Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 30.06.2011, Az.: 1 Ws 282/11

Verhältnismäßigkeit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen eines mittelschweren Sexualdelikts

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
30.06.2011
Aktenzeichen
1 Ws 282/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 19107
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2011:0630.1WS282.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 09.05.2011 - AZ: 51 StVK 182/11

Fundstellen

  • BewHi 2012, 82
  • NStZ-RR 2011, 307-308
  • StV 2011, 680-681

Amtlicher Leitsatz

Eine wegen eines mittelschweren Sexualdeliktes nach § 63 StGB angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist trotz bestehender Rückfallgefahr wegen Unverhältnismäßigkeit für erledigt zu erklären, wenn die Unterbringung seit mehr als 17 Jahren vollzogen wird und die vom Verurteilten ausgehende Gefahr durch begleitende Maßnahmen verringert werden kann.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Untergebrachten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück bei dem Amtsgericht Lingen vom 9. Mai 2011,

mit dem die Fortdauer der Unterbringung angeordnet worden ist,

aufgehoben.

Die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aus dem Urteil des Landgerichts Münster vom 4. Februar 1994 wird zum 31. August 2011 für erledigt erklärt.

Die Dauer der von Gesetzes wegen eintretenden Führungsaufsicht wird auf fünf Jahre bestimmt.

Die Sache wird zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Oldenburg zurückgegeben.

Die Kosten des Rechtsmittels, einschließlich der notwendigen Auslagen des Untergebrachten, fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

1

(für die Veröffentlichung vom Vorsitzenden leicht gekürzt)

2

Das Landgericht Münster verurteilte Herrn G. am 4. Februar 1994 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten und ordnete dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

3

Dem liegt zugrunde, dass Herr G. am 25. September 1993 eine Fußgängerin aus dem Auto heraus ansprach, worauf sie nicht reagierte. Er stieg aus, ging hinter ihr her, wobei er eine starke Erregung verspürte. Als er sie erreicht hatte, legte er seinen linken Arm um sie und versuchte, sie auf Mund und Wangen zu küssen. Die Frau wehrte sich und schrie laut, weshalb er ihr an den Hals griff und ihr den Mund zuhielt, weil sie stillhalten sollte. Er fasste ihr unter der Kleidung an die Brust, öffnete ihre Hose, betastete mit seiner Hand ihr Geschlechtsteil unter der Kleidung und führte ihre linke Hand an seinen erigierten Penis, nachdem er zuvor auch seine Hose geöffnet hatte. Die Frau sollte ihn durch Manipulation seines Penis sexuell befriedigen. Die sexuellen Handlungen währten einige Minuten, zum Samenerguss kam es nicht. Auch drang er mit einem Finger in ihre Scheide ein. Schließlich bot die Frau zum Schein ein Fortsetzen der sexuellen Aktivitäten an einem anderen Ort an. Der Verurteilte erkannte, dass dies nicht ernst gemeint war, ließ aber von seinem Opfer ab. Als sich ein Auto näherte, trat er die Flucht an. Eine kurz nach seiner Festnahme entnommene Blutprobe ergab eine mittlere Blutalkoholkonzentration von 1,04 g ‰.

4

Das Landgericht hat ferner festgestellt, Herr G. sei zur Tatzeit in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen. Er leide an einer schweren seelischen Abartigkeit "durch das Hervorbrechen seiner sexuellen Impulse, wenn er zur Unzeit seine gewöhnliche Sexualpartnerin nicht zur Hand habe". Der Alkohol habe die Tat nicht richtungweisend beeinflusst. es sei aber nicht auszuschließen, dass er zum Hemmungsabbau beigetragen habe. Es sei auch zukünftig mit gleichartigen rechtswidrigen Handlungen zu rechnen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Urteils verwiesen.

5

Zuvor war Herr G. mehrfach wegen im Wesentlichen gleichgelagerter Straftaten verurteilt worden:

6

Das Kreisgericht ErfurtNord verurteilte ihn 1983 wegen Nötigung zu sexuellen Handlungen (und mehrfachen Rowdytums) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. das Kreisgericht ErfurtMitte verhängte gegen ihn 1985 wegen Nötigung und Missbrauchs zu sexuellen Handlungen im schweren Fall eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten und 1988 wegen versuchter Nötigung zu sexuellen Handlungen im schweren Fall eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Die Vollstreckung der drei Strafen wurde jeweils zur Bewährung ausgesetzt. die Strafaussetzungen wurden jedoch in der Folgezeit widerrufen. 1990 verurteilte ihn das Kreisgericht ErfurtSüd wegen Nötigung und Missbrauchs zu sexuellen Handlungen im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr.

7

Die mit Urteil des Landgerichts Münster vom 4. Februar 1994 angeordnete Unterbringung des Herrn G. in einem psychiatrischen Krankenhaus wird - nach vorausgegangener Untersuchungshaft - seit dem 16. Mai 1994 vollzogen.

8

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück bei dem Amtsgericht Lingen hat mit Beschluss vom 9. Mai 2011, auf dessen Inhalt wegen der Einzelheiten verwiesen wird, die Fortdauer der Unterbringung angeordnet.

9

Hiergegen wendet sich Herr G. mit der sofortigen Beschwerde. Er ist insbesondere der Ansicht, die Fortdauer der Unterbringung sei nicht mehr verhältnismäßig.

10

Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg.

11

Allerdings ist der Strafvollstreckungskammer darin zuzustimmen, dass von Herrn G. infolge seines Zustandes - schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F 60.1). anamnestisch Frotteurismus (ICD 10: F 65.8) - auch zur Zeit noch die Begehung rechtswidriger Taten zu erwarten ist. Nach den letzten Stellungnahmen des Klinikums und insbesondere nach den eingehenden, den Senat überzeugenden Ausführungen des externen Sachverständigen Dr. med. Ge...besteht die Gefahr der Begehung ähnlicher Delikte, wie Herr G. sie früher - zuletzt 1993 - beging. So hat Dr. Ge... in seinem Gutachten ausgeführt, Herr G. habe sich bisher darauf beschränkt, Frauen (Zufallsopfer) festzuhalten und an intimen Stellen zu berühren. Obwohl es keine konkreten Hinweise gebe, dass ein Risiko für eine darüber hinausgehende Gewaltanwendung bestehe, sei ein solches naturgemäß auch nicht auszuschließen. In erster Linie seien Straftaten wie die bisherigen Delikte in Situationen zu erwarten, die durch das subjektive Gefühl der Kränkung und Verärgerung gekennzeichnet seien, wobei es angesichts der früheren Vorfälle keiner Ursachen bedürfe, die ein objektiv besonders hohes Gewicht aufwiesen, vielmehr genüge eine subjektiv starke Empfindung. Mit dem Auftreten solcher Auslösefaktoren muss aber auch künftig gerechnet werden.

12

Andererseits erzwingt es das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit staatlich erzwungener Freiheitsbeschränkungen, die Unterbringung eines Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nur so lange zu vollstrecken, wie der Zweck dieser Maßregel es unabweisbar erfordert. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und von welcher Art rechtswidrige Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Zu erwägen sind dabei das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bisher begangene Taten. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges (vgl. BVerfG NJW 1995, 3048). Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen. Die Dauer der Freiheitsentziehung ist mit den Anlasstaten und mit möglicherweise anderen im Falle einer Freilassung zu erwartenden Taten abzuwägen (vgl. Senat StV 2008, 593[OLG Oldenburg 01.09.2008 - 1 Ws 488/08]. KG StV 2007, 432[KG Berlin 07.06.2007 - 2 Ws 330/07]).

13

Eine nach diesen Grundsätzen durchgeführte Abwägung führt hier zur Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Vollziehung der Unterbringung.

14

Vom Verurteilten drohen Straftaten der bisher begangenen Art. Das ergibt sich nicht nur aus den Feststellungen des Sachverständigen, sondern auch daraus, dass alle früheren Taten des Verurteilten das gleiche Muster aufwiesen. In Rechnung zu stellen sind deshalb sexuelle Nötigungen der geschehenen Art. Das sind Sexualstraftaten, die - wenngleich sie im Einzelfall schwerwiegende Folgen zeitigen können - dem mittelschweren Bereich von Sexualdelikten zuzuordnen sind. Eine darüber hinausgehende Gewaltanwendung ist nicht vollends auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Sexualstraftaten an Kindern sind nicht zu erwarten.

15

Das Ausmaß der Wahrscheinlichkeit neuer Delinquenz des Verurteilten lässt sich nicht exakt quantifizieren, kann aber jedenfalls durch eine Ausgestaltung der Führungsaufsicht - etwa Therapieweisungen, eine besonders engmaschig geführte Bewährungshilfe und Fördern möglichst konfliktfreier Lebensbedingungen, eine Betreuerbestellung sowie durch präventive Maßnahmen - etwa nach der "Konzeption zum Umgang mit Rückfallgefährdeten Sexualstraftätern und Sexualstraftäterinnen in Niedersachsen" (KURS) günstig beeinflusst werden.

16

Der so zu umschreibenden vom Verurteilten ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit steht die extrem lange Dauer der bisher vollzogenen Unterbringung gegenüber, die inzwischen nicht nur das rund 5 1/2 fache der verhängten Freiheitsstrafe beträgt, sondern auch die Regelverbüßungszeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe deutlich übersteigt. Hinzu kommt, dass nach der Einschätzung des Sachverständigen, die dem bisherigen Behandlungsverlauf entspricht und den Senat überzeugt, von einer wesentlichen Besserung der Erkrankung und Verfassung des Verurteilten auch in der Zukunft realistischerweise nicht ausgegangen werden kann, so dass zu besorgen ist, dass die Unterbringung unabsehbar weiter vollstreckt wird, auch mit der Folge massiver Hospitalismusschäden.

17

Nach alledem erfordert es hier das Gebot der Verhältnismäßigkeit, die Vollziehung der Maßregel durch Erledigungserklärung gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 StGB zu beenden.

18

Die Erledigung der Maßregel wird allerdings erst mit Ablauf des August 2011 eintreten. Bis dahin wird das A. Klinikum die unabdingbaren entlassungsvorbereitenden Maßnahmen durchgeführt haben, die der Gefahr einer bei einer abrupten Entlassung aus der langdauernden Unterbringung noch erhöhten Gefahr neuer Straftaten begegnen können.

19

Mit der Erledigung tritt - dem gesetzlichen Grundsatz entsprechend - Führungsaufsicht ein, deren Dauer der Senat auf fünf Jahre festsetzt.

20

Da die nähere Ausgestattung der Führungsaufsicht durch Weisungen zur Behandlung, Lebensführung und Überwachung des Verurteilten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich ist, hat sie der Senat der zuständigen Strafvollstreckungskammer übertragen, vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2005, 338.

21

Die Strafvollstreckungskammer wird im Hinblick auf die gesetzlich angeordnete 2/3Anrechnung der vollzogenen Maßregel auf die erkannte Freiheitsstrafe nunmehr auch eine Entscheidung in Bezug auf den Strafrest zu treffen haben.

22

Die Kostenentscheidung entspricht § 467 Abs. 1 StPO.