Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 18.04.2007, Az.: 3 A 326/05

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.04.2007
Aktenzeichen
3 A 326/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 62164
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2007:0418.3A326.05.0A

Tenor:

  1. für Recht erkannt:

    Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat.

    Es wird festgestellt, dass die polizeilichen Maßnahmen, durch die dem Kläger am 8. November 2004 etwa ab 17.30 Uhr am westlichen Ortseingang in Langendorf die Weiterfahrt zu einer von ihm angemeldeten und genehmigten Versammlung zum Sportplatz in Langendorf untersagt wurde, rechtswidrig waren.

    Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

    Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen.

2

Der Kläger meldete im Oktober 2004 im Zusammenhang mit dem Castor-Transport mehrere Versammlungen an, unter anderem eine Dauermahnwache für die Initiative "Widersetzen" für die Zeit von Sonntag, dem 07. November, bis Donnerstag, dem 11. November 2004, in Langendorf am Sportplatz. Mit Bescheid vom 30. Oktober 2004 wurde die Anmeldung für die Durchführung einer Dauermahnwache in Langendorf am Ende der Straße "Am Sportplatz" bestätigt. In dem Bescheid wird darauf hingewiesen, Herr B. sei als verantwortlicher Leiter der Veranstaltung benannt, "zusätzlich" sei der Kläger persönlich ansprechbar. Der Bescheid enthält beschränkende Verfügungen, wonach unter anderem der Versammlungsleiter bzw. der Stellvertreter sich dem Einsatzleiter der Polizei vor Beginn der Versammlung gegenüber zu erkennen geben und jederzeit für die Polizei erreichbar und ansprechbar sein müsse und vor Beginn der Veranstaltung den Teilnehmern den vorgesehenen Verlauf in geeigneter Weise bekannt zu geben habe. Die Durchführung einer Dauermahnwache auf dem Kirchgrundstück in Langendorf vom 8. November bis zum 11. November 2004, die der Kläger ebenfalls für die Initiative "C." angemeldet hatte, untersagte die Bezirksregierung Lüneburg mit Bescheid vom 30. Oktober 2004.

3

Am 8. November 2004 gegen 17.30 Uhr wurde der Kläger als Beifahrer in einem Opel Kadett Kombi von Gusbornkommend am Ortseingang von Langendorf von der Polizei angehalten. Erst nach einiger Zeit - die Dauer ist zwischen den Beteiligten streitig - konnte der Kläger die Sperre passieren und den Versammlungsort aufsuchen.

4

Am 10. August 2005 hat der Kläger Klage erhoben.

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Er macht geltend, auf seine Erklärung hin, er wolle zur Dauermahnwache in Langendorf, sei ihm erklärt worden, die Versammlung sei verboten und er dürfe nicht weiterfahren. Auf die Vorlage der schriftlichen Genehmigung der Bezirksregierung Lüneburg vom 30. Oktober 2004 sei ihm von den Einsatzkräften, die ihn an der Weiterfahrt gehindert hätten, erklärt worden, die Versammlung sei inzwischen verboten. Weder ihm noch seinem Büro sei aber eine Verbotsverfügung bekannt gewesen. Es habe sich schließlich auch herausgestellt, dass die Dauermahnwache am Sportpatz weder verboten noch aufgelöst worden sei. Nachdem er insgesamt über zwei Stunden an der Sperre verbracht habe, habe er sie schließlich passieren dürfen. Das Verbot, den Versammlungsort aufzusuchen, sei ein erheblicher Eingriff in seine Grundrechte aus Art. 8 und 11 GG, so dass die Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage schon aus diesem Grunde zulässig sei; es bestehe aber auch eine Wiederholungsgefahr, weil es bereits in den Vorjahren Probleme an Straßensperren gegeben habe. Seine Tätigkeit für die verschiedenen Initiativen, bei denen er für alle rechtlichen und versammlungsrechtlichen Belange, insbesondere auch Beratung und Deeskalation zuständig sei, leide, wenn er erst mit erheblicher Verspätung vor Ort eintreffe.

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Andere ebenfalls angemeldete Kundgebungen, die außerhalb der Verbotszone hätten stattfinden sollen, seien ausgefallen, weil kein Versammlungsleiter vor Ort habe sein können, Herr Sch. sei an anderer Stelle unabkömmlich gewesen, und er selbst sei durch die beanstandete Maßnahme am Aufsuchen des Versammlungsortes gehindert gewesen. Sofern die Beklagte davon ausgehe, er sei bereits um 18.46 Uhr am Mahnwachenplatz gesehen worden, treffe das nicht zu.

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Seit März 2001 sei ihm wiederholt im Zusammenhang mit Castor-Transporten der Zugang zu verschiedenen Versammlungsorten versagt worden. Bisher habe er auf Rechtsmittel verzichtet, gleichwohl hätten sich ähnliche Vorgänge wiederholt.

8

Seine Klage sei auch begründet, weil er in seiner Versammlungsfreiheit beschnitten worden sei. Die erforderliche Abwägung unter Berücksichtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit habe nicht oder nur unzureichend stattgefunden. Wenngleich Fehler in Einzelfällen unvermeidlich seien, so müsse doch erwartet werden, dass zumindest die Einsatzleitung der Polizei so organisiert sei, dass vergleichbare Irrtümer aufgeklärt werden könnten. Seiner Bitte, das Aktenzeichen des Bescheides, auf den er sich berufen habe, durchzugeben, sei nicht entsprochen worden. Das Recht, Ort und Zeit einer Versammlung selbst zu bestimmen, umfasse gerade auch bei länger andauernden Versammlungen das Recht, den tatsächlichen Beginn einer Versammlung zu bestimmen. Bis zum Ende der Veranstaltung bestehe grundsätzlich das Recht, den Versammlungsort aufzusuchen oder die Versammlung durchzuführen.

9

Der Kläger hat zunächst neben der Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahme, durch die er selbst an der Weiterfahrt gehindert wurde, auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen begehrt, durch die anderen Personen am fraglichen Tag die Durchfahrt verwehrt wurde. Insoweit hat er in der mündlichen Verhandlung seine Klage zurückgenommen.

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Der Kläger beantragt nunmehr,

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festzustellen, dass die polizeilichen Maßnahmen, durch die ihm am 8. November 2004 ab ca. 17.30 Uhr am westlichen Ortseingang von Langendorf die Weiterfahrt zu einer von ihm angemeldeten und genehmigten Versammlung am Sportplatz in Langendorf untersagt wurde, rechtswidrig waren.

12

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

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Sie macht geltend, die Klage sei unzulässig. Es fehle das erforderliche Feststellungsinteresse. Wenn auch ein Eingriff in das Grundrecht des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 GG in Betracht komme, so sei doch weiterhin erforderlich, dass es sich um eine fortdauernde faktische Grundrechtsbeeinträchtigung handele. Die beanstandete polizeiliche Maßnahme dauere jedoch nicht mehr an und sei erledigt. Eine darüber hinausgehende Beeinträchtigung von Grundrechten sei nicht erkennbar, insbesondere nicht eine besonders schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigung, zumal es sich nur um eine vorübergehende Maßnahme gehandelt habe. In Anbetracht der Dauer, für welche die Versammlung angemeldet und genehmigt gewesen sei, sei eine kurzfristige Verzögerung der Ankunft am Versammlungsort nicht erheblich, zumal der Kläger bereits um 18.46 Uhr am Sportplatz in Langendorf eingetroffen sei. Das ergebe sich aus dem Verlaufsbericht des EA Lüchow Dannenberg vom 9. November 2004. Die in diesem Verlaufsbericht genannte Veranstaltung sei wegen fehlender Teilnahme abgesagt worden. Es handele sich darin zwar nicht um die vom Kläger in Bezug genommene Dauermahnwache, sondern um eine andere von ihm angemeldete Kundgebung, zwischen dem Standort der Mahnwache und dem geplanten Kundgebungsort hätten jedoch lediglich 150 - 200 m gelegen. Der Kläger sei somit lediglich für eine im Vergleich zur Gesamtdauer der Veranstaltung geringe Zeit von 1 1/4 Stunden an der Straßensperre aufgehalten worden. Somit fehle es an einer schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung.

14

Die vorgetragene Wiederholungsgefahr bestehe auch deshalb nicht, weil das Verhalten der Polizeibeamten auf einer Fehlinformation - wohl einer Verwechslung mit der verbotenen Mahnwache auf dem Kirchengrundstück in Langendorf - beruht habe. Zu berücksichtigen sei auch, dass die Einsatzkräfte dem Kläger den Zugang unter dem Eindruck der in Langendorf seit dem 7. November 2004 bestehenden Dauerblockade der Ortsdurchfahrt verweigert hätten, weil die Gefahr bestanden habe, dass sich die Blockade mit Herannahen des Castor-Transportes durch den Zulauf weiterer Personen weiter verfestigen würde. Dass der Kläger auch künftig an der Teilnahme von Versammlungen und deshalb an der Ausübung seines Versammlungsrechts gehindert werde, sei nicht ersichtlich, weil es sich hier offenbar um einen Einzelfall gehandelt habe.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

16

Soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen gewesen.

17

Die im Übrigen aufrecht erhaltene Klage hat Erfolg.

18

1. Die Klage ist zulässig.

19

Es kann offen bleiben, ob es sich bei der Klage um eine einen Verwaltungsakt voraussetzende und nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Auflage 2005, § 43 Randnr. 5, § 113 Randnr. 95 ff m.w.N.) oder um eine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO handelt, die statthaftist, wenn es um die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Realaktes geht.

20

Die Zulässigkeit der Feststellungsklage setzt ebenso wie die Fortsetzungsfeststellungsklage ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der fraglichen Maßnahmen voraus (vgl. Kopp/Schenke a.a.O., § 43, Randnr. 23 ff.; § 113, Randnr. 129 ff., m.w.N.).

21

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Einzelne soll staatliche Eingriffe nicht ohne gerichtliche Prüfung ertragen müssen. Indessen begründet nicht jeder Eingriff in Grundrechte ein Feststellungs-/Fortsetzungsfeststellungsinteresse, sondern ein solches Interesse besteht nur dann, wenn die angegriffene Maßnahme Grundrechte schwer beeinträchtigt, die Gefahr einer Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit angenommen werden kann (BVerfG, Beschl. v. 3.3.2004 -1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77 = DVBI 2004, 822).

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a) Die Wiederholungsgefahr liegt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung vor, wenn zu befürchten ist, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiges Verwaltungshandeln zu erwarten ist (BVerwG, Beschl. v. 16.10.1989-7 ER 620.89 -; Beschl. v. 16.10.1989 - 7 B 108.89 -, NVwZ 1990, 360; Nds. OVG, Urt. v. 19.02.1997-13 L 4115/95-, Nds.VBI 1997, 285 m.w.N.). Die in diesem Zusammenhang an den Kläger zu stellenden Darlegungsanforderungen sind dann, wenn Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht im Streit stehen, jedoch unter Berücksichtigung des Art. 8 GG dahin zu konkretisieren, dass die Erfordernis der Wiederholungsgefahr einerseits die Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung durch den Kläger voraussetzt und zum anderen, dass die Behörde voraussichtlich auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird (BVerfG, Beschl. v. 3.3.2004, a.a.O.).

23

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

24

Der Kläger ist seit mehreren Jahren als Veranstalter und Leiter von Versammlungen im Umfeld der Atomkraftgegner tätig. Insbesondere im Zusammenhang mit Protesten gegen die sogenannten "Castor-Transporte" ist er wiederholt mit der Durchführung und Leitung von Versammlungen betraut gewesen, insbesondere bei der Initiative "D.". Er hat zudem geltend gemacht, sich auch künftig in dieser Weise engagieren zu wollen. Darüber hinaus hat der Kläger unwidersprochen darauf hingewiesen, dass es bereits in den Vorjahren des Transportes Probleme an Straßensperren mit der Polizei gegeben habe, und er oft erst nach Intervention polizeilicher Konfliktmanager habe passieren dürfen.

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Er hat überdies unter Hinweis auf näher bezeichnete Vorfälle im März 2001, im November 2001, im November 2002 und im November 2003 ausgeführt, die Teilnahme an angemeldeten Versammlungen sei wiederholt behindert bzw. verhindert worden, und das in der mündlichen Verhandlung konkretisiert.

26

Unter Berücksichtigung dieser Darlegungen greift auch der Einwand der Beklagten, es bestehe keine Wiederholungsgefahr, weil der Grund dafür, dass dem Kläger die Durchfahrt an der Straßensperre zunächst verweigert worden sei, in einer Fehlinformation der vor Ort anwesenden Einsatzkräfte gelegen habe, die offenbar eine vom Kläger angemeldete und behördlich bestätigte Mahnwache (am Sportplatz) mit einer verbotenen Mahnwache (auf dem Kirchengrundstück in Langendorf) verwechselt hätten. Der Kläger hat insoweit darauf hingewiesen, dass auch die Vorgänge in der Vergangenheit wiederholt auf Irrtümer oder Missverständnisse der handelnden Beamten zurückgeführt worden seien. Von einem Einzelfall kann daher nicht ausgegangen werden. Dass es im Jahr 2006 keine vergleichbaren Vorfälle gegeben hat, steht dem wegen der vom Kläger geschilderten besonderen Situation in diesem Jahr nicht entgegen.

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b) Da das berechtigte Interesse somit bereits unter dem Aspekt der Wiederholungsgefahr zu bejahen ist, kann offen bleiben, ob sich ein berechtigtes Interesse auch wegen einer schwerwiegenden Verletzung der Grundrechte des Klägers aus Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit), Art. 11 GG (Freizügigkeit) oder Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) ergibt.

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2. Die Klage ist auch begründet.

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Die polizeilichen Maßnahmen, durch die dem Kläger am 8. November 2004 etwa ab 17.30 Uhr am westlichen Ortseingang Langendorf die Weiterfahrt zu einer vom ihm angemeldeten und genehmigten Versammlung am Sportplatz in Langendorf untersagt wurde, sind rechtswidrig gewesen und der Kläger ist dadurch in eigenen Rechten verletzt worden.

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Nach § 11 Nds. SOG können die Verwaltungsbehörden und die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwenden.

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Gefahr ist gemäß § 2 Nr. 1a Nds. SOG eine Sachlage, bei der im einzelnen Falle die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eintreten wird.

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Die Beklagte hat geltend gemacht, in Langendorf habe seit dem 7. November 2004 eine Dauerblockade stattgefunden, bei der die Gefahr bestanden habe, dass sie sich mit Herannahen des Castor-Transportes durch Zulauf weiterer Personen weiter verfestigen würde. Es sei für die Polizisten vor Ort nicht klar gewesen, ob der Kläger sich an der Blockade habe beteiligen wollen.

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Zur Annahme einer Gefahr durch Teilnahme an einer Blockade hat die Kammer in ihrem Urteil vom 6. Juli 2004 (Az.: 3 A 28/02) ausgeführt:

34

"Für die Annahme einer Gefahr durch Teilnahme an der Blockade bedarf es einer Prognoseentscheidung im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens. Es muss durch Tatsachen die Annahme gerechtfertigt sein, dass sich die konkrete Person zur Blockade begibt, um die Blockade zu unterstützen.

35

Anhaltspunkte hierfür liegen etwa vor, wenn die Person die Begehung der Tat angekündigt oder dazu aufgefordert hat, oder Transparente, Flugblätter oder anderes Hinweismaterial mit sich führt, oder die Person bereits in der Vergangenheit bei der Begehung von Blockadeaktionen oder anderen Aktionen gegen die öffentliche Sicherheit als Störerin oder Störer betroffen worden ist und nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist. Darüber hinaus ist die Gesamtsituation, wenn z.B. andere Personen in dem örtlichen Bereich bereits Blockadeaktionen begehen oder dies unmittelbar bevorsteht, bei der Prognose zu berücksichtigen, da in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass auch die einzelne, hinzutretende Person sich beteiligen wird. Bei unüberschaubaren Personengruppen ist eine individuelle Prognose naturgemäß nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Es gilt der Grundsatz, dass mit zunehmender Gefährdungsintensität und zunächst ungeklärter Gefahrensituation an die Prognosegenauigkeit geringere Anforderungen zu stellen sind. Stets ist die Gesamtsituation entscheidend."

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Danach hat nicht die Gefahr der Teilnahme des Klägers an der Blockade vorgelegen.

37

Es fehlte an ausreichenden Hinweisen für die Annahme, der Kläger habe sich an einer Blockade beteiligen wollen. Hierfür hat die Beklagte auch nichts vorgetragen. Vielmehr hat sie selbst ausgeführt, es habe sich um einen Irrtum der Beamten vor Ort gehandelt.

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Anhaltspunkte dafür, dass vom Kläger aus anderen Gründen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgegangen ist, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Umstand, dass die handelnden Polizeibeamten irrtümlich davon ausgegangen sind, die Versammlung, an welcher der Kläger teilnehmen wollte, sei verboten gewesen, rechtfertigt keine andere Beurteilung, zumal der Kläger die schriftliche Genehmigung der seinerzeit noch zuständigen Bezirksregierung Lüneburg vorgezeigt und wiederholt darauf hingewiesen hat, von einer Verbotsverfügung sei nichts bekannt.

39

Der Kläger ist durch die rechtswidrigen polizeilichen Maßnahmen auch in seinen Rechten verletzt worden.

40

Art. 8 Abs. 1 GG verbürgt neben der Teilnahme an der Versammlung als weitere eigenständige Teilrechte das Veranstaltungs- und das Leitungsrecht (Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Kommentar, 14. Auflage 2005, § 1 Randnr. 62 m.w.N.). Dass für die Dauermahnwache keine feste zeitliche Vorgabe bestand und der Kläger diese - wenn auch verspätet - noch erreichen konnte, steht der Annahme eines Eingriffs in das Grundrecht des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht entgegen, weil dieses Grundrecht nicht nur die Beteiligung an einer existenten Demonstration oder Versammlung schützt, sondern auch vorbereitende Maßnahmen für eine konkret geplante Veranstaltung einschließlich der Anreise vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst sind (BVerfG, Beschl. v. 11.6.1991 -1 BvR 772/90 -, BVerfGE, 84, 203; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 1 Randnr. 70 ff. m.w.N.). Der Kläger ist auf dem Weg zur Durchführung und Teilnahme an der Mahnwache gewesen. Ihm haben als Ansprechpartner der Versammlung und als (zusätzlichem) Leiter besondere Pflichten oblegen. Gerade im Hinblick auf die Regelungen, wonach der Versammlungsleiter bzw. der Stellvertreter sich dem Einsatzleiter der Polizei vor Beginn der Versammlung zu erkennen zu geben hat und diese jederzeit für die Polizei erreichbar und ansprechbar sein sollten, bzw. unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung den Teilnehmern den vorgesehenen Verlauf bekanntzugeben hatten, hat bereits eine Verzögerung von 1 1/4 Stunden, wie sie die Beklagte eingeräumt hat, zu einem nicht völlig unerheblichen Grundrechtseingriff geführt, weil das Fehlen einer verantwortlichen Person die Durchführung der Versammlung insgesamt in Frage gestellt hat. Auf die Frage, ob die Verzögerung tatsächlich mehr als zwei Stunden gedauert hat, kommt es dabei nicht an.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 2, 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708

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Nr. 11 ZPO.