Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 28.04.2011, Az.: 1 B 10/11

01. Mai; Koalitionsfreiheit; Maifeiertag; Sonn- und Feiertagsruhe; verkaufsoffener Sonntag

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
28.04.2011
Aktenzeichen
1 B 10/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 45225
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Koalitionsfreiheit der Antragstellerin gem. Art. 9 III GG wird durch die Entscheidung der Antragsgegnerin, am 01. Mai einen verkaufsoffenen Sonntag zu veranstalten, berührt, weil die Sonn- und Feiertage, vgl. Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV, auch ihrem Schutz dient (in Anlehnung an BVerfG, Urt. v. 01.12.2009, 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07). Gerade an einem 01. Mai würde sich ein verkaufsoffener Sonntag auf die Rahmenbedingungen des Wirkens von Gewerkschaften und auf die Abhaltung von Versammlungen auswirken. Daraus folgt die Antragsbefugnis der Antragstellerin.
2. Bei Anwendung des § 5 I 1 NLöffVZG als Soll-Vorschrift muss die Besonderheit des 01. Mai als Tag der Gewerkschaften und Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Entsprechende Ermessenserwägungen müssen angestellt werden. Reine Erwerbsinteressen oder Kirmestraditionen wären mutmaßlich nicht geeignet, den Besonderheiten des Maifeiertages gerecht zu werden.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Ladenöffnung im Stadtgebiet der Antragsgegnerin am Sonntag, den 01. Mai 2011.

Der Beigeladene beantragte am 12.01.2011 bei der Antragsgegnerin die "Konzession" für vier verkaufsoffene Sonntage in 2011, u.a. für den 01. Mai. Mit Bescheid vom 17.01.2011 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen, zu deren Vorstand der Bürgermeister sowie der Erste Stadtrat der Antragsgegnerin gehören, entsprechend seinem Antrag die Genehmigung zur Öffnung aller Verkaufsstellen im Stadtgebiet an den beantragten Terminen, u.a. für den 01. Mai 2011 von 13:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Im Rahmen der Begründung verwies die Antragsgegnerin auf die Soll-Vorschrift des § 5 I 1 NLöffVZG sowie darauf, dass die Anlassbezogenheit einer solchen ausnahmsweisen Öffnung gesetzlich nicht mehr bestimmt sei, so dass sich die Ermessensentscheidung nicht auf ein besonderes Ereignis zu konzentrieren habe. Weitere Ausführungen zur Begründung enthielt der Bescheid nicht.

Am 19.04.2011 hat die Antragstellerin Klage gegen diesen Bescheid (1 A 102/11) erhoben. Mit Datum vom 20.04.2011 hat der Beigeladene bei der Antragsgegnerin die "Aufrechterhaltung des verkaufsoffenen Sonntags (01. Mai 2011)" beantragt. Am 22.04.2011 hat die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehbarkeit ihres Bescheides vom 17.01.2011 angeordnet. Sie begründet dies damit, dass sich sowohl die überwiegende Anzahl der Kaufleute als auch die Verbraucher den 01. Mai trotz seiner Bedeutung als Tag der Arbeit als verkaufsoffenen Sonntag wünschen würden. Dieses Interesse beruhe darauf, dass traditionell - seit mehr als 20 Jahren - anlässlich der Frühjahrskirmes der erste Sonntag im Mai verkaufsoffen sei. Auch zahlreiche auswärtige Besucher würden dieses Angebot nutzen. Eine Mitteilung der Terminsverschiebung sei in der Kürze der Zeit nicht mehr möglich. Folge wäre ein Imageschaden des Wirtschaftsstandorts Lingen. Zudem sei mit erheblichen finanziellen Einbußen zu rechnen, da bereits eine groß angelegte Werbekampagne für den verkaufsoffenen Sonntag am 01. Mai durchgeführt worden sei. Zudem fände die Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 01. Mai 2011 bereits um 11:30 Uhr in Lingen statt. Da die Geschäfte lediglich von 13:00 Uhr bis 18:00 Uhr geöffnet seien, käme es zu keiner Kollision. Den Arbeitnehmerinteressen wäre damit genüge getan. Schließlich falle der 1. Mai gerade nicht unter den besonderen Schutz des § 5 I 2 NLöffVZG, so dass ein Verkauf an diesem Tag vom Gesetzgeber gerade nicht von vornherein ausgeschlossen worden sei.

Die Antragstellerin hat am 26.04.2011 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Sie meint, die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei bereits deshalb rechtswidrig, weil die Rechtsgrundlage der Genehmigung, § 5 I NLöffVZG, verfassungswidrig sei. Eine Öffnung von Geschäften an Sonntagen sei nur dann ausnahmsweise mit Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV vereinbar, wenn dafür hinreichend gewichtige Sachgründe vorlägen. Gesetzliche Regelungen, die ein Öffnen an Sonn- und Feiertagen gestatten, müssten daher zwingend Voraussetzungen von Öffnungsgenehmigungen vorsehen. Eine voraussetzungslose Regelung - wie die in Niedersachsen - verstoße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und sei verfassungswidrig. Zudem verbiete die in Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2009 (1 BvR 2857/07 u. 1 BvR 2858/07) bestehende Bindungswirkung gem. § 31 I BVerfGG die Anwendung von § 5 I NLöffVZG. Im Rahmen einer Interessenabwägung könne sich die Antragstellerin auf den verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsschutz sowie auf Art. 9 GG berufen, da der Sonn- und Feiertagsschutz auch die Vereinigungsfreiheit konkretisiere. Gerade der 1. Mai sei für die Antragstellerin von ganz besonderer Bedeutung und daher im Zusammenspiel von Art. 9 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV verstärkt zu berücksichtigen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.01.2011 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie trägt ergänzend vor, dass § 5 NLöffVZG durch das Zusammenspiel zwischen § 5 I 1 NLöffVZG und § 5 I 2 NLöffVZG dem grundsätzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnis genügend Rechnung trage und das Gesetz daher verfassungsgemäß sei. Im Rahmen der Abwägung überwögen ihre Interessen, da die Veranstaltung der Antragstellerin bereits um 11:30 Uhr beginne. Für die Antragsgegnerin bestände daher keine Gefahr eines Schadenseintritts, wenn der verkaufsoffene Sonntag von 13:00 Uhr bis 18:00 Uhr stattfinden würde. Die Antragsgegnerin weist darauf hin, dass auch in den Gemeinden D. und E. am 01. Mai verkaufsoffene Sonntage festgesetzt wären. Konsequenterweise hätte die Antragstellerin auch hiergegen vorgehen müssen. Mit einer Absage des verkaufsoffenen Sonntages müssten insbesondere die holländischen Gäste enttäuscht werden, die aufgrund der Werbung sowie der langjährigen Tradition mit dieser Veranstaltung rechnen würden. Die Konstellation, dass ein 01. Mai auf einen Sonntag falle, habe es zuletzt 2005 gegeben, wobei es damals zu keinerlei Einwänden gekommen sei. Würde die Kirmes ohne den verkaufsoffenen Sonntag stattfinden, wäre die Resonanz der Besucher schlechter. Möglicherweise sei langfristig sogar mit einem "Einschlafen" der Tradition der Frühjahrskirmes zu rechnen. Schließlich weist die Antragsgegnerin auf eine Verordnung der Antragsgegnerin zur Festsetzung der Verkaufszeiten für Verkaufsstellen aus Anlass der Jahrmärkte aus 1959 hin. Nach § 1 dieser Verordnung dürften Verkaufsstellen an den Kirmestagen - und zwar jedenfalls am ersten Sonntag in den Monaten Mai und Oktober jeden Jahres - geöffnet sein.

Vom Beigeladenen, vgl. Beschluss vom 26.04.2011, wurde kein Antrag gestellt.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80a I Nr. 1 VwGO i.V.m. § 80 V 1 Var. 2 VwGO ist zulässig.

Die Antragstellerin ist insbesondere antragsbefugt. Antragsbefugt ist im Verfahren des § 80 V VwGO im Hinblick auf die Akzessorietät des vorläufigen Rechtsschutzes nur derjenige, der hinsichtlich des Verwaltungsakts im Hauptsacheverfahren gem. § 42 II VwGO wegen der Möglichkeit einer Rechtsverletzung klagebefugt ist (vgl. Kopp/ Schenke, Kommentar zur VwGO, 16. Auflage, § 80, Rn. 134 m.w.N.). Die Antragstellerin kann sich für die Möglichkeit einer Verletzung ihrer subjektiven Rechten auf ihre Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 III 1 GG, die einen Spezialfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 I GG darstellt (vgl. Maunz/ Dürig - Scholz, Kommentar zum GG, Stand: 01/2011, Art. 9, Rn. 154), berufen. Gem. Art. 19 III GG gelten Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Art. 9 III G ist hiernach nicht nur auf die Mitglieder von Gewerkschaften, sondern auch auf Gewerkschaften selbst, d.h. u.a. auf die Antragstellerin, anwendbar (vgl. zu Art. 9 I GG: BVerfG, Beschl. v. 18.10.61, 1 BvR 730/57, juris Rn. 5; zu Art. 9 III GG: BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, 1 BvR 601/92, juris Rn. 18). Die Koalitionsfreiheit der Antragstellerin wird durch die Entscheidung der Antragsgegnerin, am 01. Mai 2011 einen verkaufsoffenen Sonntag zu veranstalten, berührt, weil die Sonn- und Feiertagsruhe, vgl. Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV, auch ihrem Schutz dient. Die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen wirkt sich nämlich auch auf die Rahmenbedingungen des Wirkens von Gewerkschaften und auf die Abhaltung von Versammlungen aus (vgl. BVerfG, Urt. v. 01.12.2009, 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07, juris Rn. 144 f.; Sächsisches OVG, Beschl. v. 01.11.2010, 3 B 291/10, juris Rn. 22). Die Ladenöffnung an einem 01. Mai konterkariert gerade die Bemühungen gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer im Hinblick auf die veränderten Bedingungen der Arbeitswelt.

Die Antragstellerin hat hinreichend konkret dargetan, dass es am 01. Mai 2011 wegen der traditionellen Versammlungen an diesem Datum - in Lingen ist ab 11:30 Uhr eine zentrale Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes geplant, dessen Mitglied die Antragstellerin ist - zu einer Kollision kommen kann. So vertritt die Antragstellerin auch die im Handel Beschäftigten, die zumindest teilweise an einem solchen verkaufsoffenen Sonntag arbeiten müssten. Die Berufung auf eine Störung oder Behinderung von gewerkschaftlich organisierten Veranstaltungen durch die Ladenöffnung an diesem besonderen Tag ist auch nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich, da der Termin für diese Kundgebungen jedes Jahr auf den 01. Mai gelegt wird und damit auch in diesem Jahr lediglich einer allgemein - und sicherlich auch der Antragsgegnerin - bekannten Tradition gefolgt wird. Die Antragsgegnerin hat damit eine Terminkollision sehenden Auges in Kauf genommen. Die Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 III GG schützt dabei auch solche Betätigungen, die darauf gerichtet sind, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, 1 BvR 601/92, juris Rn. 18). Die geplante Veranstaltung am 01. Mai 2011 soll neben der Mitgliederwerbung, welche ebenfalls zu den geschützten Tätigkeiten einer Koalition zählt (BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, 1 BvR 601/92, juris Rn. 19), insbesondere den Zweck verfolgen, auch auf die von der Antragstellerin kritisierten Arbeitsumstände aufmerksam zu machen. Mit einem verkaufsoffenen Sonntag am "Tag der Arbeit", an dem zum einen die Mitglieder der Antragstellerin zumindest teilweise aufgrund ihrer Arbeitsverpflichtungen am Besuch gewerkschaftlicher Veranstaltungen gehindert sind und zum anderen die geplante Kundgebung für Nichtmitglieder möglicherweise an Anziehungskraft dadurch verliert, dass das Geschäftstreiben in der Stadt eine attraktive Konkurrenzveranstaltung bietet, ist dieser durch Art. 9 III GG geschützte Bereich zumindest gefährdet.

Die im Rahmen des § 80a I Nr. 1 VwGO i.V.m. § 80 V 1 Alt. 2 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollziehungsinteresse und dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin fällt zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Nach summarischer Prüfung bestehen Erfolgsaussichten in der Hauptsache, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung vom 17.01.2011 gegeben sind.

Nach § 5 I 1 NLöffVZG soll die zuständige Behörde auf Antrag der überwiegenden Anzahl der Verkaufsstellen eines Ortsbereichs oder einer den örtlichen Einzelhandel vertretenden Personenvereinigung zulassen, dass Verkaufsstellen unabhängig von der Regelung des § 4 NLöffVZG an Sonn- und Feiertagen öffnen dürfen; die Öffnung darf im Jahr in Ausflugsorten an insgesamt höchstens acht und in anderen Orten an insgesamt höchstens vier Sonn- und Feiertagen und jeweils höchstens für die Dauer von fünf Standen zugelassen werden.

Diese Fassung des § 5 geht zurück auf das Gesetz über die Ladenöffnungszeiten, wie es ursprünglich im Gesetzentwurf der Fraktion der CDU und FDP vom 01.11.2006 (LT-Drs. 15/3276) vorgesehen gewesen ist. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs sollte dieser an der Sonn- und Feiertagsruhe aus religiösen, kultur- und familienpolitischen Gründen sowie zur Gewährleistung des arbeitsfreien Sonn- und Feiertags für die Beschäftigten festhalten. Abweichungen von diesem Grundsatz sollten nur in Ausnahmefällen und unter Abwägung der vorhandenen und allgemein anerkannten Freizeitbedürfnisse in der Bevölkerung mit den Schutzinteressen der Beschäftigten möglich bleiben (LT-Drs. 15/3276, S. 5). Dabei sollte auch der soziale Arbeitsschutz für Beschäftigte und Verkaufsstelleninhaber sichergestellt werden und Ausnahmefälle unter Beachtung des Sonn- und Feiertagsschutzes angemessen berücksichtigt werden können. Betont wird, dass unter Abwägung aller Interessen ein hinreichendes Niveau des Sonn- und Feiertagsschutzes zu gewährleisten sei (LT-Drs. 15/3276, S. 7).

Mit den in der Ursprungsfassung vorgesehenen Bestimmungen zu § 5 Abs. 1 NLÖffVZG war der Schutz der kirchlichen Feiertage stärker als nach bisherigem Recht gewährleistet. Auf eine in der Vergangenheit geforderte Anlassbezogenheit wurde durch den Gesetzentwurf bewusst verzichtet, weil die Pflege traditioneller Anlässe, aber auch die Einführung neuer Anlässe nicht unumstritten gewesen sei (LT-Drs. 15/3276, S. 11). Dieser Verzicht auf Anlassbezogenheit ist Gegenstand der Erörterung in der 1. Plenarberatung gewesen (Frauke Heiligenstadt, 104. Plenarsitzung am 09.11.2006, LT-Drs. 15/104, S. 12154).

§ 5 NLÖffVZG ist dann aufgrund der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit (LT-Drs. 15/3578, S. 5) in der Form des Nds. Gesetzes über Ladenöffnungs- und Verkaufszeiten vom 08.03.2007 in die geltende gesetzliche Fassung eingemündet. Dabei soll nach dem schriftlichen Bericht der Berichterstatterin (LT-Drs. 15/3610, S. 2) der verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Sonn- und Feiertage im erforderlichen Umfang weiter gewährleistet worden sein. Die Änderung des § 5 NLÖffVZG sollte zum einen der Vereinfachung des Verfahrens dienen, nach dem statt einer Vielzahl von Verkaufsstellen in einem Ortsbereich auch ein Antrag durch eine den örtlichen Einzelhandel vertretende Vereinigung zugelassen wurde, zum anderen der redaktionellen Bereinigung dienen.

§ 5 I 1 NLöffVZG ist als Soll-Vorschrift ausgeformt, das bedeutet, dass für den Regelfall eine bestimmte Rechtsfolge vorgegeben ist. Die Entscheidung ist intendiert, so dass es in der Regel keiner weitergehenden Begründung bedarf, wenn die für den Regelfall vorgesehene Rechtsfolge angeordnet wird (BVerwG, Urt. v. 25.09.1992, 8 C 68/90, 8 C 70/90, juris Rn. 31). Die Behörde muss aber immer auch prüfen, ob es sich bei dem zu prüfenden Sachverhalt um einen Regelfall handelt. Die Ermessensermächtigung steht bei einer Soll-Vorschrift unter der Bedingung, dass ein atypischer Fall vorliegt (BVerwG, Urt. v. 02.07.1992, 5 C 39/90, juris Rn. 15). Ob ein atypischer Fall vorliegt, unterliegt als Rechtsvoraussetzung für die Ermessensentscheidung einer vollständigen gerichtlichen Überprüfung (BVerwG, Urt. v. 17.09.1987, 5 C 26/84, juris Rn. 12 ff.). In den Fällen, in denen ein atypischer Sachverhalt vorliegt, ist der zuständigen Behörde bei einer Entscheidung gem. § 5 I NLöffVZG in drei Punkten Ermessen eingeräumt: 1. Soll der Sonn- und Feiertagsschutz durch eine Ausnahme an Sonntagen durchbrochen werden? 2. An wie vielen Sonntagen soll dies geschehen? 3. Welche Sonntage sollen verkaufsoffen gehalten werden?

Unabhängig von der Frage, ob eine solche Soll-Vorschrift den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV an eine Ladenöffnung an einem Sonn- oder Feiertag stellt (vgl. BVerfG, Urt. v. 01.12.2009, 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07; Sächsisches OVG, Beschl. v. 01.11.2010, 3 B 291/10), genügt - insbesondere da das Antragsrecht hier der überwiegenden Anzahl der Verkaufsstellen obliegt und damit überwiegend gewerbliche Interessen berücksichtigt werden -, hat die Antragsgegnerin einen atypischen Fall für den 01. Mai 2011 noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Die Antragsgegnerin hat sich gemäß ihres Bescheides vom 17.01.2011 vielmehr an die gesetzliche Rechtsfolge gebunden gefühlt und gar kein Ermessen ausgeübt. Zieht die Verwaltung die Regelrechtsfolge ohne selbständige Ermessensüberlegung heran, weil sie die atypische Gestaltung des Sachverhalts nicht erkennt, erfüllt sie die Voraussetzung einer Ermessensunterschreitung (Sodan/ Ziekow - Wolff, Kommentar zur VwGO, 3. Auflage 2010, § 114, Rn. 141). Ein solcher Ermessensfehler liegt hier vor. Die Antragsgegnerin hätte § 5 I 1 NLöffVZG im Lichte der Verfassung auslegen und insbesondere eine Abwägung zwischen den Interessen der Gewerkschaften sowie deren Mitgliedern und denen der Gewerbetreibenden sowie der Bürger vornehmen müssen. Eine Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 17.01.2011 folgt daher voraussichtlich bereits aus § 114 Satz 1 VwGO. Eine mögliche Ergänzung gem. § 114 S. 2 VwGO kommt nicht in Betracht, da das Ermessen bisher noch gar nicht ausgeübt wurde (vgl. Kopp/ Schenke, Kommentar zur VwGO, 16. Auflage, § 114, Rn. 50). Die für die Anordnung der sofortigen Vollziehung von der Antragsgegnerin angeführten Gründe können daher als Ergänzung zu dem Ausgangsbescheid vom 17.01.2011 nichts an seiner Rechtswidrigkeit ändern. In der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 22.04.2011 hat die Antragsgegnerin den Ausgangsbescheid auch nicht aufgehoben und ihr Ermessen ausgeübt.

Daneben bestehen jedoch auch erhebliche Bedenken gegen die Entscheidung der Antragsgegnerin in der Sache. So spricht nach Überzeugung der Kammer viel dafür, dass zumindest in der vorliegend zu entscheidenden Konstellation ein atypischer Fall vorliegt, der es rechtfertigt zu Gunsten der Koalitionsfreiheit von der Soll-Rechtsfolge des § 5 I 1 NLöffVZG abzuweichen.

Die Vorschrift des § 5 I 1 NLöffVZG nennt keine ausdrücklichen materiellen Voraussetzungen für die Ladenöffnung an Sonn- bzw. Feiertagen. Dem vom Bundesverfassungsgericht geforderte Regel-Ausnahme-Prinzip (vgl. BVerfG, Beschl. v. 01.12.2009, 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07, juris Rn. 157 f.) wird in der Norm lediglich dadurch Rechnung getragen, dass eine Ladenöffnung grundsätzlich nur an bis zu vier Sonn- bzw. Feiertagen möglich ist und an besonderen Feiertagen, vgl. § 5 I 2 NLöffVZG, eine Öffnung von Gesetzes wegen ausgeschlossen ist. So sollte das Grundsatz-/ Ausnahmeverhältnis gewahrt bleiben (LT-Drs. 15/3276, S. 5). Die Regelung ist daher enger gefasst als die vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte Vorschrift des Landes Berlin. Trotz verfassungsrechtlicher Bedenken muss eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der niedersächsischen Regelung vorliegend jedoch nicht getroffen werden. Vielmehr ist eine verfassungskonforme Auslegung möglich, indem man das für den atypischen Fall vorgesehene Ermessen erkennt, im Rahmen des verbleibenden Ermessens eine Abwägung vornimmt und dabei insbesondere die Wertung der Sonn- und Feiertagsruhe sowie die besondere Bedeutung des 01. Mai berücksichtigt.

Der im Hauptsacheverfahren angefochtene Bescheid lässt keine Ermessenserwägungen erkennen; solche wären aber geboten gewesen, weil die Soll-Regelung wegen der besonderen Bedeutung des Maifeiertages eine atypische Situation darstellt: Dieser Tag ist für einen wesentlichen gesellschaftlich relevanten Personenzusammenschluss gerade kein Sonntag wie jeder andere, der als solcher schon schutzwürdig ist - er ist für Gewerkschaften und gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (und nicht nur für diese) ein quasi sinnstiftender Tag, Gelegenheit und Anlass die Verbundenheit unter dem Eindruck veränderter Anforderungen und Rahmenbedingungen abhängig Beschäftigter zu suchen und nach außen erkennbar zu machen.

Art. 9 III GG schützt die Koalitionen - wie die Antragstellerin - in ihrem Bestand und ihrer organisatorischen Ausgestaltung sowie solche Betätigungen, die darauf gerichtet sind, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. In der Werteordnung des Grundgesetzes nimmt die Koalitionsfreiheit einen hohen Rang ein. Sie dient dem Schutz vor Ausbeutung und Fremdbestimmung und trägt insofern zur Wahrung der Menschenwürde und zu freien Entfaltung der Persönlichkeit bei (BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, 1 BvR 601/92, juris Rn. 18 ff.). Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Damit ist zwar nicht jede Einschränkung von vornherein ausgeschlossen. Sie kann durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte gerechtfertigt sein. Eine Einschränkung von Art. 9 III GG wäre möglich, wenn die Gewerbe- und Berufsfreiheit des Beigeladenen sowie seiner Mitglieder und die Einkaufsinteressen der Bürger höher wögen als das Koalitionsrecht der Antragstellerin. Dies ist aber wegen der aufgezeigten Bedeutung des 01. Mai nicht der Fall.

Die Entscheidung verletzt den Beigeladenen nicht in seinen Rechten aus Art. 14 I GG. Soweit der Beigeladene in seinem Antrag auf "Aufrechterhaltung des verkaufsoffenen Sonntags" und die Antragsgegnerin in ihrer Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung vorbringen, dass die angelaufenen Werbekampagnen mit erheblichen Kosten verbunden seien und daher finanzielle Einbußen in Kauf genommen werden müssten, führt das nicht zu einer anderen Bewertung. Denn die Beteiligten hätten bei Planung und Auswahl des verkaufsoffenen Sonntags am 01. Mai 2011 damit rechnen können und müssen, dass die Gewerkschaften an diesem Tag - wie in jedem Jahr - ihre Rechte aus Art. 9 III GG wahrnehmen und - ggf. mit gerichtlicher Hilfe - versuchen werden, diese auch durchzusetzen. Hinsichtlich möglicherweise vergebener Umsatzchancen ist auf den Schutzbereich des Art. 14 GG hinzuweisen: Dieser erfasst nicht die allgemeinen Gegebenheiten und Chancen, innerhalb derer der Unternehmer seine Tätigkeit entfaltet, auch wenn sie für das Unternehmen und seine Rentabilität von erheblicher Bedeutung sind; bloße Gewinnchancen und Verdienstmöglichkeiten werden von Art. 14 I GG nicht geschützt. Der Erwerb ist allein vom Schutzbereich des Art. 12 GG umfasst, während der Schutz des Erworbenen Art. 14 GG unterfällt (Maunz/ Dürig - Papier, Kommentar zum GG, Stand: 01/2011, Art. 14, Rn. 222).

Die Entscheidung verletzt den Beigeladenen jedoch auch nicht in seiner durch Art. 12 I GG geschützten Berufsfreiheit. Das Verbot der Öffnung am 01. Mai 2011 greift zwar in den Schutzbereich des Beigeladenen als Vertretung der Gewerbetreibenden im Gebiet der Antragsgegnerin ein. Es handelt sich hierbei um eine Berufsausübungsregelung, die grundsätzlich bereits durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls legitimiert wird (BVerfG, Urt. v. 09.04.2004, 1 BvR 636/02). Die Gewährleistung der Sonn- und Feiertagsruhe auch zur Wahrnehmung von gewerkschaftlichen Interessen stellt für das Verbot der Öffnung von Verkaufsgeschäften an einem Sonn- bzw. Feiertag einen solchen legitimen Zweck dar, da es sich bei der Koalitionsfreiheit um ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut, vgl. Art. 9 III GG i.V.m. Art. 140 GG, Art. 139 WRV, handelt.

Dies gilt zumindest für den hier zu entscheidenden Fall des 01. Mai 2011. Dieser Tag wird zwar nicht von § 5 I 2 NLöffVZG als allgemeine Ausnahme von der Sonn- und Feiertagsregelung ausgeschlossen. In dieser gesetzlichen Regelung sind lediglich kirchliche Feiertage ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat es daher nicht von vornherein verboten, am 1. Mai die Geschäfte zu öffnen. Die Bedeutung dieses Feiertages muss jedoch bei den Ermessenserwägungen in § 5 I 1 NLöffVZG berücksichtigt werden. Der 01. Mai ist seit 1933 gesetzlicher Feiertag in Deutschland. Er ist in allen 16 Bundesländern als Feiertag und "Tag der Arbeit" in seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung anerkannt und soll den Arbeitnehmern die Möglichkeit bieten, sich für bessere Arbeitsbedingungen stark zu machen. An einem solchen Tag mit einer entsprechenden Gegenveranstaltung die Bedeutung dieses Feiertages einzuschränken, steht in keinem Verhältnis zu den Vorteilen, die die Antragsgegnerin sowie der Beigeladene bei Durchführung des verkaufsoffenen Sonntags sehen. So muss die Tradition, dass der verkaufsoffene Sonntag der Antragsgegnerin seit mehr als 20 Jahren am Wochenende der Lingener Frühjahrskirmes, d.h. am ersten Maiwochenende, stattfindet, hinter den Interessen der Gewerkschaften und Arbeitnehmern zurückstehen. Die Antragsgegnerin hätte die Kirmes im Vorfeld zum einen auch auf das zweite Wochenende im Mai verlegen können. Zum anderen wäre ein Auseinanderfallen von verkaufsoffenem Sonntag und der städtischen Kirmes jeweils in den Jahren, in denen der 01. Mai auf einen Sonntag fällt, hinnehmbar und sicherlich auch von den Einwohnern bzw. Gästen nachzuvollziehen. Eine frühzeitige Beachtung der Interessen der Antragstellerin hätte dabei die Möglichkeit eröffnet, mit einer entsprechenden Werbekampagne für Verständnis bei den Bürgern für eine Umlegung bzw. der ausnahmsweisen Abkehr von der Kirmestradition zu sorgen.

§ 5 I 1 NLöffVZG ist daher so auszulegen, dass mit dem 01. Mai 2011 ein atypischer Fall im Sinne des § 5 I 1 NLöffVZG gegeben ist, der es rechtfertigt, von der gesetzlich vorgesehen Regelrechtsfolge abzuweichen. Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse ("Shopping-Interesse") potenzieller Käufer genügen nicht, um am 01. Mai Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu seelischer Erhebung (Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV) sowie gewerkschaftlicher Betätigung (Art. 9 III GG) zu rechtfertigen.

Dass die Kundgebung der Gewerkschaften bereits um 11:30 Uhr startet und die Geschäfte nur von 13:00 bis 18:00 Uhr öffnen, führt im Ergebnis zu keiner anderen Entscheidung. So beginnt die Veranstaltung des DGB zwar um 11:30 Uhr. Nach den traditionellen Festtagsreden bietet der Deutsche Gewerkschaftsbund jedoch ein Kinder- und Familienfest sowie einen Infomarkt an. Im Rahmen dieses Programms wird die Antragstellerin die Möglichkeit nutzen, auf sich und ihre Aktivitäten aufmerksam zu machen und mögliche neue Mitglieder anzuwerben. Die Mitgliederwerbung zählt - wie bereits dargestellt - ebenfalls zu den geschützten Tätigkeiten einer Koalition (BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, 1 BvR 601/92, juris Rn. 19). Mit einer zeitlichen Überschneidung beider Veranstaltungen ist daher zu rechnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 I VwGO, § 162 III VwGO. Da der Beigeladene keine Anträge gestellt hat, d.h. kein Kostenrisiko i.S.d. § 154 III VwGO eingegangen ist, entspricht es nicht der Billigkeit, seine Kosten der unterlegenen Partei, hier der Antragsgegnerin, aufzuerlegen.

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gem. § 53 II Nr. 2, § 52 I GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog und unter entsprechender Anwendung der Nr. 54.4 Streitwertkatalog (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 01.07.2010, 11 B 2749/10, juris Rn. 20).