Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 06.10.1994, Az.: 6 E 1/94

Einrichtung von Kontrollstellen für eine Wahlveranstaltung der CDU mit dem Bundeskanzler; Aussetzung eines Verfahrens; Gefährdung des Bundeskanzlers aufgrund des Inhalts eines Flugblatts; Verhütung von Straftaten; Exekutivische Maßnahme der Gefahrenabwehrbehörden

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
06.10.1994
Aktenzeichen
6 E 1/94
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1994, 17697
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOSNAB:1994:1006.6E1.94.0A

Verfahrensgegenstand

Anordnung von Kontrollstellen

Sonstige Beteiligte

Polizeiinspektion Osnabrück-Stadt, Kollegienwall 6-8, 49026 Osnabrück

Das Verwaltungsgericht Osnabrück - 6. Kammer - hat
am 06. Oktober 1994
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Das Verfahren wird ausgesetzt.

  2. 2.

    Es wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 14 Abs. 2 Satz 1 des Niedersachsischen Gefahrenabwehrgesetzes in der Fassung vom 13.04.1994 (GVBl. Nr. 9/1994, S. 172) mit § 39 Verwaltungsgerichtsordnung vereinbar ist.

Tatbestand

1

Die Antragstellerin beantragte am 04.10.1994 die Anordnung von im einzelnen bezeichneter Kontrollstellen nach dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz für eine Wahlveranstaltung der CDU mit Bundeskanzler ... am 07.10.1994 in Osnabrück. Zur Begründung verweist die Antragstellerin auf die allgemeine Gefährdung des Bundeskanzlers sowie auf ein an mehreren Stellen der Innenstadt Osnabrücks aufgefundenes anonymes Flugblatt.

2

Dieses Flugblatt lautet:

... lobte ... für seinen Putsch gegen das Parlament am 21.9.93 und das zwei Wochen später angerichtete Massaker vor und im "Weißen Haus" in Moskau.

Für dieses Lob soll der Verbrecher ... seine Strafe erhalten. Wir werden versuchen, ihn während der Wahlveranstaltung am 7. Oktober auf dem Marktplatz in Osnabrück anzugreifen und zu vernichten. Wir würden uns freuen, dieses Schwein zerfetzt zu sehen."

Gründe

3

Das Verfahren ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1, Satz 22. Alt. Grundgesetz (GG) auszusetzen und es ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vereinbarkeit des § 14 Abs. 2 Satz 1 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGefAG) in der Fassung vom 13.04.1994 (GVBl. S. 172) mit § 39 Verwaltungsgerichtsordnung einzuholen, da die Kammer diese entscheidungserhebliche Vorschrift für mit Bundesrecht unvereinbar hält.

4

Die durch Art. I Nr. 12 des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 18.02.1994 (GVBl. S. 71) eingeführte Bestimmung des § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG i.d.F.d. Bekanntmachung vom 13.04.1994 ist entscheidungserheblich. Die Antragstellerin ist die nach Landesrecht zuständige und antragsbefugte Polizeibehörde. Die tatbestandlichen Anordnungsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1 NGefAG liegen vor. Aufgrund der allgemeinen Gefährdungslage des Bundeskanzlers, der in jüngster Vergangenheit - zuletzt am Tag der deutschen Einheit in Bremen - stattgefundenen Ausschreitungen sowie des zur physischen Vernichtung des Bundeskanzlers aufrufenden Flugblatts rechtfertigen Tatsachen die Annahme, daß anläßlich des Auftritts des Bundeskanzlers auf der Wahlkampfveranstaltung der CDU Straftaten i.S.d. § 27 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes begangen werden sollen, weil insbesondere aufgrund des Inhalts des Flugblatts damit zu rechnen ist, daß an der Wahlkampfveranstaltung teilnehmende Personen Waffen mit sich führen werden. Zur Verhütung dieser Straftaten ist die Einrichtung jedenfalls der an den Straßeneinmündungen geplanten Kontrollstellen erforderlich i.S.d. genannten Bestimmung. Insoweit müßte eine antragsgemäße Entscheidung ergehen, zu der gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG das Verwaltungsgericht berufen ist. Diesbezüglich sieht die Kammer nach den einschlägigen Vorschriften ihre Zuständigkeit gegeben. Im Fall der Unbeachtlichkeit des § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG ist der Antrag hingegen unzulässig und abzulehnen.

5

Die Bestimmung des § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG ist mit § 39 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und damit mit Bundesrecht nicht vereinbar. Gemäß § 39 VwGO dürfen dem Gericht keine Verwaltungsgeschäfte außerhalb der Gerichtsverwaltung übertragen werden. Daß es sich bei der durch § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG dem Verwaltungsgericht übertragenen Anordnung nicht um Geschäfte der Gerichtsverwaltung handelt, liegt auf der Hand. Es handelt sich vielmehr um eine typische exekutivische Maßnahme der Gefahrenabwehrbehörden. Dies folgt aus dem Regelungsgehalt des § 14 NGefAG. Die konstitutive Anordnung der Einrichtung von Kontrollstellen ist eine im Rahmen des Gesetzesvollzugs ergehende Entscheidung über das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer polizeirechtlichen Ermächtigungsnorm und deren Anwendung im Einzelfall auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr, dem traditionellen Kernbereich der Exekutive. Dem entspricht die Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 2 NGefAG, wonach die Polizei - bei Gefahr im Verzug - berechtigt ist, die Maßnahme anzuordnen. Die gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG für den Regelfall vorgesehene Entscheidung ist originär eine solche dieser im Ausnahmefall weiterhin berufenen Exekutivbehörde, die der Landesgesetzgeber durch die vorgenannte Bestimmung dem Verwaltungsgericht übertragen hat. Dies bestätigt auch die Vorläuferregelung des § 12 Abs. 1 Nr. 4 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NSOG) vom 17.11.1981 (GVBl. S. 347) i.d.F.v. 17.12.1991 (GVBl. S. 367), nach der eine uneingeschränkte Entscheidungskompetenz der Polizeibehörden bestand.

6

Die Bestimmung des § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG läßt sich mangels Einschlägigkeit des Regelungsgehalts auch nicht auf die auf grundgesetzlicher Grundlage (Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 GG) beruhenden Richtervorbehalte stützen. Gleiches gilt hinsichtlich der dem Landesgesetzgeber als Vorbild dienenden Bestimmung des § 111 Abs. 2 der Strafprozeßordnung (vgl. Regierungsentwurf, LT-Drucks. 12/4140, S. 53 zu Artikel I Nr. 11, Absatz 3). Dieser bundesrechtlichen - spezielleren - Vorschrift steht die dem § 39 VwGO entsprechende, ebenfalls bundesrechtliche Bestimmung des § 4 Satz 2 EGGVG nicht entgegen. Dies ändert nichts daran, daß dem Landesgesetzgeber gemäß dem in Art. 31 GG normierten Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht" eine vergleichbare, von bundesgesetzlichen Vorschriften abweichende Regelung versagt ist.

7

Die Bestimmung des § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG läßt sich auch nicht auf § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO stützen. Nach dieser Bestimmung können öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden. Diese Bestimmung setzt zum einen die Einschlägigkeit des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO voraus und ermächtigt deshalb zum anderen nicht zu einer Aufgabenübertragung auf die Verwaltungsgerichte, sondern dazu diesen ihnen nach Satz 1 der Bestimmung obliegende Aufgaben zu entziehen und sie anderen Gerichten zu übertragen, d.h. zu von der für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten getroffenen Rechtswegregelung des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO abweichenden Bestimmungen. Bei der Anordnung von Kontrollstellen nach § 14 NGefAG handelt es sich nicht um eine (öffentlich-rechtliche) Streitigkeit i.S.d. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Insoweit läßt sich die Anordnung nach § 14 Abs. 2 Satz 1 NGefAG auch nicht als Form eines "antezipierter Rechtsschutzes" verstehen, wie es ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs der Intention des Landesgesetzgebers entsprochen haben mag (vgl. Regierungsentwurf, LT-Drucks. 12/4140, a.a.O.), wonach die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte bereits aus § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO folgen soll. Mit der Verlagerung der Anordnungszuständigkeit auf die Verwaltungsgerichte wird die ggf. in einem Rechtsstreit i.S.d. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu überprüfende Verwaltungsentscheidung auf die Verwaltungsgerichte übertragen, so daß diese nicht (Verwaltungs-)Rechtsschutz gewähren, sondern selbst den Eingriff in die Rechte des Bürgers vornehmen. Die Bejahung einer Kompetenz des Landesgesetzgebers zu einer solchen "Vorverlagerung" des Rechtsschutzes eröffnete diesem die Möglichkeit, die vom Bundesgesetzgeber in § 39 VwGO getroffene Grundentscheidung auszuhöhlen, wenn nicht in ihr Gegenteil zu verkehren.

Dr. Thies
Specht
Neuhaus