Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.12.2009, Az.: Ws 271/09
Maßgeblichkeit eines Sachverständigengutachtens i.R.d. Aussetzung des Restes einer Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 18.12.2009
- Aktenzeichen
- Ws 271/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 30563
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2009:1218.WS271.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 28.02.2008 - AZ: 8 KLs 62/07
Rechtsgrundlagen
- § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB
- § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO
Fundstellen
- BewHi 2010, 433
- StRR 2010, 146 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
In dem Strafvollstreckungsverfahren
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 18. Dezember 2009
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 31. August 2009 aufgehoben.
- 2.
Die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 28. Februar 2008 (Aktenzeichen 8 KLs 62/07) wird mit Wirkung zum 31. Januar 2010 zur Bewährung ausgesetzt. An diesem Tag ist der Verurteilte aus der Strafhaft zu entlassen.
- 3.
Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre.
- 4.
Der Verurteilte wird der Aufsicht und Leitung eines noch zu benennenden Bewährungshelfers unterstellt.
- 5.
Er hat seine Entlassungsanschrift unverzüglich mitzuteilen. Jeder Wohnungswechsel ist der Strafvollstreckungskammer und dem Bewährungshelfer mitzuteilen.
- 6.
Die Belehrung über Wesen und Bedeutung der Vollstreckungsaussetzung des Strafrestes zur Bewährung wird dem Leiter der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel übertragen.
- 7.
Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird um ein Viertel ermäßigt. Die notwendigen Auslagen des Verurteilten werden zu 1/4 der Landeskasse und zu 3/4 dem Verurteilten auferlegt.
Gründe
Die zulässige sofortige Beschwerde hat teilweise Erfolg.
Mit Beschluss vom 31. August 2009 hat es das Landgericht Braunschweig abgelehnt, die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 28. Februar 2008 - verhängt wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 19. Dezember 2006 (8 Ls 19 Js 9507/05) - zum Halbstrafenzeitpunkt, der am 4. August 2009 erreicht war, zur Bewährung auszusetzen.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten, mit der er seine bedingte Entlassung erstrebt.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde hat in der Sache den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Zu dem genannten Zeitpunkt ist der Rest der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen.
Nach § 57 Abs.2 Nr.2 StGB kann die Vollstreckung eines Strafrestes bereits nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn eine günstige Kriminalprognose erstellt werden kann und außerdem die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergibt, dass besondere Umstände vorliegen, welche eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten rechtfertigen. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf den Entlassungszeitpunkt erfüllt.
1.
Eine günstige Kriminalprognose i.S.d. § 57 StGB setzt nicht voraus, dass ein zukünftiges straffreies Leben des Verurteilten gewiss ist; vielmehr genügt die realistische Chance i.S. einer mit Tatsachen belegten überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte die "kritische Probe" bestehen werde (vgl. nur OLG Düsseldorf, NStZ 1999, 478; LK-Hubrach, StGB, 12. Aufl. 2008, § 57 Rdnr.10 m.w.N.). Auch hängt der Grad des noch hinzunehmenden Restrisikos ganz wesentlich von der Art und der Schwere der Taten ab, mit denen bei dein Verurteilten im Falle eines negativen Verlaufs der Erprobung möglicherweise zu rechnen ist (LK-Hubrach, StGB, § 57 Rdnr.11 m.w.N.).
Zwar ist der gern. § 454 Abs.2 Nr.2 StPO beauftragte Sachverständige Diplom-Psychologe Thorsten Schliemann in seinem schriftlichen Gutachten vom 22. Oktober 2009 zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Verurteilten prognostische ungünstige Aspekte vorliegen u.a. die Tatsache, dass der Verurteilte seine Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz aktuell größtenteils leugne bzw. bagatellisiere. Das lasse den Schluss auf kognitive Strukturen zu, welche es dem Verurteilten ermöglichen würden, die Realität umzudeuten und ihn auch zukünftig in die Lage versetzen könnten, erneut deliktisches Handeln zu verharmlosen. Auch sieht der Sachverständige bei dem Verurteilten Anzeichen für eine labile Persönlichkeit, die leicht beeinflussbar ist und sich gegen die Anforderungen durch andere Personen nicht immer hinreichend abgrenzen könne. Schließlich sei i.S. einer ungünstigen Prognose zu berücksichtigen, dass der Verurteilte bislang noch nicht die Gelegenheit erhalten habe, seine während der Haft möglicherweise erworbenen Kompetenzen im Rahmen des offenen Vollzuges zu erproben. Im Ergebnis geht der Sachverständige davon aus, bei dem Verurteilten bestehe eine noch geringe bis gerade schon mittlere Wahrscheinlichkeit, dass dieser erneut mit einer Straftat auffällig werden könnte.
Allerdings ist auch dann, wenn ein Sachverständiger sich nicht zu der Feststellung schließen kann, dass bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, das Gericht nicht von der Prüfung enthoben, ob es in Anbetracht der sonstigen Umstände nicht trotzdem eine Aussetzung des Strafrestes verantworten kann. Denn die Einführung der Einholung eines Gutachtens gemäß § 454 Abs.2 StPO führt nicht zu einer Einschränkung der Voraussetzungen für die Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB (vgl. OLG Köln, StV 2000, 155). Im Übrigen kann auch bei einer auf der Grundlage eines Gutachtens getroffenen Aussetzungsentscheidung ein vertretbares Restrisiko eingegangen werden (vgl. BVerfG NStZ 1998, 373). Jedenfalls dieses etwa verbleibende Restrisiko ist nach den Umständen des vorliegenden Falles, die für eine künftige straffreie Führung sprechen, vertretbar.
So begründet die Tatsache, dass der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt, die Vermutung, dass die Strafe spezialpräventive Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar ist, den Strafest zur Bewährung auszusetzen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 26. Oktober 2006 - 1 Ws 792/06 -, Rdnr.16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. November 2007 - 2 Ws 308/07 -, Rdnr.12, beide zitiert nach [...]).
Im Sinne einer günstigen Kriminalprognose ist auch zu berücksichtigen, dass der Verurteilte in der Zeit zwischen Mai 2006 und seiner Inhaftierung im November 2007, in der er sich - abgesehen von vier Monaten Untersuchungshaft - auf freiem Fuß befand, keine weiteren Straftaten begangen hat.
Schließlich ist das vollzugliche Verhalten des Verurteilten beanstandungsfrei. Der Vollzugsplan der Justizvollzugsanstalt vom 2. November 2009 besagt, dass er sich sowohl gegenüber den Bediensteten der Anstalt als auch gegenüber seinen Mitgefangenen einwandfrei verhält, dass er nicht mit Kontakten zur Subkultur der Anstalt aufgefallen ist und keine Anhaltspunkte für Gewaltbereitschaft oder eine Suchtproblematik vorliegen. Er pflege seine sozialen Kontakte zu der Mutter seines Kindes - auch wenn die Beziehung zu ihr inzwischen beendet sei - und deren Schwester. Seiner Beschäftigung gehe er regelmäßig und zuverlässig mit sehr guten Arbeitsleistungen nach.
Die Tatsache, dass seitens der Justizvollzugsanstalt bislang noch keine Vollzugslockerungen gewährt wurden, steht einer positiven Prognose nicht entgegen, da diese Einschränkung auf der als ungesichert eingeschätzten ausländerrechtlichen Situation des Verurteilten und nicht auf seinem Verhalten im Vollzug beruht. Nach wie vor ist die ausländerrechtliche Situation offen; es ist aber nicht erkennbar, dass sich daraus negative Folgen für das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ergeben könnten. Die gegenteilige-Ansicht würde darauf hinauslaufen, die Strafhaft zur Abschiebehaft umzufunktionieren (vgl. zu dieser Argumentation: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. November 2007 - 2 Ws 308/07 -, Rdnr. 16; OLG Nürnberg, Beschluss vom 26. Oktober 2006 - 1 Ws 792/06 -, Rdnr. 19; beide zitiert nach [...]).
2.
Darüber hinaus ist abweichend von der Auffassung der Strafvollstreckungskammer auch das Vorliegen besonderer Umstände i.S.d.§ 57 Abs.2 Nr.2 StGB zu bejahen, die über die schon gestellte günstige Sozialprognose hinaus eine Aussetzung der Hälfte der Strafe rechtfertigen, weil sie im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind und eine Strafaussetzung zur Bewährung trotz des erheblichen Unrechts- oder Schuldgehalts der Tat nicht als unangebracht oder den vom Strafrecht geschützten Interessen zuwiderlaufend erscheinen lassen (vgl. Schönke/Schröder-Stree, StGB, 27. Aufl. 2006, § 57 Rn.23 b, § 56 Rn.27 ff.).
Bereits die erkennende Strafkammer hatte dem Verurteilten eine Reihe von mildernd ins Gewichtsfallenden Umstände zugutegehalten, die bei der Gesamtwürdigung für die Entscheidung nach § 57 Abs.2 Nr.2 StGB einzubeziehen und nicht "verbraucht" sind (vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 57, Rn.29). Dazu zählt sein Geständnis und die Tatsache, dass er Angaben zu seinen Lieferanten gemacht hat und auch zu weiteren Angaben bereit war, sowie der Aspekt, dass die Taten zum Zeitpunkt der Verhandlung bereits relativ lange zurücklagen. Darüber hinaus war berücksichtigt worden, dass - zumindest auch - eine finanzielle Notlage Motiv für die Straftaten war.
Weitere besondere Umstände ergeben sich aus seinen Aktivitäten im Vollzug, die über ein beanstandungsfreies Verhalten weit hinausgehen. Er hat im Juni 2009 den Hauptschulabschluss abgelegt, was unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die deutsche Sprache nicht seine Muttersprache ist, besonders beachtlich ist. Außerdem absolviert er derzeit die berufliche Bildungsmaßnahme zum Druckereihelfer und hat an einer Ausbildungsmaßnahme zum Glas- und Gebäudereinigungshelfer mit Erfolg teilgenommen, die Berechtigung zur Führung von Gabelstaplerfahrzeugen erlangt und - laut dem aktuellen Vollzugsplan - Angebote der Anstalt, wie die Teilnahme an sportlichen, musikalischen und kirchlichen Aktivitäten, wahrgenommen. Weiterhin hat er - wie im Vollzugsplan angegeben - mit positivem Verlauf an Einzelbehandlungsmaßnahmen des Anstaltspsychologen teilgenommen. Dadurch hat der Verurteilte erkennen lassen, dass er eine berufliche und soziale Integration nach seiner Haftentlassung anstrebt.
Bei der Gewichtung dieser Umstände ist zu berücksichtigen, dass an diese umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je mehr sich der Vollstreckungsstand dem 2/3 Zeitpunkt nähert, zu dem eine bedingte Entlassung bereits unter den erleichterten Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 29.10.1992 - 2 Ws 320/92 - zit. nach [...]). Dieser wird hier am 4. März 2010 erreicht sein.
Im Hinblick auf die notwendigen Entlassungsvorbereitungen hat der Senat den Entlassungszeitpunkt auf den 31. Januar 2010 festgesetzt.
Von der Anhörung des Sachverständigen nach § 454 Abs. 2 s. 3 StPO hat der Senat abgesehen, da die Staatsanwaltschaft insoweit verzichtet hat und der Verurteilte sowie sein Verteidiger nicht beschwert sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. I Satz 1, Abs. IV StPO.