Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 16.11.2022, Az.: 1 Ws 409/22

Zulässigkeit der Vollstreckung von Freiheitsstrafe nach Erledigung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt infolge erneuter Anordnung in einem nachfolgenden Urteil

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
16.11.2022
Aktenzeichen
1 Ws 409/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 42894
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2022:1116.1WS409.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 29.09.2022

Fundstelle

  • StV 2023, 258-260

Amtlicher Leitsatz

Im Falle der Erledigung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) infolge erneuter Anordnung einer solchen in einem nachfolgenden Urteil gem. § 67f StGB stellt sich der Vollzug der mit der anfänglich angeordneten Unterbringung verhängten Freiheitsstrafe grds. als unbillige Härte dar, welche die Anrechnung der Zeit des Vollzugs der in dem neuen Verfahren verhängten Maßregel auf diese insoweit verfahrensfremde Strafe gem. § 67 Abs.6 Satz 1 StGB gebietet.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 29. September 2022,

durch den die Anrechnung der Zeit des Vollzuges der im Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 11. Oktober 2019 (205 Ds 521 Js 22555/18 - 14/19) in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 (5 Ns 21/20) angeordneten Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt auf die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 (201 Ds 1366 Js 62718/17 - 64/18) abgelehnt worden ist,

aufgehoben.

Die nach Anrechnung bis zum Zweidrittelzeitpunkt verbleibende Dauer der bezeichneten Unterbringung wird auch auf die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 (201 Ds 1366 Js 62718/17 - 64/18) angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

Die insoweit entstandenen Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

  1. 2.

    Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 29. September 2022,

durch den die Anrechnung der Zeit des Vollzuges der im Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 11. Oktober 2019 (205 Ds 521 Js 22555/18 - 14/19) in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 (5 Ns 21/20) angeordneten Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt auf die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 (213 Ds 120 Js 26784/16 - 26/17) abgelehnt worden ist,

wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

  1. 3.

    Die sofortigen Beschwerden des Verurteilten gegen die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 29. September 2022,

durch die die Vollstreckungen der verbleibenden Strafreste aus

a. dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 (201 Ds 1366 Js 62718/17 - 64/18) und

b. dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 (213 Ds 120 Js 26784/16 - 26/17)

nicht zur Bewährung ausgesetzt worden sind,

werden auf Kosten des Verurteilten als unbegründet verworfen.

Gründe

Durch Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 (213 Ds 120 Js 26784/16 - 26/17), rechtskräftig seit demselben Tage, war gegen den Verurteilten u.a. wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis eine zunächst zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt worden. Am 13. November 2018 hatte sodann das Amtsgericht Osnabrück (201 Ds 1366 Js 62718/17 - 64/18) gegen ihn mit am selben Tage rechtskräftig gewordenen Urteil wegen Diebstahls in fünf Fällen sowie Beleidigung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Monaten verhängt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Schließlich hatte ihn das Amtsgericht Osnabrück mit Urteil vom 11. Oktober 2019 (205 Ds 521 Js 22555/18 - 14/19) in Verbindung mit dem am selben Tage rechtskräftig gewordenen Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 (5 Ns 21/20) wegen Diebstahls in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt.

Der Verurteilte hatte sich zunächst nach seiner am 1. März 2019 erfolgten Festnahme bis zum 1. Mai 2019 in dem zuletzt bezeichneten Verfahren in Untersuchungshaft und anschließend vom 2. Mai 2019 bis zum 29. Oktober 2019 nach erfolgtem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung auf Grund des Urteils des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 in Strafhaft befunden. Am 30. Oktober 2019 war er sodann zur Vollstreckung der im Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im MRZVN Brauel aufgenommen worden. Seit der am selben Tage eingetretenen Rechtskraft bildete sodann das Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 die Grundlage des weiteren Maßregelvollzugs in dieser Einrichtung (§ 67f StGB).

Nachdem durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) vom 6. Oktober 2021, insoweit rechtskräftig seit dem 16. November 2021, die Unterbringung mangels konkreter Aussicht auf einen Behandlungserfolg für erledigt erklärt worden war, war der Verurteilte am 14. Oktober 2021 zurück in den Strafvollzug verlegt worden und hatte die nach Anrechnung des Maßregelvollzuges verbleibende Freiheitstrafe aus dem Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 vollständig verbüßt, bis er am 18. Februar 2022 in Ermangelung der Notierung der Anschlussvollstreckungen unter Berücksichtigung von zwei Anrechnungstagen entlassen worden war.

Die bereits mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. Januar 2022 gestellten Anträge des Verurteilten, die nach Anrechnung bis zum Zweidrittelzeitpunkt verbleibende Dauer der auf Grund des Berufungsurteils des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 vollzogenen Unterbringung auf die verbleibenden Reststrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 und vom 6. Februar 2017 anzurechnen und die danach verbleibenden Strafreste zur Bewährung auszusetzen, hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen am 29. September 2022 zurückgewiesen.

Hiergegen richten sich die am 13. Oktober 2022 angebrachten, mit Schreiben des Verurteilten vom 18. Oktober 2022 und Schriftsatz des Verteidigers vom 26. Oktober 2022 ausgeführten Rechtmittel.

Die Rechtsmittel haben lediglich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

1.

Zutreffend weist die Strafvollstreckungskammer darauf hin, dass die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mangels Erfolgsaussicht für erledigt erklärt werden musste. Damit liegt weder ein erzielter Therapieerfolg vor, noch ist dessen konkrete Gefährdung durch den Vollzug der Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 und vom 6. Februar 2017 zu besorgen. Im Hinblick hierauf sowie auf das Verhalten des Verurteilten im Vollzug stellt auch nach Auffassung des Senats der Vollzug der bezeichneten Freiheitsstrafen im Grundsatz keine unbillige Härte im Sinne von § 67 Abs. 6 StGB dar. Die Ablehnung der Anrechnung auf die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 ist daher nicht zu beanstanden.

Im Hinblick auf das Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 ist indessen vorliegend zu berücksichtigen, dass sich der Verurteilte bereits vom 30. Oktober 2019 bis zum 9. Juni 2020 zur Vollstreckung der hierdurch angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im MRZVN Brauel befunden hatte und der Fortsetzung der in diesem Urteil angeordneten Unterbringung nicht deren Beendigung auf Grund mangelnder Erfolgsaussichten, sondern die mit Rechtskraft der im Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 getroffenen Maßregelanordnung nach § 64 StGB eintretende Erledigung kraft Gesetzes gemäß § 67f StGB entgegenstand. Diese der Begrenzung der Höchstdauer der Unterbringungsdauer in einer Entziehungsanstalt dienende (vgl. LK-Rissing-van Saan/Peglau, StGB, 12. Aufl., § 67f Rz. 1) Vorschrift steht einer "gleichmäßigen" Verteilung der anrechenbaren Unterbringungsdauer auf die parallel verhängten Freiheitsstrafen entgegen, während für die Fälle der mehrfachen Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, für die § 67f StGB nicht gilt, durch die Unterbrechungsregelung in § 54 Abs. 3 StrVollstrO gerade gewährleistet wird, dass - zu gegebener Zeit, nämlich nach Erreichen des Halbstrafenzeitpunkts - auch der zweite Maßregelausspruch zur Vollstreckung gelangen und damit § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB für die neu verhängte Freiheitsstrafe ebenfalls Anwendung finden kann. Aus eben diesem Grunde ist, wenn die Voraussetzungen vorliegen, der erneute Ausspruch der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, um die Anrechenbarkeit der Zeit des Maßregelvollzuges auf die Strafe zu gewährleisten und hierdurch eine Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen (BGH, Beschluss v. 14.07.2005, 3 StR 216/05, BGHSt 50, 199). Denn in diesen Fällen ist kein rechtfertigender Grund dafür erkennbar, dem Angeklagten diese Möglichkeit der Verkürzung des von ihm insgesamt zu duldenden Freiheitsentzuges nur deswegen zu nehmen, weil er bereits auf Grund eines früheren Urteils in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist (BGH a.a.O.). Diese Überlegungen müssen - quasi spiegelbildlich - auch bei der Frage, ob im Falle der Erledigung der zunächst angeordneten Unterbringung nach § 64 StGB allein auf Grund der erneuten Anordnung gemäß § 67f StGB eine unbillige Härte im Sinne des § 67 Abs. 6 Satz 1 StGB vorliegt, Berücksichtigung finden. Denn in diesem Falle wird dem Verurteilten die Möglichkeit der Verkürzung des insgesamt hinzunehmenden Freiheitsentzuges nur deshalb genommen, weil er sich nunmehr kraft Gesetzes auf Grund einer weiteren Verurteilung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB befindet. Den in einer Entziehungsanstalt untergebrachten Verurteilten, der auf den - wie auch im vorliegenden Verfahren aus Kapazitätsgründen oftmals verzögerten - Beginn der Vollstreckung der zunächst angeordneten Unterbringung schon keinen Einfluss hatte, darauf zu verweisen, die Rechtskraft der erneuten Anordnung einer solchen Maßregel und damit den Eintritt der Wirkungen des § 67f StGB allein zum Zwecke der Anrechnungsfähigkeit auf die erste Verurteilung möglichst hinauszuzögern, erschiene demgegenüber verfehlt.

Nach alledem konnte die Ablehnung der Anrechnung in Bezug auf die Gesamtstrafe des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 keinen Bestand haben.

Aus diesem Grunde war die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer insoweit aufzuheben und anzuordnen, dass die nach Anrechnung bis zum Zweidrittelzeitpunkt verbleibende Dauer der im Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 11. Oktober 2019 (205 Ds 521 Js 22555/18 - 14/19) in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Osnabrück vom 9. Juni 2020 (5 Ns 21/20) angeordneten Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt auf die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 (201 Ds 1366 Js 62718/17 - 64/18) anzurechnen ist, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

2.

Soweit die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. November 2018 und vom 6. Februar 2017 nicht zur Bewährung ausgesetzt hat, ist dies nicht beanstanden.

Im Hinblick darauf, dass der Verurteilte auf Grund des Urteils des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 bislang lediglich vom 2. Mai 2019 bis zum 29. Oktober 2019 Strafhaft verbüßt hat und eine Anrechnung der verfahrensfremden Unterbringungsdauer auf diese Strafe nicht in Betracht kommt (vgl. 1.), ist die Mindestverbüßungsdauer insoweit noch nicht erreicht. Da über die Aussetzung von Reststrafen einheitlich zu entscheiden ist (§ 454b Abs. 4 StPO) kam eine Aussetzung beider bezeichneter Reststrafen zum jetzigen Zeitpunkt schon aus diesem Grunde nicht in Betracht.

Aber auch soweit der Antrag als für den nach erneutem Vollzugsbeginn alsbald erreichten Aussetzungszeitpunkt - jedenfalls der Halbstrafentermin wäre für die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 schon nach wenigen Tagen weiterer Strafhaft erreicht - gestellt sein sollte, käme eine Aussetzung nicht in Betracht. Denn die gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erforderlichen Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Aussetzung des Strafrestes setzt zwar keine Gewissheit künftiger Straffreiheit des Verurteilten voraus, aber ein gewisses Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit, welche im konkreten Umfang abhängig ist von dem bedrohten Rechtsgut und vom Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit. Verbleibende Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose gehen jedoch zu Lasten des Verurteilten und schließen eine Strafaussetzung aus (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 10.06.2010, III-2 Ws 143/10, bei juris Rz. 1; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 24.07.2006, 3 Ws 213/06, bei juris Rz. 9). Gemessen daran teilt der Senat die ausführlich begründete Einschätzung der Strafvollstreckungskammer, dass die Aussetzung der Strafreste nicht verantwortet werden kann.

Die Rechtsmittel geben zu einer abweichenden Entscheidung keinen Anlass. Insbesondere besteht angesichts der massiven Delinquenz des Verurteilten in der Vergangenheit und der nach wie vor bestehenden Suchtproblematik kein Anlass zu der Annahme, mit der erneuten Inhaftierung könne die Gefährdung einer - in dem der Entscheidung des Senats vom 23. März 2022 (1 Ws 40/22) zu Grunde liegenden Fall dagegen anzunehmenden - resozialisierenden Wirkung des erlittenen Strafvollzuges verbunden sein.

3.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung entspricht bezüglich der zu Nr. 1 des Tenors getroffenen Entscheidung § 467 Abs. 1 StPO. Im Übrigen folgen diese aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

4.

Soweit der Verurteilte auf seinen Antrag vom 31. August 2022, die in dem Verfahren 521 Js 22555/18 erlittene Untersuchungshaft auf die Reststrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 6. Februar 2017 anzurechnen, verweist, ist eine Beschwerdeentscheidung durch den Senat nicht veranlasst, weil hierüber bislang weder eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde noch eine gegebenenfalls nach § 458 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorliegen.