Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 26.10.2018, Az.: 2 A 212/18
in Deutschland geborenes Kind; Pakistan; religiös
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 26.10.2018
- Aktenzeichen
- 2 A 212/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74002
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3a AsylVfG
Tatbestand:
Die Klägerin wurde am 14. November 2017 als Kind pakistanischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik geboren. Ihre mit ihr in Deutschland lebenden Eltern stellten am 4. Dezember 2015 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 ablehnte. Hiergegen wenden sich die Eltern des Klägers im Verfahren zum Aktenzeichen 2 A 154/17.
Mit Schreiben vom 17. April 2018 zeigte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegenüber dem Bundesamt die Geburt der Klägerin an und beantragte ebenfalls die Durchführung eines Asylverfahrens
Zur Begründung ihres Asylantrags führte die Klägerin an, sie sei pakistanische Staatsangehörige und gehöre der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis an. Als solche habe sie aufgrund der Verhältnisse in Pakistan unabhängig von einer individuellen Vorverfolgung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Mit Bescheid vom 17. Mai 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin ab (Ziff. 1-3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4), forderte die Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan zur Ausreise auf (Ziff. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6). Zur Begründung hieß es in dem Bescheid, schon den Eltern der Klägerin stünde aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadis kein Anspruch auf die Gewährung eines Schutzstatus zu. Für die Klägerin als deren in Deutschland geborene Tochter könne nichts anderes gelten.
Hiergegen hat die Klägerin am 6. Juni 2018 Klage erhoben. Zur Begründung verweist sie auf das bisherige Vorbringen im Verwaltungsverfahren.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids vom 17. Mai 2018 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, ihr subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie nimmt zur Begründung Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Für die weiteren Angaben der Eltern des Klägers wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2018 verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage, über die die Einzelrichterin trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann, da hierauf in der Terminsladung hingewiesen wurde (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
Die zulässige Klage ist begründet. Die Entscheidung der Beklagte, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der Flüchtling i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern keine Ausschlussgründe vorliegen. Flüchtling ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund eines Verfolgungsgrundes i. S. d. § 3b Abs. 1 AsylG – wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 gelten zum einen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder zum anderen - nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG - Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Bezogen auf Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft kommt eine Flüchtlingsanerkennung bereits aufgrund eines Eingriffs in die Religions(ausübungs)freiheit in Betracht, sofern es sich bei den jeweiligen Antragstellern um bekennende Ahmadis handelt, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend und unverzichtbar ansehen, ihren Glauben - auch werbend - in die Öffentlichkeit zu tragen, vgl. EuGH, Urt. v. 5.9.2012 - Rs. C-71/11 -, juris; BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn.48; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.6.2013 - A 11 S 757/13 -, juris; VG Lüneburg, Urt. v. 26.10.2018 - 2 A 154/17 -, Parallelverfahren der Eltern, noch unveröffentlicht).
Da die nicht einmal ein Jahr alte Klägerin aufgrund ihres Alters rein tatsächlich noch nicht in der Lage ist, sich eine eigene Glaubensüberzeugung zu bilden, sich zu einem Glauben zu bekennen, geschweige denn eine Glaubensüberzeugung nach außen kundzutun, ist für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, auf das Glaubensverständnis der Eltern abzustellen (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 14.10.2013 - 14 K 5679/12.A -, Rn. 59, juris).
Zwar ist jeder Asylantrag grundsätzlich individuell zu prüfen. Einem Antrag auf internationalen Schutz darf nicht schon allein deshalb stattgegeben werden, weil ein Familienangehöriger die begründete Furcht vor Verfolgung hat oder tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Jedoch ist die Bedrohung eines Familienangehörigen des Antragstellers durch Verfolgung und einen ernsthaften Schaden zu berücksichtigen, um festzustellen, ob der Antragsteller aufgrund seiner familiären Bindung zu dieser bedrohten Person selbst einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist (EuGH, Urt. v. 4.10.2018 - C-652/16 -, juris Rn. 51). Knüpft – wie bei den Ahmadis in Pakistan – die beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit an das öffentliche Bekenntnis zu einer Religion bzw. an eine auch öffentlich gelebte Glaubenspraxis an, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein Kind, das von seinen in verfolgungsträchtiger Weise religiösen Eltern aufgezogen wird, ebenfalls zu einem in verfolgungsträchtiger Weise religiösen Menschen heranwächst.
Nach diesen Vorgaben besteht auch für die Klägerin ein beachtliches Verfolgungsrisiko. Denn ihre Eltern sind bekennende Ahmadis und haben als solche einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (dazu siehe Urteil vom heutigen Tag, 2 A 154/16). Es ist darum davon auszugehen, dass auch die Klägerin bekennende Ahmadi sein wird. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese Annahme hier unzutreffend sein könnte. Vielmehr haben die Eltern der Klägerin im Rahmen der informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bestätigt, die Klägerin religiös erziehen zu wollen. Zu diesem Zwecke haben sie die Klägerin bereits zu dem Programm „Waqf-e-Nau“ angemeldet, was sie durch Vorlage der entsprechenden Bescheinigung nachgewiesen haben. Vor diesem Hintergrund hat auch die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
2. Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung der Nummern 3 bis 6 des angefochtenen Bescheids begehrt wird. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lässt die negative Feststellung des Bundesamts hinsichtlich des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf den Ausspruch zum Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten in Ziff. 4, die Ausreiseaufforderung mitsamt Abschiebungsandrohung in Ziff. 5 sowie die Bestimmung der Frist für ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.