagten sei der Grund für die Rechtswidrigkeit des Bescheides seit Antragstellung am 23. Mai 1995 bekannt gewesen. Ferner habe die Beklagte nicht die aufschiebende Wirkung nach § 97 Abs. 1 Nr. 2 SGG berücksichtigt und seit dem 1. Januar 1997 die von ihr errechnete Überzahlung mit der ihm zustehenden Differenzleistung verrechnet. Die Beklagte werde aufgefordert, die Aufrechnung unverzüglich einzustellen und die bisher einbehaltenen Beträge an ihn auszuzahlen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Bescheide der Beklagten vom 13. Februar 1997, 17. März 1997 und 25. März 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1997 aufzuheben
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2 572,09 DM zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß der Kläger zu Unrecht Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung erhalten habe. Nach § 5 I b der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung bestehe keine Leistungspflicht, soweit versicherte Personen Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit nach § 35 BVG bezögen. Der Kläger beziehe Leistungen nach dem BVG in Höhe von 471,00 DM, die somit die Ansprüche des Klägers aus dem privaten Pflegeversicherungsvertrag überstiege. Ein Anspruch des Klägers bestehe daher nicht, völlig unabhängig davon, ob die Aufrechnung nun zulässig sei oder nicht.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 6. Dezember und der Kläger mit Schreiben vom 13. Dezember 1999 einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Der Entscheidung hat die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte zugrunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Die Zulässigkeit der Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung ergibt sich aus § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Die Beklagte ist verpflichtet den Teil des aufgerechneten Pflegegeldes in Höhe von 2 572,09 DM, der die private Pflegeversicherung betrifft, an den Kläger auszuzahlen.
Der vorliegende Streit betrifft lediglich den 30 %igen Anteil an der Pflegeversicherung des Klägers, der die private Pflegepflichtversicherung betrifft. Damit konnte der Hauptantrag des Klägers, der auf die Aufhebung von Bescheiden gerichtet war, keinen Erfolg haben, auch wenn die angegriffenen Schreiben der Beklagten in ihrer äußerlichen Form bescheidmäßig erscheinen. Dies liegt zum einen daran, daß die Beklagte sowohl für die GPV als auch für die BEV Entscheidungen trifft. Sie ist auch eine öffentlich rechtliche Körperschaft, aber dennoch nicht Trägerin der privaten Pflegeversicherung. Grundlage des Tätigwerdens der Beklagten ist eine Vereinbarung zwischen den in der GPV zusammengeschlossenen Versicherungsunternehmen (vertreten durch den Verband der privaten Krankenversicherung e.V.) sowie der Postbeamtenkrankenkasse (PBeaKK) und der Krankenversorgung der Bundesbeamten (KVB). Nach dem Inhalt der Vereinbarung vom 10. November 1994 fungieren die in der GPV zusammengeschlossenen Versicherungsunternehmen gemeinschaftlich als Risikoträger für die Versicherten der KVB und stellen die Versicherungsscheine über die Pflegepflichtversicherungen aus. Der KVB sind die Aufgaben des Beitragsinkassos und des Leistungswesens übertragen, in Beitragseinzugsangelegenheiten tritt die KVB vor Gericht in Prozeßstandschaft für die GPV auf, in Leistungsangelegenheiten ist die KVB verpflichtet, als bevollmächtigte Vertreterin der GPV aufzutreten. Da somit hinsichtlich der hier streitgegenständlichen Pflegegeldbeträge die Beklagte aufgrund eines privatrechtlichen Pflegepflichtversicherungsverhältnisses gehandelt hat, können insoweit keine Bescheide erlassen werden (vgl. § 31 SGB 10). Da darüber hinaus das Begehren des Klägers eindeutig auf Auszahlung der einbehaltenen streitgegenständlichen Beträge gerichtet war, konnte dieses in Form des Hilfsantrages ausgelegt werden.
Unstreitig hat der Kläger bei seiner Antragstellung am 23. Mai 1995 gegenüber der Beklagten angegeben, eine monatliche Pflegezulage nach § 35 BVG zu erhalten. Unstreitig ist auch, daß die Beklagte dieses übersehen hat und dem Kläger fortlaufend Pflegegeld nach der Pflegestufe I ausgezahlt hat. Da nach § 5 Abs. 1b der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung der Anspruch entsprechend § 34 Abs. 1 Nr. 2 SGB 11 ruht, soweit Versicherte Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit unmittelbar nach § 35 BVG erhalten, hat tatsächlich keine Leistungspflicht der Beklagten vorgelegen. Dennoch ist es für die Beklagte nicht zulässig, diesen zurückzufordernden Betrag in Höhe von 2 572,09 DM für die private Pflegeversicherung gegen den ab Januar 1997 bestehenden Anspruch aus Pflegestufe II aufzurechnen. Zwar erscheint hier für die Beklagte grundsätzlich ein Herausgabeanspruch gemäß § 812 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) möglich. Hierauf kommt es jedoch nicht an, da in jedem Falle ein Aufrechnungsverbot gemäß § 394 Abs. 1 BGB besteht. Danach findet die Aufrechnung gegen die Forderung nicht statt, soweit eine Forderung der Pfändung nicht unterworfen ist. Dies ist vorliegend bei Pflegegeld der Fall. Das zwingend vorgeschriebene Aufrechnungsverbot soll im öffentlichen Interesse verhindern, daß dem Gläubiger der unpfändbaren Forderung die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wird (vgl. Palandt-Heinrichs, BGB 56. Auflage, § 394 Rdnr. 1). Dies wäre aber vorliegend der Fall. Auch für die soziale Pflegeversicherung bestimmen §§ 51 Abs. 1 i.V.m. 54 Abs. 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch 1. Buch (SGB 1), das Ansprüche auf Geldleistungen, die dafür bestimmt sind, den durch einen Körper- oder Gesundheitsschaden bedingten Mehraufwand auszugleichen, unpfändbar sind. Hierzu gehören insbesondere Pflegezulagen nach § 35 BVG sowie Pflegegeld gemäß § 37 SGB 11 (vgl. Mrozynski, SGB 1, 2. Auflage, § 54 Rdnr. 13; Kassler-Kommentar-Seewald, SGB 1 § 54 Rdnr. 3). Dies ist auch sachgerecht, da der anspruchsberechtigte Versicherungsnehmer ab dem Zeitpunkt der Aufrechnung des Herausgabeanspruches mit dem Anspruch auf Pflegegeld nicht mehr die Geldleistung erhält, die er zum Ausgleich des Mehraufwandes für seinen Lebensbedarf benötigt. Damit ist die Aufrechnung des Herausgabeanspruches auf überzahlte Leistungen aus dem Pflegeversicherungsvertrag mit dem Anspruch des Klägers auf Pflegegeld wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben rechtswidrig (vgl. Palandt-Heinrichs a.a.O. § 387 Rdnr. 15) und gemäß § 394 Satz 1 BGB unzulässig. Es bleibt der Beklagten unbenommen, einen Titel gegen den Kläger zu erwirken, um damit eine Vollstreckung zu erreichen. Eine Vollstreckung in die Forderung auf zu zahlendes Pflegegeld wäre jedoch auch insoweit nicht zulässig, so daß die Beklagte dies nicht durch eine Aufrechnung umgehen kann. Nach alledem war die Klage erfolgreich. Eine Entscheidung hinsichtlich eines Zinsanspruches war mangels Antrag des Klägers nicht zu treffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.