Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 01.06.2004, Az.: 1 Ws 102/04 (StrVollz)
Anforderungen an das Auswahlermessen der Justizvollzugsanstalt bei Unterbringung von Gefangenen in einem Einzelhaftraum; Rechtmäßigkeit der Unterbringung als Nichtraucher zusammen mit Rauchern in einer Gemeinschaftszelle; Zulässigkeit des Antrags eines Nichtrauchers auf Verlegung in eine Einzelzelle oder zumindest in eine Zelle mit Nichtrauchern; Zulässigkeit der Abweichung vom Gebot der Einzelunterbringung im Falle einer Überbelegungssituation
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 01.06.2004
- Aktenzeichen
- 1 Ws 102/04 (StrVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 18067
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2004:0601.1WS102.04STRVOLLZ.0A
Rechtsgrundlagen
- § 18 Abs. 1 StVollzG
- § 201 Nr. 3 StVollzG
Fundstellen
- NJW 2004, 2766-2767 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 2004, XII Heft 32 (amtl. Leitsatz)
- NJW-Spezial 2004, 283-284 (Volltext mit amtl. LS)
- NStZ 2006, 18
- NStZ 2005, 52 (amtl. Leitsatz)
- StV 2006, 151-152 (Volltext mit amtl. LS)
- StraFo 2004, 327-328 (Volltext mit amtl. LS)
- ZfStrVo 2005, 177-178
- ZfStrVo 2004, 247-248
Verfahrensgegenstand
Unterbringung in einem Einzelhaftraum
Amtlicher Leitsatz
Kann wegen Überbelegung der Anstalt nicht jedem Gefangenen ein Einzelhaftraum zur Verfügung gestellt werden, hat die Justizvollzugsanstalt das ihr im Rahmen ihrer Organisationshoheit zustehende Ermessen in zwei Stufen auszuüben:
Zunächst ist zu klären, ob dem Gefangenen aus besonderen Gründen ein Einzelhaftraum zugewiesen werden kann bzw. muss. Ist dies nicht der Fall, ist zu klären, mit wie vielen und welchen Gefangenen er in einer Zelle unterbracht wird.
Bei beiden Entscheidungen hat die Justizvollzugsanstalt eine Auswahlentscheidung zu treffen, die nachvollziehbaren und mit dem StVollzG zu vereinbarenden Kriterien folgen muss. Im Rahmen dieser Ermessensbetätigung sind neben vorrangigen einzelfallbezogenen Gesichtspunkten insbesondere der Wiedereingliederung (§ 2 S. 1 StVollzG) , der Gegensteuerung (§ 3 Abs. 2 StVollzG) und der Sicherheit und Ordnung (§ 81 StVollzG) nach Auffassung des Senats auch der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Dauer der Freiheitsentziehung zu berücksichtigen.
In der Strafvollzugssache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
nach Beteiligung des Zentralen juristischen Dienstes für den niedersächsischen Justizvollzug
auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers
gegen den Beschluss der kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... mit
Sitz in ... vom 6. Februar 2004
durch
den Richter am Oberlandesgericht ...,
die Richterin am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 1. Juni 2004 beschlossen:
Tenor:
- 1.
Dem Antragsteller wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.
- 2.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... zurückverwiesen.
- 3.
Der Streitwert wird auf 100 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt aufgrund eines Urteils des Landgerichts ... vom 25. September 2001 wegen Umsatzsteuerhinterziehung in 81 Fällen und wegen versuchter Umsatzsteuerhinterziehung in 247 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung, eine Gesamtfreiheitsstrafe vom 7 Jahren. Das Ende der Strafvollstreckung ist auf den 16. Juni 2008 festgesetzt, zwei Drittel der Strafe wird der Gefangene am 13. Februar 2006 verbüßt haben.
Der Antragsteller ist Nichtraucher. Er war in der Zeit vom 2. Dezember 2002 bis zu seiner Verlegung in die Einweisungsabteilung der Justizvollzugsanstalt H... am 27. März 2003 mit zwei Rauchern in einem Dreimannhaftraum untergebracht. Sein Antrag, ihn in eine Einzelzelle oder zumindest in eine Zelle mit Nichtrauchern zu verlegen, ist von der Justizvollzugsanstalt zunächst nicht und dann mit Bescheid vom 18. März 2003 negativ beschieden worden, weil aufgrund der Überbelegung kein Einzelhaftraum zur Verfügung stehe und auch ärztlicherseits keine zwingende Notwendigkeit für die Unterbringung in einem Einzelhaftraum bestehe.
Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller am 18. März 2003 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt, den er nach seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt H... dahingehend umgestellt hat, festzustellen, dass die Unterbringung als Nichtraucher zusammen mit Rauchern in einer Gemeinschaftszelle rechtswidrig war.
Zwischenzeitlich ist der Antragsteller wieder in die Justizvollzugsanstalt S... rückverlegt worden, wo er erneut mit einem Raucher auf einer Zelle untergebracht ist.
Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung mit Beschluss vom 6. Februar 2004 zurückgewiesen. Der Antragsteller habe zwar wegen der (bereits realisierten) Wiederholungsgefahr ein berechtigtes rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung, angesichts der glaubhaften Überbelegung habe die Anstalt indes rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass von dem Gebot der Einzelunterbringung nach § 18 Abs. 1 StVollzG im Fall des Antragsstellers gemäß § 201 Nr. 3 StVollzG habe abgewichen werden müssen, da die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erforderten. In dieser Überbelegungssituation habe die Anstalt, mit deren Bauausführung vor dem 1. Januar 1977 begonnen worden sei, bei der Vergabe von Einzelhafträumen eine Vielzahl von Aspekten zu berücksichtigen, wobei ein Spielraum für Variationsmöglichkeiten angesichts der Überbelegung kaum gegeben sei. Eine halbwegs gerechte Lösung sei die Führung der Warteliste, auf die auch der Antragsteller gesetzt worden sei. Dass sich der Antragsteller als Nichtraucher mit Rauchern einen Gefangenenraum habe teilen müssen, sei "zwar misslich, dennoch angesichts der Überbelegungssituation zumindest vorübergehend hinnehmbar". Der Haftraum, in dem er mit den beiden Rauchern untergebracht gewesen sei, weise eine Grundfläche von 23 qm und einen abgetrennten Sanitärbereich auf; dem Einschluss habe er jeweils von 21:30 Uhr bis 6:00 Uhr morgens und von 17:15 Uhr bis 18:00 Uhr unterlegen.
Gegen diesen ihm am 12. Februar 2004 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde, die er am 16. März 2004 zu Protokoll der Geschäftstelle eingelegt und begründet hat. Der Antragsteller rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Ein Nichtraucher habe Anspruch, getrennt von Rauchern untergebracht zu werden. Die Gefährdung von Nichtrauchern durch Passivrauchen und die daraus resultierenden Langzeitschäden (erhöhtes Krebsrisiko pp.) seien offenkundig und rechtfertigten einen Anspruch auf Abhilfe gegen die Anstalt. Abweichend vom festgestellten Sachverhalt hätten der Anstalt auch durchaus Abhilfemöglichkeiten (Umzug ins 3. OG) zur Verfügung gestanden.
Ausweislich eines Vermerks der Rechtsantragstelle des Amtsgerichts ... hat der Antragsteller bereits unter dem 12. Februar 2004 die Vorführung zur Aufnahme der Rechtsbeschwerde beantragt; die Vorführung war aus dienstlichen Gründen jedoch erst am 16. März 2004 möglich.
II.
1.
Dem Antragsteller war von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die am 12. März 2004 abgelaufene Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren, § 120 Abs. 1 StVollzG, §§ 44, 45 Abs. 2 Satz 2 StPO.
Er war ohne sein Verschulden gehindert, diese Frist einzuhalten.
2.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Es gilt, der Gefahr der Wiederholung des im Nachfolgenden aufgezeigten Rechtsfehlers entgegen zu wirken.
3.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Überprüfung auf die in zulässiger Form erhobene Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer gemäß § 119 Abs. 4 S. 3 StVollzG.
Dem Beschluss lässt sich nicht hinreichend entnehmen, ob die Justizvollzugsanstalt bei der Unterbringung des Antragstellers von ihrem Ermessen in rechtsfehlerfreier Weise Gebrauch gemacht hat.
a.
In den Fällen, in denen nicht jedem Gefangenen nach § 18 Abs. 1 StVollzG in der Ruhezeit ein Einzelhaftraum zur Verfügung steht und die Ausnahmeregelung des § 201 Ziff. 3 StVollzG zur Anwendung kommt, hat die Justizvollzugsanstalt das ihr im Rahmen ihrer Organisationshoheit zustehende Ermessen in zwei Stufen auszuüben:
- Zunächst ist zu klären, ob dem Gefangenen aus besonderen Gründen eine Einzelzelle zugewiesen werden kann bzw. muss.
- Ist dies nicht der Fall, ist zu klären, mit wie vielen und welchen Mitgefangenen er in einer Zelle untergebracht wird.
Bei beiden Entscheidungen hat die Justizvollzugsanstalt eine Auswahlentscheidung zu treffen, die nachvollziehbaren und mit dem StVollzG zu vereinbarenden Kriterien folgen muss. Im Rahmen dieser Ermessensbetätigung sind neben vorrangigen einzelfallbezogenen Gesichtspunkten insbesondere der Wiedereingliederung (§ 2 S. 1 StVollzG), der Gegensteuerung (§ 3 Abs. 2 StVollzG) und der Sicherheit und Ordnung (§ 81 StVollzG) nach Auffassung des Senats auch der Gleichbehandlungsgrundsatz und die bisherige und zu erwartende Dauer der Freiheitsentziehung (zu letzterem s.a. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 28-30) zu berücksichtigen.
Sowohl bei der Frage der Zuweisung einer Einzelzelle als auch bei der Verteilung der Gefangenen auf Gemeinschaftszellen sind mithin neben gesetzlichen Vorgaben wie z.B. der Trennung von Untersuchungs- und Strafgefangenen gesundheitliche Aspekte - insbesondere auch, ob es sich um Raucher oder Nichtraucher handelt, - das innervollzugliche Verhalten von Strafgefangenen, ihre persönlichen Störungen bzw. psychischen Auffälligkeiten, ihre Tätigkeiten als Arbeiter, Schüler oder Nichtarbeiter und ihre Lebensgewohnheiten sowie kultur- bzw. sprachbedingte Besonderheiten zu berücksichtigen.
Auch wenn aufgrund der Überbelegung Variationsmöglichkeiten nur in geringem Umfang zur Verfügung stehen, hat die Anstalt die vorgenannten Aspekte gegeneinander abzuwägen, um die Belastungen für die Gefangenen so gering wie möglich zu halten.
Gerade weil die - nur ausnahmsweise zulässige - gemeinsame Unterbringung die Gefangenen in besondere Weise belastet, hat die Anstalt bei der Verteilung der Insassen auf die zur Verfügung stehenden Zellen auf der zweiten Stufe ihrer Ermessenbetätigung die vielfältigen Aspekte besonders sorgfältig abzuwägen.
b.
Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze gilt hier:
(1)
Nach dem im angefochtenen Beschluss festgestellten Sachverhalt ist die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, den Antragsteller nicht in einer Einzelzelle, sondern zusammen mit anderen Gefangenen in einem Dreimannhaftraum unterzubringen, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Die Justizvollzugsanstalt hat auf die Überbelegung verwiesen und insbesondere die ärztliche Notwendigkeit der Einzelunterbringung geprüft und verneint. Allein die Tatsache, dass es sich bei dem Antragsteller um einen Nichtraucher handelt, zwang die Anstalt nicht zur Zuweisung einer Einzelzelle, weil dessen - berechtigtes - Interesse an einer rauchfreien Umgebung im Prinzip auch durch andere Gestaltungsmöglichkeiten hinreichend hätte Rechnung getragen werden können, z.B. mit der Unterbringung zusammen mit anderen Nichtrauchern, ggfs. auch durch ein Rauchverbot in der Zelle während der Ruhezeiten. Der Verweis auf die Warteliste ist - insbesondere unter den Gesichtspunkten der Dauer der Freiheitsentziehung und der Gleichbehandlung der Gefangenen als Kriterien für das Auswahlermessen - nicht zu beanstanden. Die Dauer der gemeinschaftlichen Unterbringung in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum von nahezu vier Monaten ist noch hinnehmbar.
Anhaltspunkte, dass die von § 201 Ziff. 3 StVollzG grundsätzlich gedeckte Unterbringung im Dreimannhaftraum menschenunwürdig und daher rechtswidrig war, ergeben sich aus dem mitgeteilten Sachverhalt nicht. Die Zelle war hinreichend groß, der Toilettenbereich abgetrennt.
(2)
Ob überhaupt und - wenn ja - wie die Anstalt das ihr auf der zweiten Stufe zustehende Ermessen bei der Zuweisung des Antragstellers in einen Dreimannhaftraum mit zwei Rauchern ausgeübt hat, ist dem im angefochtenen Beschluss mitgeteilten Sachverhalt allerdings nicht zu entnehmen.
Die in den Beschlussgründen wiedergegebene Entscheidung der Justizvollzugsanstalt vom 18. März 2003 beschränkt sich auf die Frage der Zuweisung eines Einzelhaftraums. Die Kammer teilt dazu auch keine weiteren Umstände mit. Soweit sie ihre eigene Entscheidung damit begründet, dass die Unterbringung zusammen mit zwei Rauchern für den Antragsteller "misslich, aber vorübergehend hinnehmbar sei", ist dem entgegenzuhalten, dass Wertungen der Strafvollstreckungskammer eine Ermessenausübung durch die Justizvollzugsanstalt nicht ersetzen können und hier im übrigen auch ein Zeitraum von nahezu vier Monaten in Rede steht.
c.
Weil die Rechtsbeschwerde bereits insoweit begründet ist, bedarf es eines Eingehens auf die weiteren Ausführungen in der Rechtsbeschwerdeschrift nicht. Ob es der Anstalt möglich gewesen wäre, den Antragsteller im fraglichen Zeitraum zusammen mit Nichtrauchern unterzubringen - wie der Antragsteller nunmehr behauptet -, mag dahinstehen. Zum einen könnte dieser Vortrag nur im Rahmen einer zulässig ausgeführten Aufklärungsrüge Berücksichtigung finden, an der es hier aber fehlt, zum anderen sind bei der Entscheidung über die Verteilung der Gefangenen auf die Zellen neben der Frage Raucher/Nichtraucher wie ausgeführt auch eine Vielzahl anderer Umstände zu berücksichtigen.
III.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 48 a, 13 GKG.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird auf 100 EUR festgesetzt.