Sozialgericht Hannover
Urt. v. 28.06.1978, Az.: S 10 Ka 55/76

Kürzung von Honorarforderungen eines kassenärztlich zugelassenen Arztes; Durchschnittswerte allgemeinmedizinisch arbeitender Internisten; Begrenzung des Anspruchs von Versicherten auf zur Heilung oder Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßige und ausreichende ärztliche Versorgung

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
28.06.1978
Aktenzeichen
S 10 Ka 55/76
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1978, 14414
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:1978:0628.S10KA55.76.0A

Fundstelle

  • NJW 1979, 2368 (Volltext mit amtl. LS)

Die 10. Kammer des Sozialgerichts Hannover hat
in der Sitzung am 28. Juni 1978
durch
den Richter am Sozialgericht ... - Vorsitzenden - und
die ehrenamtlichen Richter Dr. med. ... und Dr. med. ...
nach mündlicher Verhandlung ...
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beschlüsse des Beschwerdeausschusses der Beklagten - Bezirksstelle Verden - vom 8. September 1976 und 26. Oktober 1977 sowie die zugrunde liegenden Bescheide des Prüfungsausschusses vom 25. Juni 1976 und 5. Oktober 1976 werden aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger ist als Arzt für Allgemeinmedizin in Achim-Uesen niedergelassen und zur Kassenpraxis zugelassen. Er wendet sich gegen Honorarkürzungen bei der RVO-Kassenabrechnung für die Quartale I/76 und II/76.

2

Für diese Quartale lagen 1028 bzw. 893 Behandlungsfälle von RVO-Kassenpatienten zur Abrechnung vor. Der Prüfungsausschuß der Beklagten - Bezirksstelle Verden - kürzte die Honoraranforderungen des Klägers in der Sparte Laborleistungen mit Bescheiden vom 25. Juni 1976 und 5. Oktober 1976 um 15 % (I/76) bzw. 10 % (II/76). Zur Begründung wurde auf Überschreitungen des Arztgruppendurchschnitts hingewiesen, die in der Sparte Laborleistungen 249 % bzw. 230 % betragen.

3

Die hiergegen erhobenen Widersprüche des Klägers wies der Beschwerdeausschuß mit Beschlüssen vom 8. September 1976 und 26. Oktober 1977 mit der Begründung zurück, die vom Kläger geltend gemachte internistische Ausrichtung seiner Praxis könne den Laboraufwand nicht rechtfertigen.

4

Gegen diese Beschlüsse hat der Kläger am 8. Oktober 1976 bzw. am 8. November 1977 Klage erhoben. Das Gericht hat die beiden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

5

Der Kläger trägt vor: Durch entsprechende Vorbildung und Praxisausstattung habe er die Möglichkeit zu objektivierter Diagnostik, so daß Überweisungen an Fachärzte für Laboratoriumsdiagnostik und innere Medizin fast völlig eingespart würden. Es werde zunehmend problematisch, die Bildung vergleichbarer Arztgruppen an der Facharztbezeichnung auszurichten, mit der der Praxisinhaber niedergelassen sei. Die Zahl der niedergelassenen Internisten nehme ständig zu, während die Zahl der Allgemeinärzte abnehme. Als Folge dieser Relationsverschiebung zugunsten der Internisten hätten diese zunehmend allgemeinmedizinische Aufgaben übernommen, während die Entwicklung an praxisgerechten Laborverfahren in den letzten Jahren dazu geführt habe, daß ein entsprechend ausgebildeter Allgemeinarzt auf dem Laborsektor die diagnostische Hilfe eines Internisten nicht mehr in Anspruch zu nehmen brauche. Es könne daher nicht rechtens sein, wenn die Beklagte, die Gruppen der Allgemeinärzte und Internisten in der Weise trenne, daß sie einem allgemeinmedizinisch arbeitenden Internisten in der Sparte Laborleistungen einen etwa 6fach höheren Durchschnittswert als einem internistisch arbeitenden Allgemeinpraktiker zubillige. Ein Vergleich mit strukturgleichen Praxen werde ergeben, daß er wirtschaftlich behandele. Er führe in seiner Praxis die internistische Differential- und Verlaufsdiagnostik im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern seiner Arztgruppe selbst durch. Durch Objektivierung der Diagnostik habe er den Aufwand für die subjektive Überwachung der Krankheitsfälle reduzieren können. Er habe daher weniger Beratungen und erheblich weniger nicht dringende Hausbesuche aufzuweisen als es dem Durchschnitt seiner Arztgruppe entspreche. Das wirke sich dahin aus, daß er trotz der intensiven Labortätigkeit den Durchschnitt seiner Arztgruppe bei der Gesamthonoraranforderung nur geringfügig überschreite.

6

Der Kläger beantragt,

die Beschlüsse des Beschwerdeausschusses der Beklagten - Bezirksstelle Verden - vom 8. September 1976 und 26. Oktober 1977 sowie die zugrunde liegenden Bescheide des Prüfungsausschusses vom 25. Juni 1976 und 5. Oktober 1976 aufzuheben.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

8

Sie hält die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen der Prüfungsgremien für zutreffend. Auf Ersuchen des Gerichts hat sie für das I. Quartal 1976 die Vergleichswerte der Sparte Laborleistungen von insgesamt 14 Allgemeinärzten im Bereich ihrer Bezirksstelle Verden vorgelegt, die Laborleistungen erbringen, welche dem sogenannten großen Labor zuzurechnen sind.

9

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze Bezug genommen. Die im vorauf gegangenen Verwaltungsverfahren geführten Akten nebst den Abrechnungsunterlagen sowie die Prozeßakte des Parallelrechtsstreits betreffend die Ersatzkassenabrechnung für die Quartale IV/76 und I/77 - S 10 Ka 78/77 des Sozialgerichts Hannover - haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

10

Die nach den §§ 87 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist- und formgerecht erhobenen Klagen sind zulässig. Sie haben auch Erfolg.

11

Als Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen kommt § 368 e RVO in Verb, mit § 23 Abs. 1 Buchst. c des Bundesmantelvertrages zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der RVO-Kassen in Betracht. Danach ist die Beklagte befugt und Verpflichtet, durch ihre Prüfungseinrichtungen die Honorarforderungen der Kassenärzte nach Maßgabe der in § 368 e RVO bestimmten Erfordernisse zu überprüfen und gegebenenfalls Abstriche von den Honoraranforderungen vorzunehmen. § 368 e RVO begrenzt den Anspruch des Versicherten auf diejenige ärztliche Versorgung, die zur Heilung oder Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend ist, und bestimmt, daß Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, vom Versicherten nicht beansprucht und vom Kassenarzt nicht bewirkt oder nicht verordnet werden dürfen.

12

Die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise braucht nicht anhand einzelner Behandlungsfälle geprüft zu werden, wenn das nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten und Aufwendungen möglich wäre. Stehen in einem solchen Fall die Behandlungskosten des einzelnen Arztes in offensichtlichem Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten vergleichbarer Ärztegruppen und rechtfertigen auch die Besonderheiten der Praxis des Arztes, auf die er hinzuweisen hat, seinen Mehraufwand nicht, so kann die Feststellung der unwirtschaftlichen Behandlungsweise aufgrund eines Vergleichs mit den von anderen Ärzten erbrachten Leistungen erfolgen (BSGE 11, 102 [BSG 27.11.1959 - 6 RKa 4/58];  17, 79;  19, 123 [BSG 15.05.1963 - 6 RKa 21/60]). Dabei ist das Herausgreifen einzelner Leistungsgruppen (Sparten) zulässig, sofern nicht der Mehraufwand in diesen Gruppen ursächlich für einen Minderaufwand in anderen Leistungsgruppen ist (BSGE 17, 79, 68 [BSG 29.05.1962 - 6 RKa 24/59]).

13

Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall der Nachweis der Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise nicht erbracht.

14

Der Kläger überschreitet den für den Bereich der Bezirksstelle Verden der Beklagten ermittelten Durchschnittswert seiner Arztgruppe in der strittigen Sparte Laborleistungen um 249 % bzw. 230 %. Die Vergleichswerte der prakt. Ärzte/Ärzte für Allgemeinmedizin erweisen sich jedoch in Anbetracht der Praxisausrichtung des Klägers als untauglich. Sie können insbesondere auch nicht in dem Sinne als Ausgangswert der Prüfung zugrunde gelegt werden, daß die Praxisbesonderheiten zur Korrektur des zunächst aufgrund des "offensichtlichen Mißverhältnisses" gewonnenen Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit herangezogen werden.

15

Der Kläger führt die internistische Differential- und Verlaufsdiagnostik im Gegensatz zu dem noch überwiegenden Teil der Mitglieder seiner Arztgruppe aufgrund einer entsprechenden Ausbildung und Ausstattung seines Labors selbst durch. Er erbringt damit Laborleistungen, die dem sogenannten großen Labor (Leistungen vom Blutbild bis zur klinisch-chemischen Diagnostik) zuzurechnen sind. Zutreffend hat der Kläger darauf hingewiesen, daß ein entsprechend ausgebildeter Allgemeinarzt aufgrund der Entwicklung praxisgerechter Laborverfahren heute die diagnostische Hilfe eines Internisten nicht mehr oder kaum noch in Anspruch zu nehmen braucht. Auf der anderen Seite nimmt die Zahl der niedergelassenen Internisten ständig zu, während die Zahl der Allgemeinärzte stagniert oder gar zurückgeht. Infolgedessen übernehmen Internisten in verstärktem Maße allgemeinmedizinische Aufgaben. Der Anteil der an sie gerichteten Überweisungen beträgt nach den Erfahrungen der Kammer häufig deutlich weniger als 25 % ihrer Behandlungsfälle; der Prozentsatz ihrer fachspezifischen Tätigkeit ist dementsprechend rückläufig.

16

Es geht daher nicht an, Allgemeinärzte mit einer Praxisausrichtung wie der des Klägers in der Sparte Laborleistungen mit dem Durchschnittswert der prakt. Ärzte/Ärzte für Allgemeinmedizin zu vergleichen, der nur etwa ein Fünftel bis ein Sechstel des Vergleichswertes der Internisten erreicht.

17

Es bietet sich an, den Kläger mit den von der Beklagten im Verlaufe des Rechtsstreits für das I. Quartal 1976 vorgelegten Werten von Mitgliedern seiner Arztgruppe zu vergleichen, die solche Laborleistungen erbringen, welche dem "großen Labor" zuzurechnen sind. Der Vergleichswert der insoweit in Betracht kommenden 14 Ärzte (einschließlich des Klägers) im Bereich der Bezirksstelle Verden der Beklagten beträgt in der Sparte Labor-Leistungen 10,32 DM.

18

Der Kläger liegt mit seinem Durchschnittswert für das I. Quartal 1976 in Höhe von 11,21 DM nur geringfügig, insbesondere nicht im Sinne eines offensichtlichen Mißverhältnisses über dem so errechneten Gruppendurchschnitt. Gegen diese Art der Gruppenbildung im Interesse der Gewinnung einer tauglichen Schätzungsgrundlage bestehen im vorliegenden Fall um so weniger Bedenken, als der Kläger nach der von der Beklagten vorgelegten Übersicht ausnahmslos alle darin vorgesehenen Laborleistungen erbringt, während das für die übrigen Mitglieder der Gruppe nicht gilt. Hinzu kommt, daß die Mitglieder der ausgewählten Vergleichsgruppe bei ihren Honoraranforderungen für Laborleistungen mit - breit gestreuten - Werten zwischen 8,04 DM und 16,64 DM sämtlich unter dem entsprechenden Vergleichswert der Internisten liegen (16,85 DM), so daß den Bedenken des Beschwerdeausshusses, es dürfe bei derartiger Gruppenbildung nicht nur zu einem Vergleich mit extrem hohen Honoraranforderungen kommen, Rechnung getragen worden ist.

19

Die Kammer geht davon aus, daß das Ergebnis der vergleichenden Gegenüberstellung mit dem Durchschnittswert der ausgewählten Arztgruppe auch für das weitere hier strittige Quartal II/76 gilt. Das kann um so mehr unterstellt werden, als der Kläger den Durchschnittswert der Gruppe der prakt. Ärzte/Ärzte für Allgemeinmedizin in diesem Quartal um 230 % und damit um einen geringeren Wert überschreitet als im I. Quartal 1976 (249 %). Auch der absolute Wert der durchschnittlichen Honoraranforderungen des Klägers für Laborleistungen liegt im II. Quartal 1976 mit 9,94 DM deutlich unter dem des I. Quartals 1976 (11,21 DM).

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.