Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.09.2020, Az.: 1 Ws 357/20

Frist für Vollzugsplatz nach rechtskräftigem Urteil; Zulässige Dauer der Organisationshaft zwecks Suche eines Therapieplatzes

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
18.09.2020
Aktenzeichen
1 Ws 357/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 65702
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 24.07.2020 - AZ: 17 StVK 373/20 M

Redaktioneller Leitsatz

1. Die Vollstreckung von Organisationshaft ist nur solange rechtmäßig, wie es bei realistischer Betrachtungsweise nach einem rechtskräftigen Urteil dauert, einen Vollzugsplatz zu finden.

2. Das bloße Warten auf das Freiwerden eines Therapieplatzes rechtfertigt nicht die Verlängerung der Organisationshaft.

3. Der Grundsatz der Beschleunigung ist dabei einzuhalten.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 30. Juli 2020 wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 24. Juli 2020 aufgehoben.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass die Organisationshaft vom 5. März bis zum 15. April 2020 unzulässig war.

  3. 3.

    Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 30. Juli 2020 als unbegründet verworfen.

  4. 4.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Das Landgericht Aurich hat am 7. November 2017 gegen den Verurteilten wegen schwerer räuberischer Erpressung eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt und daneben die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Ferner sind ein Vorwegvollzug von zwei Jahren sowie die Einziehung des Wertes des Erlangten in Höhe von 350,- € angeordnet worden. Die Rechtskraft des Urteils ist durch Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 18. September 2018 (3 StR 77/18) eingetreten, der die Revision des Verurteilten mit der Maßgabe verworfen hat, dass gegen alle Angeklagten die Einziehung des Wertes des Erlangten als Gesamtschuldner erfolgt.

Der Verurteilte hatte sich aus Anlass des Verfahrens seit dem 24. Dezember 2017 bis zum Rechtskraftdatum in Untersuchungshaft befunden.

Mit Verfügung vom 19. November 2018 stellte die Staatsanwaltschaft Aurich ein Aufnahmeersuchen an das Maßregelvollzugszentrum Ort3. In der Folgezeit wurde zunächst eine Aufnahme zum 25. Dezember 2019 im direkten Anschluss an den zweijährigen Vorwegvollzug in Aussicht gestellt, nach weiterer Korrespondenz eine solche zum 24. Januar 2020 im Anschluss an die Vollstreckung eines Teiles einer (Rest-)Jugendstrafe (Az. der StA Aurich: 120 Js 15682/09) bis zu deren Zweidritteltermin zugesagt.

Unter dem 3. Dezember 2019 teilte die Zentrale Belegungsstelle im Maßregelvollzugszentrum Ort4 dann jedoch ohne Angabe eines alternativen Aufnahmetermins mit, dass doch keine Aufnahme zum 24. Januar 2020 werde erfolgen können. Auf erneute Nachfrage der Staatsanwaltschaft Aurich wurde dies unter dem 7. Januar 2020 noch einmal bestätigt. Die Staatsanwaltschaft Aurich ordnete daraufhin am 15. Januar 2020 gegenüber der Justizvollzugsanstalt Ort5 an, dass bis zu einer Verlegung des Verurteilten in den Maßregelvollzug weiterhin die (Rest-)Jugendstrafe (Az. der StA Aurich: 120 Js 15682/09) zu vollstrecken sei. In der Folgezeit an die Zentrale Belegungsstelle gerichtete Anfragen der Staatsanwaltschaft beschied diese dahingehend, dass eine Aufnahme zum 25. September 2020 angedacht sei.

Am 5. März 2020 wies die Staatsanwaltschaft die Justizvollzugsanstalt Ort5 sodann an, die Vollstreckung der oben genannten (Rest-)Jugendstrafe zu unterbrechen und nunmehr Organisationshaft zu vollstrecken. Selbiges wurde der Zentralen Belegungsstelle im Maßregelvollzugszentrum Ort4 am selben Tag unter erneuter Bitte um Mitteilung eines (möglichst zeitnahen) Aufnahmetermins mitgeteilt, welche jedoch in der Folge weiterhin keinen zeitnahen konkreten Aufnahmetermin in Aussicht stellen konnte.

Nach Beantragung einer sofortigen Überführung in den Maßregelvollzug oder alternativ sofortiger Freilassung durch den Verurteilten - vertreten durch seinen Verteidiger - und erneuter Rückfrage bei der Zentralen Belegungsstelle im Maßregelvollzugszentrum Ort4, welche nunmehr eine Aufnahme im Juni 2020 für möglich erachtete, ordnete die Staatsanwaltschaft am 15. April 2020 abermals eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge an, aufgrund derer die Organisationshaft wieder beendet und die Vollstreckung der (Rest-)Jugendstrafe fortgesetzt wurde.

Am 30. Juni 2020 wurde der Verurteilte in den Maßregelvollzug verlegt.

Einen bereits mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 6. April 2020 für den Fall einer Haftfortsetzung ohne Überführung in den Maßregelvollzug gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 458 Abs. 1 StPO stellte der Verurteilte - wiederum vertreten durch seinen Verteidiger - im Anschluss daran mit Schriftsatz vom 22 Juli 2020 dahingehend um, dass nunmehr beantragt werde, festzustellen, dass die bis zum 30. Juni 2020 vollzogene Organisationshaft rechtswidrig war.

Mit Beschluss vom 24. Juli 2020 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen den Antrag des Verurteilten als unbegründet zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 30. Juli 2020.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgenannten Schreiben und gerichtlichen Entscheidungen Bezug genommen und verwiesen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

1.

Der Angeklagte hat die zunächst nach § 462 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte und gem. § 311 Abs. 2 StPO fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde nach seiner am 30. Juni 2020 erfolgten Verlegung in den Maßregelvollzug mit Schriftsatz vom 22. Juli 2020 dahingehend umgestellt, dass er nunmehr die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Organisationshaft begehrt. Dies ist zulässig. Denn in Fällen tiefgreifender, aber nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe - z.B. wie hier des Freiheitsentzuges - hat der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG trotz prozessualer Überholung ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene Organisationshaft rechtswidrig war (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 26.09.2005 - 2 BvR 1019/01 für die Verfassungsbeschwerde; OLG Hamm, Beschluss v. 07.05.2019 - III-1 Ws 209/19 - m.w.N.; jeweils bei juris).

Dies war vorliegend - entgegen der Auffassung des Landgerichts - während des Zeitraumes vom 5. März bis 15. April 2020 der Fall.

Der Verurteilte hatte nach eingetretener Rechtskraft des zugrundeliegenden Urteils und vollständiger Vollstreckung des Vorwegvollzuges mit Ablauf des 24. Dezember 2019 einen Anspruch darauf, in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB untergebracht zu werden (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 25.11.2003 - 4 Ws 537/03, 4 Ws 569/03 - m.w.N., Juris). Die gleichwohl noch im März 2020 angeordnete Organisationshaft war rechtswidrig.

Nach Art. 104 Abs. 1 S. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 2 und 3 GG kann die Freiheit von Personen nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Form beschränkt werden. Die unterschiedlichen Zwecke der Maßregel der Besserung und Sicherung einerseits und der Freiheitsstrafe andererseits finden unter anderem in der Regelreihenfolge des Vorwegvollzugs der Maßregel einen gesetzlichen Ausdruck. Die Organisationshaft bereitet zum Zweck der Nutzung der "therapeutisch fruchtbaren Zeit" die nach der gesetzlichen Regelreihenfolge und dem richterlichen Erkenntnis vorweg zu vollziehende Maßregel vor und erweist sich in Rahmen des insoweit Erforderlichen als zulässig. Wenn die Vollstreckungsbehörde die Überstellung des Verurteilten in den Maßregelvollzug aber nicht unverzüglich in Umsetzung des gerichtlichen Rechtsfolgenausspruchs einleitet und herbeiführt, führt die Durchführung einer Organisationshaft zu einer gesetzeswidrigen und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechenden Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge (vgl. BVerfG, a.a.O.).

Bei Heranziehung der vorgenannten Maßstäbe und Grundsätze erweisen sich die Voraussetzungen für eine Vollstreckung der Organisationshaft im Zeitraum 5. März bis 15. April 2020 nicht als gegeben.

Die Vollstreckung von Organisationshaft stellt sich nur während des Zeitraumes als rechtmäßig dar, den die Vollstreckungsbehörde unter Berücksichtigung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatzes realistischer Weise benötigt, um in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils und eines etwaigen Vorwegvollzuges einen Vollzugsplatz - ggf. auch in einem anderen Bundesland - zu finden und den Verurteilten dorthin zu überführen. Steht ein solcher Platz nicht zur Verfügung, muss der Verurteilte freigelassen werden (vgl. BVerfG, a.a.O. m.w.N.; OLG Hamm, Beschl. v. 25.11.2003, a.a.O.).

Die Staatsanwaltschaft Aurich hatte zeitnah nach Eintritt der Rechtskraft, nämlich noch im November 2018 ein Aufnahmeersuchen gestellt und konnte bis Anfang Dezember 2019 davon ausgehen, dass eine nahtlose Überführung des Verurteilten in den Maßregelvollzug möglich sein werde. Ab Erhalt der Mitteilung der Zentralen Belegungsstelle im Maßregelvollzugszentrum Ort4 vom 3. Dezember 2019 konnte die Staatsanwaltschaft aber mangels Angabe eines konkreten Aufnahmedatums schon nicht mehr ohne Weiteres eine zeitnahe Aufnahme erwarten, nach Erhalt des Schreibens der zentralen Belegungsstelle vom 13. Februar 2020 musste sie eine Aufnahme erst zum 25. September 2020 in Rechnung stellen. Die Anordnung des Vollzuges von Organisationshaft am 5. März 2020 erfolgte angesichts des Umstandes, dass bis zu diesem Zeitpunkt ausweislich der Akten über die an die Zentrale Belegungsstelle gerichteten Anfragen hinaus keine weiteren Bemühungen zur Aufnahme des Verurteilten im Maßregelvollzug - z.B. Anfragen in anderen Bundesländern bezüglich dortiger freier Kapazitäten - entfaltet worden waren, gleichsam ins Blaue hinein ohne realistische Grundlage für die Erwartung einer Verlegung des Verurteilten in absehbarer Zeit. Dementsprechend konnte auch keine Aufnahme in den Maßregelvollzug bewirkt werden, was zu einer Beendigung der förmlichen Organisationshaft am 15. April 2020 führte.

Eine Entscheidung der Streitfrage, wie lange die eine Organisationshaft rechtfertigende Organisationsphase dauern darf, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft hätte die gebotenen Maßnahmen bereits ab Anfang Dezember 2019 einleiten können und müssen, womit ihr ein hinreichender Zeitraum zur Verfügung stand. Das bloße Zuwarten auf einen freiwerdenden Therapieplatz ohne konkrete Aussicht vermochte jedenfalls im März 2020 eine Anordnung von Organisationshaft nicht mehr zu rechtfertigen (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 25.11.2003 a.a.O.).

2.

Soweit der Verurteilte sich darüber hinaus zugleich auch gegen die Änderungen der Vollstreckungsreihenfolge und die damit einhergehende Inhaftierung bis zum 30. Juni 2020 wendet, unterfällt diese Maßnahme einer Überprüfung im vorliegenden Verfahren nicht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 467 StPO. Soweit der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde unterlegen ist, war eine davon abweichende Kosten- und Auslagenentscheidung gemäß § 473 Abs. 4 StPO nicht veranlasst, da mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Organisationshaft das Ziel der sofortigen Beschwerde überwiegend erreicht worden ist.