Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 21.08.1991, Az.: 12 Qs 91/91

Grenzwert für die absolute Fahruntauglichkeit eines Radfahrers

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
21.08.1991
Aktenzeichen
12 Qs 91/91
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1991, 20855
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHILDE:1991:0821.12QS91.91.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Lehrte - 03.07.1991 - AZ: 4 Ds 36 Js 12522/91

Fundstellen

  • NJW 1992, 451 (red. Leitsatz)
  • NZV 1992, 44-45 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Trunkenheit im Verkehr

In der Strafsache
hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim
auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 12.07.1991
gegen den Beschluß des Amtsgerichts Lehrte vom 03.07.1991
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Landgericht Schmidt sowie
der Richter am Landgericht Wanning und Rosenbusch
am 21.08.1991
beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hildesheim vom 11.06.1991 wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung soll vor dem Amtsgericht - Strafrichter - in Lehrte stattfinden.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeschuldigte.

Gründe

1

I.

Dem Angeschuldigten wird mit der Anklage vom 11.06.1991 ein Verstoß gemäß §§ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB vorgeworfen, weil er am 29.03.1991 in Lehrte mit einem Fahrrad und einem Blutalkoholgehalt von 1,65 Promille öffentliche Straßen befuhr, obwohl er nicht in der Lage war, das Rad sicher zu führen. Das Amtsgericht Lehrte hat in dem angefochtenen Beschluß die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Begründung abgelehnt, daß der 1986 vom Bundesgerichtshof festgesetzte Grenzwert von 1,7 Promille weiterhin gelte. Andernfalls hätte der Bundesgerichtshof in seiner neuen grundlegenden Entscheidung zur Frage der absoluten Fahrunsicherheit vom 28.06.1990 den Grenzwert nicht nur für Kraftfahrer, sondern auch für Radfahrer neu bestimmt.

2

II.

Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig und auch begründet.

3

Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts liegt ein hinreichender Tatverdacht dafür vor, daß der Angeschuldigte im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit als Radfahrer am Straßenverkehr teilgenommen hat (§ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB).

4

Fahruntauglich bzw. fahrunsicher ist, wer als Führer eines Fahrzeuges nicht fähig ist, eine längere Strecke so zu steuern, daß er den Anforderungen des Straßenverkehrs so gewachsen ist, wie es von einem durchschnittlichen Fahrzeugführer zu erwarten ist. Das ist für einen Radfahrer bei einem Blutalkoholgehalt ab 1,6 Promille anzunehmen.

5

Der bisher von der Rechtsprechung vorgegebene Grenzwert von 1,7 Promille (vgl. BGH vom 17.07.1986, ZfS 1986, S. 285) kann keinen Bestand mehr haben, weil als Sicherheitszuschlag, der die Unsicherheiten bei der Bestimmung der Blutalkoholkonzentration erfaßt, statt bisher 0,2 Promille jetzt nur noch ein Wert von 0,1 Promille anzusetzen ist.

6

1.

Die Strafkammer sieht - in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft - keinen Anlaß zur Abänderung des vom Bundesgerichtshof 1986 angenommenen Grundwertes von 1,5 Promille, bei dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeder Radfahrer fahruntüchtig ist. Die Verkehrsverhältnisse haben sich seit 1986 nicht so stark verändert, daß die Leistungsanforderungen an einen Radfahrer wesentlich gestiegen sind. Die Verkehrsdichte hat bis heute nur um ca. 10 % zugenommen, wie die Zulassungszahlen für Kraftfahrzeuge (1986 31,3 Mio., 1989 35 Mio.) zeigen. Auch ist das Ausmaß der von einem Radfahrer ausgehenden Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht gestiegen: Der teilweise zu beobachtenden Zunahme der Fahrgeschwindigkeit steht andererseits der vermehrte Bau von Fahrradwegen gegenüber.

7

2.

Der vom Bundesgerichtshof 1986 noch mit 0,2 Promille berechnete Sicherheitszuschlag ist allerdings auf 0,1 Promille zu senken. Aufgrund des 1989 erstatteten Gutachtens des Bundesgesundheitsamtes (veröffentlicht in NZV 1990, S. 104 f.), das zur Absenkung des Grenzwertes für Kraftfahrer von 1,3 auf 1,1 Promille führte (vgl. BGH NStZ 1990, S. 491), steht fest, daß die maximale Abweichung des Untersuchungsergebnisses vom wahren Wert einer Blutalkoholprobe im ungünstigsten Fall nur noch knapp 0,05 Promille beträgt. Da die Untersuchungen des Bundesgesundheitsamt es sich auf Blutalkoholkonzentrationen im Bereich von etwa 1,0-1,5 Promille erstreckten, hat die Strafkammer keine Bedenken, diesen neuen medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu folgen und den Sicherheitszuschlag auf 0,1 Promille zu bemessen (so auch Grohmann in Blutalkohol 1991, S. 84 f.). Auf die überzeugenden Ausführungen des Bundesgerichtshofes (BGH NStZ a.a.O.) kann Bezug genommen werden.

8

Das untersuchende Institut hat an dem Ringversuch der Deutschen Gesellschaft für klinische Chemie e.V. teilgenommen, so daß keine Erhöhung des, Sicherheitszuschlages auf 0,15 Promille erforderlich ist.

9

Der Angeschuldigte kann sich nicht darauf berufen, daß die Grenze für die absolute Fahruntüchtigkeit bisher bei 1,7 Promille lag und der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung aus dem Jahre 1986 noch nicht abgeändert hat. Die richterliche Grenzwertbestimmung aufgrund neuerer Beweisergebnisse ist verfahrensrechtlicher Art und unterliegt deshalb nicht dem Rückwirkungsverbot (Dreher/Trödle, StGB, 44. Aufl., Rdnr. 6 a zu § 316; Salger in NZV 1990, S. 1 f.). Der gesetzliche Tatbestand des § 316 StGB, der nicht an eine bestimmte Blutalkoholkonzentration anknüpft, gibt der Rechtsprechung Raum, bei der Feststellung der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit gewandelten wissenschaftlichen Erkenntnissen und verbesserten wissenschaftlich-technischen Methoden Rechnung zu tragen (so das BVerfG in NStZ 1990, S. 537).

10

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 465 StPO.

11

Diese Entscheidung ist gemäß § 310 Abs. 2 StPO nicht anfechtbar.

Schmidt
Wanning
Rosenbusch