Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 10.11.2020, Az.: 3 A 407/18

Beihilfe: Hilfsmittel; Elektrodreirad

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
10.11.2020
Aktenzeichen
3 A 407/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71863
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei einem aufgrund einer starken Einschränkung des Gehvermögens ärztlich verordneten Elektrodreirad handelt es sich um ein in Anlage 7 zu § 20 NBhVO aufgeführtes Behinderten-Dreirad und nicht um ein Elektrofahrzeug, so dass die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Satz 1 NBhVO erfüllt sind. Es dient dem Ausgleich der krankheitsbedingten Behinderung des Klägers und ist kein Gegenstand, der der allgemeinen Lebenshaltung dient.

Tatbestand:

Der Kläger, der mit einem Bemessungssatz von 70 % beihilfeberechtigt ist, begehrt die Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines Elektrodreirades des Typs „Pfiff Scoobo“ samt zweier Gehstockhalter im Wege der Beihilfe.

Der Kläger beantragte am 18. Oktober 2018 die Übernahme der Kosten bezüglich der Anschaffung des Elektro-Dreirades samt zweier Gehstockhalter in Höhe von 5.000 € (vgl. den Kaufvertrag der Firma G. vom 10. Oktober 2018, Bl. 4 der BA 001). Dem Antrag fügte der Kläger eine Bescheinigung der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. H. und I. vom 17. September 2018 bei (vgl. Bl. 3 der BA 001). Darin wird ausgeführt, dass der Kläger seit vielen Jahren an einer schwer ausgeprägten Herzinsuffizienz NYHA III-IV leide. Dieser Erkrankung lägen ursächlich Herzrhythmusstörungen sowie eine hypertensive und koronare Herzerkrankung zu Grunde. Die Arteriosklerose sei darüber hinaus auch in der Peripherie stark ausgeprägt. Der Kläger leide auch an einer pAVK Stadium IV. Das letzte Ulcus cruris sei erst vor wenigen Wochen abgeheilt. Weiterhin lägen aufgrund von degenerativen und traumatisch bedingten Veränderungen der Wirbelsäule schwere Rückenschmerzen vor. Der Kläger sei multimorbide und in seiner Mobilität hochgradig eingeschränkt, weshalb man darum bitte, der Verordnung eines therapeutischen Elektrodreirades zur Mobilisierung im Alltag zuzustimmen.

Mit Schreiben vom 25. Oktober 2018, dem keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass für die Anschaffungskosten nicht beihilfefähig seien, da es sich bei dem Produkt um ein Hilfsmittel handle, dessen Aufwendungen gem. der Anlage 8 zu § 20 Abs. 1 NBhVO von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen seien. Eine vorherige Anerkennung der Beihilfefähigkeit sehe die NBhVO für Hilfsmittel nicht vor, weshalb diese Auskunft lediglich als Anhaltspunkt zur Frage der grundsätzlichen Beihilfefähigkeit diene.

Am 8. November 2018 legte der Kläger Widerspruch gegen den „Bescheid vom 25.10.2018“ ein.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2018 zurückgewiesen. Zur Begründung führt der Beklagte aus, dass es sich bei dem Produkt „Pfiff Scoobo“ um ein mit einem Elektrofahrzeug vergleichbares Produkt handle. Elektrofahrzeuge seien laut Anlage 8 zu § 20 Abs. 1 NBhVO ausdrücklich von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen. Auch bei Ausstellung einer ärztlichen Verordnung könnten die Aufwendungen für ein Elektrofahrzeug nicht als beihilfefähig anerkannt werden.

Der Kläger hat am 10. Dezember 2018 Klage erhoben. Er führt aus, dass der Beklagte im Widerspruchsbescheid ausgeführt habe, dass ein Elektrofahrzeug beihilfefähig sei, wenn die Anschaffung ärztlich verordnet sei. Dies treffe in seinem Fall zu. Ergänzend legt der Kläger eine weitere Bescheinigung der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. H. und I. vom 13. März 2019 (Bl. 10 der GA) vor, in dem ausgeführt wird, dass das Elektrodreirad ein klassisches Hilfsmittel und kein einfaches Fahrrad sei. Durch das Gefährt solle die außerhäusliche Gehbehinderung des Klägers ausgeglichen werden. Diese sei derart eingeschränkt, dass Grundbedürfnisse außerhalb der Wohnung wie tägliche Besorgungen/Behördengänge und Arztbesuche anderweitig nicht erledigt werden könnten. Ein handbetriebener Rollstuhl oder Rollator sei aufgrund der hochgradig eingeschränkten Belastbarkeit des Klägers (Herzschwäche/Lungenerkrankung/Durchblutungsstörung) keine Alternative. Der Kläger sei geistig und aufgrund seiner Restgehfähigkeit auch körperlich in der Lage, das Elektrodreirad sicher zu führen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2018 zu verurteilen, dem Kläger einen Beihilfebemessungssatz von 70 vom 100 für die Aufwendungen für den Erwerb eines Elektrodreirades „Pfiff Scoobo“ zu einem Gesamtanschaffungspreis in Höhe von 5.000,00 €, mithin eine Beihilfe von 3.500,00 € zu bewilligen und nach Vorlage einer entsprechenden Rechnung auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf seine Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und trägt ergänzend vor, dass es sich bei dem Elektrodreirad um ein „Fahrrad“ und nicht um ein Hilfsmittel im Sinne des § 20 NBhVO handle. Dies zeige bereits der Kostenvoranschlag eines „Zweiradhauses“. Bei dem Gefährt handle es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Das Elektrodreirad könne grundsätzlich von jedermann gefahren werden. Es handle sich nicht um ein speziell auf die Bedürfnisse gesundheitlich eingeschränkter oder behinderter Menschen konzipiertes Fortbewegungsmittel. In der Grundausstattung scheine das Rad eher für nicht beeinträchtigte bzw. behinderte Menschen gedacht zu sein. Die Ausstattung mit Elektromotor lasse darauf schließen, dass das Rad für alle Probleme der Bewegungseinschränkung entwickelt worden sei. Das nachvollziehbare Bedürfnis des Klägers nach Erhalt seiner Mobilität und Selbstständigkeit sei nicht ausschlaggebend für eine Beihilfeleistung. Ein Hilfsmittel komme nur dann in Betracht, wenn die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die es mildern solle, nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich, sondern im gesamten täglichen Leben bestünden. Im Fall des Klägers sei jedoch ausdrücklich auf die allgemeine Mobilisierung im Alltag, nämlich im Rahmen der außerhäusigen Fortbewegung, hingewiesen worden. Selbst diese Außer-Haus-Beweglichkeit werde aber nur auf einen bestimmten Radius begrenzt sein.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist begründet. Die Ablehnung der Anerkennung der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für das Elektrodreirad „Pfiff Scoobo“ ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen subjektiv öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Vorausgeschickt sei, dass das Schreiben vom 25. Oktober 2018, dem keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war und das der Beklagte auch als bloße Auskunft tituliert hat, durch den in der Folge erlassenen Widerspruchsbescheid zum Bescheid geworden ist. Die Durchführung eines weiteren Vorverfahrens war daher nicht erforderlich. § 68 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO ist auf diese Fälle entsprechend anzuwenden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 68 Rn. 20). Überdies hat der Beklagte den Kläger in der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides selbst auf den Klageweg verwiesen, so dass die erneute Durchführung eines Vorverfahrens auch vor diesem Hintergrund nicht erforderlich war (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 36).

Die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für das Elektrodreirad „Pfiff Scoobo“ richtet sich nach § 20 Abs. 1 NBhVO. Nach dessen Satz 1 sind die notwendigen und angemessenen Aufwendungen für die Anschaffung der in der Anlage 7 genannten Hilfsmittel, Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle sowie Körperersatzstücke unter den in der Anlage 7 genannten Voraussetzungen und bis zu den dort genannten Höchstbeträgen beihilfefähig, wenn die Anschaffung ärztlich verordnet und erforderlich ist, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Hingegen sind nach § 20 Abs. 1 Satz 3 NBhVO Aufwendungen für die Anschaffung, die Reparatur, den Betrieb, die Unterweisung in den Gebrauch und die Unterhaltung der in der Anlage 8 genannten Hilfsmittel und Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle nicht beihilfefähig. Die notwendigen und angemessenen Aufwendungen für die Anschaffung eines Hilfsmittels oder eines Gerätes zu Selbstbehandlung und Selbstkontrolle, das weder in der Anlage 7 noch in der Anlage 8 aufgeführt ist, sind nach § 20 Abs. 1 Satz 4 NBhVO beihilfefähig, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und es mit einem in der Anlage 7 genannten Hilfsmittel oder Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle vergleichbar ist und die dort genannten Voraussetzungen vorliegen (Nr. 1) oder die Beihilfefähigkeit im Hinblick auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn nach § 45 BeamtStG geboten ist (Nr. 2).

Bei dem ärztlich verordneten Elektrodreirad handelt es sich um ein in Anlage 7 zu § 20 NBhVO aufgeführtes Behinderten-Dreirad, so dass die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Satz 1 NBhVO erfüllt sind. Es dient dem Ausgleich der krankheitsbedingten Behinderung des Klägers und ist entgegen der Ansicht des Beklagten kein Gegenstand, der der allgemeinen Lebenshaltung dient.

Das verordnete Elektrodreirad ist in seiner Zweckrichtung und Funktion, dem Kläger den Nahbereich seiner Wohnung zu erschließen, diese hierzu zu verlassen und die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte, zu denen das Einkaufen von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens gehört, zu erledigen, ein Behindertendreirad.

Nach Ansicht der Kammer ist das Elektrodreirad aufgrund seiner Konzeption und seinem Erscheinungsbild auch ein Behindertendreirad und kein Elektrofahrzeug, das in der „Negativliste“ der Anlage 8 aufgeführt ist. Ein Kennzeichen ist für die Teilnahme am Straßenverkehr nicht erforderlich. Die Tatsache, dass das Dreirad elektrobetrieben ist, schließt die Einordnung als sog. Behindertendreirad nicht aus. Der Produktbeschreibung des „Pfiff Scoobo“ (https://www.pfiff-vertrieb.de/?site=Produktanzeige&produktid=116, abgerufen am 14. Oktober 2020) zufolge ist dieser „für jeden intuitiv einfach zu bedienen“, verfügt über einen „noch tieferen“ Einstieg, der das Auf- und Absteigen erleichtert. Es wird explizit darauf hingewiesen, dass zum Anhalten lediglich ein Fuß vom Pedal genommen werden muss und der Boden im Sitzen erreicht werden kann. Diese Beschreibung und auch der in Relation zu einem „normalen“ Elektrorad vergleichsweise hohe Preis des Dreirades lassen erkennen, dass dieses für den besonderen Bedarf von Menschen mit Behinderungen entwickelt worden ist. Die Herstellerfirma „PFAU-Tec“ ist auf dem Gebiet der Reha-Technik tätig, was ebenfalls für einen eingeschränkten Käuferkreis spricht. Der Nutzungsvorteil des „Pfiff Scoobo“ liegt darin, dass er über drei Räder verfügt und damit auch von Menschen mit gesundheitsbedingten Einschränkungen wie dem Kläger gefahren werden kann. Der Elektromotor erleichtert in diesem Zusammenhang lediglich die Fortbewegung und ist ausweislich der ärztlichen Bescheinigungen für den Kläger unabdingbar. Ein spezielles „Behinderten-Dreirad“ ist überdies soweit für die Kammer nach einer Internetrecherche ersichtlich im Handel nicht erhältlich. Die Verwendung des Begriffes „Behinderten-Dreirad “ in der Positivliste in der Anlage 7 zu § 20 Abs. 1 NBhVO lässt auch nicht erkennen, dass zwingend eine individuell im Hinblick auf die Behinderung angefertigte Konstruktion vorliegen muss, die in dieser Sonderanfertigung von gesunden Menschen nicht genutzt werden kann.

Der „Pfiff Scoobo“ kann auch nicht als Gegenstand, der der allgemeinen Lebenshaltung unterliegt, angesehen und deshalb als nicht beihilfefähiges Hilfsmittel eingestuft werden. Hilfsmittel dienen dann der allgemeinen Lebenshaltung, wenn sie üblicherweise herangezogen werden, um die „Unbequemlichkeiten“ des Lebens zu erleichtern und sie aufgrund der objektiven Eigenart und Beschaffenheit des Gegenstandes keinen unmittelbaren Bezug zu dem festgestellten Krankheitsbild haben (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 15. Dezember 1999 – 2 A 112/98 -, juris).

Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass das Elektrodreirad auch im „normalen“ Zweiradhandel angeboten wird. Die soeben wiedergegebenen Produktbeschreibungen des Herstellers und die Tatsache, dass das Produkt als solches der medizinischen Rehabilitation angeboten wird, zeigt jedoch, dass vornehmliche Zielgruppe für dieses Gerät nicht der gesunde, sondern der krankheitsbedingt in der Bewegung deutlich eingeschränkte Mensch ist. Für ihn wird ein Gerät angeboten, das die Mobilität verbessert und fördert. Dass der „Pfiff Scoobo“ eventuell auch unter Senioren oder wenig Gehbehinderten Käufer findet, führt zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Denn daraus kann nicht auch auf eine übliche Benutzung eines solchen Gerätes durch Gesunde im Rahmen der allgemeinen Lebensführung geschlossen werden. Als Gegenstand, der der der allgemeinen Lebenshaltung unterliegt, ist das Dreirad deshalb nicht anzusehen. Es ist vielmehr als beihilfefähiges Hilfsmittel, und zwar als ein Behindertendreirad, einzustufen.

Bei dem bei dem Kläger diagnostizierten multimorbiden Krankheitsbild dient der „Pfiff Scoobo“ auch nicht lediglich dazu, die „Unbequemlichkeiten“ des Lebens zu erleichtern, sondern er tritt an die Stelle nicht mehr oder nicht voll funktionstüchtiger Körperorgane. Erst das Elektrodreirad ermöglicht es dem Kläger ausweislich der ärztlichen Stellungnahmen, seine Wohnung ohne fremde Hilfe zu verlassen und Strecken im Nahbereich zur Wohnung ohne fremde Hilfe zurückzulegen, sich also vornehmlich im Freien ohne Begleitperson zu bewegen. Diese Möglichkeit kann – wie bereits ausgeführt – dem Grundbedürfnis des Menschen nach einem gewissen körperlichen Freiraum zugeordnet werden.

Es sind auch die weiteren Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 20 Abs. 1 Satz 1 NBhVO erfüllt. Die Anschaffung des Elektrodreirads ist - wie bereits ausgeführt- ärztlich verordnet und ausweislich der von dem Beklagten nicht angegriffenen ärztlichen Stellungnahmen auch erforderlich, um die bestehende Behinderung des Klägers auszugleichen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.