Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 13.10.2009, Az.: 7 U 77/08
Höhe des Schmerzensgeldes bei längerer unfallbedingter Trennungszeit eines Kleinkindes von der Mutter
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 13.10.2009
- Aktenzeichen
- 7 U 77/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 37720
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2009:1013.7U77.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 26.09.2008 - AZ: 6 O 1495/07
Rechtsgrundlagen
- § 253 BGB
- § 847 BGB
Redaktioneller Leitsatz
Erleidet ein bei einem Verkehrsunfall verunglücktes Kind eine posttraumatische Belastungsstörung, weil es aufgrund der Unfallverletzungen der Mutter von dieser öfter getrennt wurde, so ist im Zusammenhang mit den erlittenen physischen Verletzungen (Schädelprellung mit dreitägigem Krankenhausaufenthalt) und dem groben Verschulden des Unfallgegners ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 EUR angemessen.
In dem Rechtsstreit
Insaf S., N Weg 27 a, 38302 W.,
vertreten durch die Eltern Frau Sawsan A. und Herrn Imad Mohamad Ali S., N Weg 27 a, 38302 W.,
Klägerin und Berufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Anwaltskanzlei SMR, O K 19, 37073 G.,
Geschäftszeichen: 07.0641m/20 mh
gegen
Ö,. Sachversicherung B., vertreten durch den Vorstand, T.-H.-Straße 10, 38122 B.,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Martin W., Am A. B 4 B, 38122 B.,
hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Dr. N. sowie den Richtern am Oberlandesgericht T. und Dr. J. auf die mündliche Verhandlung vom 22.9.2009 für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26.9.2008 teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin über das vom Landgericht Braunschweig zugesprochene Schmerzensgeld hinaus weitere 2.000,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.10.2007 an die Klägerin zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt die Klägerin zu 37,5 %, die Beklagte zu 62,5 %.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Parteien streiten über das Ausmaß der von der Klägerin aufgrund eines Verkehrsunfalls am 10.03.2005 erlittenen Unfallfolgen und die Höhe eines angemessenen Schmerzensgeldes.
Die am 01.05.2004 geborene Klägerin war am Tag des Unfalls etwas mehr als 10 Monate alt. Sie lag während des Unfallsgeschehens angeschnallt in einer Babyschale auf der Rückbank des Wagens ihres Vaters. Zum Unfall kam es, weil der später verstorbene Unfallgegner in einem unübersichtlichen Kurvenbereich mit überhöhter Geschwindigkeit den vor ihm fahrenden Pkw überholte und so mit dem Fahrzeug des Vaters der Klägerin frontal zusammenstieß.
Die ebenfalls im Wagen befindliche Mutter der Klägerin wurde bei dem Unfall schwer verletzt und musste sich vom 11.03. bis 15.06.2005, vom 02.01. bis 08.01.2006, vom 20.03. bis 05.04.2006, vom 07.04. bis 05.05.2006 und vom 14.08. bis 22.08.2006 unfallbedingt diverser stationärer Behandlungen unterziehen. Während dieser Aufenthalte war die Klägerin von ihrer Mutter getrennt.
Die Klägerin selbst ist vom 11. bis 13.3.2005 stationär behandelt worden und hat sich bei dem Unfall eine Schädelprellung sowie Prellmarken über der Nasenwurzel, am unteren rechten Auge und an der Stirn zugezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands erster Instanz, der dort gestellten Anträge sowie der rechtlichen Erwägungen des Landgerichts wird auf das (Schluss-)Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26.9.2008 Bezug genommen, mit dem das Landgericht die Beklagte unter Abweisung der weiter gehenden Klage verurteilt hat, über die bereits außergerichtlich gezahlten 800,- € hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von 1.200,- € an die Klägerin zu zahlen. Dem Urteil ist ein Teilanerkenntnisurteil vom 25.10.2007 vorausgegangen, mit dem festgestellt worden ist, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den durch den Unfall künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden sowie den bereits entstandenen materiellen Schaden zu ersetzen (Bl. 53 d.A.).
Mit der Berufung verlangt die Klägerin weitere 2.000,- € als Schmerzensgeld. Sie hält die vom Landgericht vorgenommene Schadensschätzung für ermessensfehlerhaft, da es nicht alle Umstände berücksichtigt und sie zum Teil falsch gewichtet habe. Die Klägerin rügt insbesondere, dass das Landgericht ihre vom Sachverständigen Graßmann festgestellte Bindungsstörung, die auf die lange unfallbedingte Trennung von der Mutter zurückzuführen sei, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht berücksichtigt habe. Außerdem habe sich die unfallbedingte Verzögerung der sprachlichen Entwicklung zu Unrecht nicht in der Höhe des Schmerzensgeldes niedergeschlagen. Schließlich rechtfertige die vom Sachverständigen festgestellte erhebliche posttraumatische Belastungsstörung ein höheres Schmerzensgeld, zumal nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Klägerin sich wegen deren Folgen einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen müsse.
Die Klägerin beantragt,
wie erkannt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld für ausreichend. Von einer erheblichen posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht ausgegangen werden. Die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen seien zweifelhaft. Ebenso wenig habe die Trennung von der Mutter zu einer erheblichen Gesundheitsbeschädigung geführt.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsschrift und die Berufungserwiderung verwiesen.
II. Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,-€, kann also unter Anrechnung des vorgerichtlich gezahlten Betrags von 800,- € und der vom Landgericht zugesprochenen 1.200,- € weitere 2.000,- € von der Beklagten verlangen (§§ 7 Abs. 1, 11 Satz 2 StVG sowie den §§ 823 Abs. 1 u. 2, 253 Abs. 2 BGB, 229 StGB i. V. m. § 3 Nr. 1 PflVG a. F.).
Die Schmerzensgeldhöhe muss unter umfassender Berücksichtigung aller für die Bemessung maßgebender Umstände festgesetzt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der Verletzung stehen (Palandt-Heinrichs, BGB, 68. Aufl., § 253 Rz. 16). Bei der danach erforderlichen Abwägung sind insbesondere folgende Umstände relevant:
1. Die von der Klägerin bei dem Unfall erlittenen physischen Verletzungen, also die Schädelprellung, die Prellmarken über der Nasenwurzel, am unteren rechten Auge und an der Stirn, die zu einem dreitägigen Krankenhausaufenthalt geführt haben, sind ebenso zu berücksichtigen, wie das erhebliche Verschulden des Unfallgegners, der den Unfall unstreitig durch sein grob verkehrswidriges Überholmanöver verursacht hat.
2. Weiter hat mit einzufließen, dass die Klägerin - wie vom Landgericht zutreffend zu Grunde gelegt - seit dem Unfall und damit seit etwa vier Jahren an einer posttraumatischen Belastungsstörung in Folge des Unfallgeschehens leidet. Dies steht nach dem erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Graßmann vom 13.04.2008 fest. Der Gutachter hat ausgeführt, die Klägerin habe durch den Verkehrsunfall und die damit verbundene Trennung von der Mutter über einen längeren Zeitraum eine eindeutig traumatische Erfahrung in frühesten Entwicklungsphasen gemacht. Sie zeige auch einige Symptome, mit denen in solchen Fällen zu rechnen sei, so dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung im Kindesalter (ICD-10: F43.1) gerechtfertigt erscheine (Seite 16 f. des Gutachtens). Zu diesen von dem Sachverständigen angesprochenen Symptomen gehören psychosomatische Bauch- und Kopfschmerzen, die Angst vor dem Alleinsein und dem Verlassenwerden sowie ein regressives Verhalten mit Blick auf die sprachliche Entwicklung. Der Sachverständige hat spezifische Ängste bezogen vor allem auf Trennungssituationen von den Eltern festgestellt (Seite 14 des Gutachtens) und von einer aktuell bestehenden Irritierbarkeit, Unsicherheit und Ängstlichkeit der Klägerin gesprochen (Seite 29 des Gutachtens). Auch die geschilderten Schlafstörungen sind auf den Unfall zurückzuführen (Seite 4 der Sitzungsniederschrift vom 25.08.2008).
3. Schließlich sind auch die bei der Klägerin vorhandene Bindungsstörung und die Verzögerung ihrer Sprachentwicklung, die das Landgericht nicht als schmerzensgeldrelevant angesehen hat, als Unfallfolgen zu behandeln und bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.
a) Nach dem Gutachten des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass sowohl die Bindungsstörung als auch - jedenfalls teilweise - die Sprachentwicklungsstörung letztlich auf den Unfall der Klägerin zurückzuführen sind.
Der Sachverständige hat festgestellt, dass sich die Klägerin bezüglich ihres Bindungsverhaltens gegenüber ihrem Vater bei der Exploration als sicher gebundenes Kind gezeigt habe, während in der Bindung zur Mutter immer wieder Unsicherheiten deutlich geworden seien (Seite 12 des Gutachtens). Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, gravierender als die posttraumatische Belastungsstörung werde die längerfristige krankheitsbedingte Abwesenheit der Mutter für die Entwicklung eines stabilen Bindungsverhaltens bei der Klägerin angesehen (Seite 17 des Gutachtens). Es gebe zwar keinen eindeutigen Hinweis auf eine manifeste Bindungsstörung, allerdings könne von einer allgemeinen Bindungsunsicherheit des Kindes ausgegangen werden, welche mit großer Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall zu verstehen sei, bei dem die Mutter in einer vulnerablen Entwicklungsphase bezüglich des Bindungsverhaltens ihrer Tochter nicht ausreichend habe präsent sein können (Seite 18 des Gutachtens). Da die Mutter aber ein sehr funktionales und kompetentes Verhältnis ihrer Tochter gegenüber zeige, sei derzeit noch keine weitergehende psychotherapeutische Behandlung indiziert. Erst wenn sich die Symptome, also der unsicherheitsvermeidende Bindungsstil gegenüber der Mutter (Seite 3 der Anhörung vom 25.08.2008) bis ins Vorschulalter fortsetzen sollte, wäre eine begleitende Spieltherapie in Erwägung zu ziehen (Seite 19 f. d. Gutachtens).
Andere Risikofaktoren als den Unfall, die zu einer Entwicklungsstörung hätten führen können, hat der Sachverständige nicht gefunden (Seite 4 der Anhörung vom 25.08.2008).
Zur Sprachentwicklung der Klägerin hat der Sachverständige ausgeführt, gemessen an ihrem Alter sei die zunehmende Verwendung von komplexen Mehrwortsätzen zu erwarten gewesen. Bei ihrem derzeitigen Sprachgebrauch mit Zwei- und Dreiwortsätzen ergebe sich dagegen ein Entwicklungsalter von ca. 2 1/2 Jahren und damit ein effektiver Entwicklungsrückstand von ca. 1 Jahr bezüglich der sprachlichen Entwicklung (Seite 8 des Gutachtens). Die aktive Sprachproduktion sowie die Artikulationsfähigkeit seien deutlich eingeschränkt, so dass die Sprache insgesamt nur schwer verständlich sei und die Eltern die Worte ihrer Tochter oftmals übersetzen müssten (Seite 13 des Gutachtens).
Allerdings hat der Sachverständige die sprachlichen Auffälligkeiten nicht ausschließlich auf den Unfall zurückgeführt, sondern auch darauf, dass beide Eltern deutlich Rücksicht auf die sprachlichen Probleme ihrer Tochter nehmen, was zu einer Aufrechterhaltung der Sprachentwicklungsstörung beitragen könne, und darauf, dass der Vater selbst nur gebrochen deutsch spreche und deshalb dazu tendiere, sich mit der Klägerin auf arabisch zu unterhalten. Durch den ständigen Wechsel der Sprache werde die Klägerin aber sehr wahrscheinlich zusätzlich verunsichert und in ihren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt (Seite 18 f. d. Gutachtens).
b) Sowohl die Bindungsstörung als auch die Verzögerung der Sprachentwicklung gehen zwar nur mittelbar auf den Unfall zurück, können aber gleichwohl der Beklagten zugerechnet werden.
Da die Bindungsstörung nach den Ausführungen des Sachverständigen auf die längerfristige krankheitsbedingte Abwesenheit der Mutter zurückzuführen ist, geht sie nur mittelbar auf den Unfall zurück. Sie beruht nicht auf eigenen Verletzungen der Klägerin, sondern auf der Trennung von der Mutter in Folge der Behandlung der von dieser selbst erlittenen Verletzungen.
Die gleiche gilt für die sprachliche Entwicklung der Klägerin. Der Sachverständige hat die sprachlichen Auffälligkeiten im Rahmen seiner Anhörung am 25.08.2008 zwar zunächst in einen Zusammenhang mit der posttraumatischen Belastungsstörung gestellt, die zu einem regressiven Verhalten führen könne (Seite 2 der Sitzungsniederschrift), dann aber auch ausgeführt, dass das Bindungsverhalten auf die gesamte Entwicklung, insbesondere auch auf die sprachliche Entwicklung große Auswirkungen habe (Seite 3 der Sitzungsniederschrift).
Damit liegt lediglich eine psychisch vermittelte Unfallkausalität vor, die eine Zurechnung jedoch nicht von vornherein ausschließt. Die Ersatzpflicht für einen Schaden hängt nicht notwendig davon ab, dass der Schädiger unmittelbar in ein Rechtsgut des Geschädigten eingegriffen hat. Auch bei naheliegenden psychischen Reaktionen eines Dritten kann der Schädiger für den daraus resultierenden Schaden ersatzpflichtig sein (MünchKommBGB-Oetker, 5. Aufl., § 249 Rn. 143). In der schadensrechtlichen Literatur wird diese Problematik üblicherweise unter dem Aspekt der sogenannten "Schockschäden" bei Tötung eines nahen Angehörigen diskutiert. Aber auch außerhalb der Tötung eines anderen, also bei sonstigen Ereignissen kommt eine Zurechnung in Betracht, weil seelische Erschütterungen auch in anderen Fällen als einer Tötung möglich sind (vgl. MünchKommBGB-Oetker, aaO., Rz. 148). Weiter kann es für die Zurechnung auch keine Rolle spielen, ob es sich um einen eigentlichen "Schock" handelt oder die psychischen Beeinträchtigungen anderer Natur sind (vgl. OLG Frankfurt, FamRZ 1999, 1064, Rz. 47 nach juris).
Die Zurechnung psychisch vermittelter Schäden ist an verschiedene Bedingungen geknüpft:
aa) Voraussetzung ist stets, dass es sich bei der psychisch vermittelten Beeinträchtigung um gewichtige psychopathologische Ausfälle von einiger Dauer handelt, die auch nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden. Es muss eine medizinisch konstatierbare Schädigung vorliegen (BGH, Urteil vom 04.04.1989 - VI ZR 98/88 - NJW 1989, 2317 [BGH 04.04.1989 - VI ZR 97/88]; MünchKommBGB-Oetker, aaO., Rz. 144).
Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die Entwicklungsstörungen der Klägerin Krankheitswert besitzen. Aus dem Gutachten ergibt sich dies zwar nur für die posttraumatische Belastungsstörung aus der Einordnung nach ICD-10. Der Sachverständige hat aber aus seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Sicht die Bindungsstörung für noch gravierender als die posttraumatische Belastungsstörung gehalten, so dass auch in der Bindungsstörung eine Entwicklung von Krankheitswert liegt. Hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung ist eine logopädische Behandlung empfohlen worden, was ebenfalls nur nötig ist, wenn man davon ausgeht, dass sich die Entwicklung außerhalb der normalen Bahnen bewegt und deshalb Krankheitswert besitzt.
bb) Weitere Voraussetzung für die Zurechnung ist, dass die psychisch vermittelte Beeinträchtigung im Hinblick auf den Anlass verständlich ist (Palandt/Heinrichs, aaO., Rz. 71 vor § 249). Das ist hier ebenfalls zu bejahen.
cc) Schließlich verlangt der Bundesgerichtshof einschränkend, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung nach Art und Schwere deutlich über das hinausgeht, was Nahestehende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen erfahrungsgemäß an Beeinträchtigungen erleiden (BGH, Urteil vom 04.04.1989 - VI ZR 97/88 - NJW 1989, 2317; Palandt/Heinrichs, aaO., Rz. 71 vor § 249; kritisch: MK-Oetker, aaO., Rz. 145).
Mit dieser Begründung hat das Landgericht die Berücksichtigung der Beziehungsstörung und der Sprachproblematik abgelehnt, weil die Reaktion im Wesentlichen derjenigen entspreche, die bei einem Kind nach einem Unfall oder einer Krankheit der Mutter zu erwarten sei. Dies wird nach Ansicht des Senats der vorliegenden Konstellation indes nicht gerecht. Üblicherweise führt eine mehrmonatige Trennung von nahen Angehörigen weder zu einer Beziehungsstörung noch zu einer sprachlichen Entwicklungsstörung. Dies mag bei Kindern im Alter der Klägerin anders sein, doch kann hierauf nicht das Fehlen des Zurechnungszusammenhangs gestützt werden. Kinder stehen gerade im Hinblick auf ihre besondere Verwundbarkeit und Verletzbarkeit unter dem besonderen Schutz der Rechtsordnung. Würde man hier den Schadensersatzanspruch im Hinblick auf die besondere Prädisposition von Kleinkindern verneinen, liefe das dem gesetzlichen Schutzgedanken zuwider. Im Ergebnis würde der Klägerin der gesetzliche Schutz in Form eines Schmerzensgeldanspruchs dann gerade aufgrund ihrer kindestypischen Verletzbarkeit versagt. Der Senat geht daher davon aus, dass die psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin deutlich über dem liegen, was nahestehende Angehörige üblicherweise erleiden.
c) Soweit der Sachverständige ausgeführt hat, die Sprachentwicklungsstörung beruhe neben dem Unfall auch auf der Rücksichtnahme der Eltern auf die sprachlichen Probleme ihrer Tochter und der zweisprachigen Erziehung, bedarf es nicht der Einholung eines sprachtherapeutischen Sachverständigengutachtens. Die Klägerin hat nicht hinreichend dargelegt, warum der Sachverständige Großmann als Kinder- und Jugendpsychiater über keine ausreichende Sachkunde verfügen soll, um die Sprachproblematik angemessen zu beurteilen. Der Sachverständige selbst hat offenbar keinerlei Probleme gesehen, sich auch zu dieser Thematik dezidiert zu äußern. Von daher liegen auch die Voraussetzungen des § 412 Abs. 1 ZPO nicht vor.
Davon abgesehen ist es allgemeinkundig (§ 291 ZPO), dass die sprachliche Entwicklung verzögert wird, wenn Eltern im Rahmen der Spracherziehung die fehlerhafte Aussprache ihres Kindes tolerieren und unverständliche Sätze Dritten gegenüber übersetzen, anstatt das Kind anzuhalten, sich um eine korrekte Aussprache und Formulierung zu bemühen.
Was die zweisprachige Erziehung angeht, wird der erstinstanzliche Gutachter so zu verstehen sein, dass diese sich nicht generell negativ auf die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten auswirkt, sondern nur in der besonderen Situation der Klägerin, bei der es sich um ein traumatisiertes, verängstigtes Kind handelt, welches so zusätzlich verunsichert wird. So verstanden ist der von der zweisprachigen Erziehung hier ausnahmsweise ausgehende negative Einfluss aber eine Folge des Unfalls. Zudem kommt auch eine Minderung des Schmerzensgeldanspruchs unter diesem Gesichtspunkt gem. den §§ 254, 278 BGB nicht in Betracht, weil dem Vater, der mit der Klägerin arabisch spricht, hieraus kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn er die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht.
4. Der weitere Sachvortrag der Klägerin, sie könne seit dem Unfallgeschehen laute Geräusche nur schwer tolerieren, erschrecke häufig übermäßig stark und verstecke sich dann, ist entgegen dem Vortrag in der Berufungsbegründung vom Landgericht berücksichtigt worden. Hierbei handelt es sich nämlich letztlich um einen Ausdruck der allgemeinen Ängstlichkeit der Klägerin.
Der Einholung eines HNO-Sachverständigengutachtens wegen des Verdachts auf einen Hörfehler bedarf es auch insoweit nicht. Zum einen liegt hierin eine unbeachtliche Behauptung ins Blaue hinein, zum anderen müsste ein Hörfehler eher dazu führen, dass die Klägerin (selbst laute) Geräusche gerade nicht hört.
5. Was die Höhe des Schmerzensgeldes angeht, lassen sich Entscheidungen, die mit der Art des Vorfalls und der erlittenen Beeinträchtigungen vergleichbar sind, kaum finden. Im Wesentlichen ist es nur möglich, den Schweregrad der Beeinträchtigungen der Klägerin zu anderen Entscheidungen in Beziehung zu setzen und so Anhaltspunkte für die Höhe des Schmerzensgeldes zu gewinnen.
Insoweit kommen etwa in Betracht:
- Urteil des OLG Stuttgart vom 31.10.1991 - 14 U 14/91 - VersR 1992, 1013:
8.000,00 DM Schmerzensgeld für einen Säugling, der sich in den ersten Lebensmonaten in Folge schuldhaft unterlassener Vitamin-K-Prophylaxe einer stationären Krankenhausbehandlung, durch die er von den Eltern getrennt wurde, und anschließend für mehrere Monate einer schmerzhaften Krankengymnastik unterziehen musste. Hinzu kam die Unsicherheit des weiteren Krankheitsverlaufs.
- Urteil des OLG Frankfurt vom 15.12.1998, 8 U 137/98 - FamRZ 1999, 1064:
20.000,- DM bei traumatischer Schädigung eines 6-jährigen Kindes beim Tod der Mutter durch ärztlichen Behandlungsfehler nach jahrelangem Siechtum.
Aus Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeld Beträge 2009, 27. Aufl.:
- Lfd. Nr. 953, Landgericht Berlin, Urteil vom 23.04.1996, NZV 1997, 45 [LG Berlin 23.04.1996 - 31 O 346/95]:
3.500,00 € nach unfallbedingter Fehlgeburt in der 11. Woche, für eine schwangere Frau, die nach dem Unfall unter depressiven Verstimmungen (häufiges Weinen, Schlafstörung, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit etc.) litt und nach drei Jahren ihren Beruf aufgab.
- Lfd. 1028, Amtsgericht Köln, Urteil vom 25.02.1999:
4.000,00 € wegen schwerer Angstzustände und Panikanfälle, die von einer psychosomatischen Symptomatik begleitet waren (Herzbeschwerden, Unruhezustände, Schlafstörung, Kopfschmerzen) und sich auf die Dauer von zwei Jahren erstreckten sowie psychologisch behandelt wurden.
- Lfd. Nr. 1165, Landgericht Heidelberg, Urteil vom 12.01.1999:
5.000,00 € im Hinblick auf zwei Hundebissverletzungen im Bereich der rechten Gesichtshälfte mit zweiwöchigen Schmerzen, zwei entstellenden Gesichtsnarben mit einer Länge von 1-1,5 cm und psychischen Folgewirkungen in Form erheblicher psycho-pathologischer Veränderungen, die eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich machten.
- Lfd. Nr. 1235, OLG Hamm, Urteil vom 02.04.2001, NZV 2002, 36 [OLG Hamm 02.04.2001 - 6 U 231/00]:
5.000,00 € im Hinblick auf einen Unfallschock mit chronisch-psycho-physischem Erschöpfungszustand und Angstzuständen sowie psychosomatischen Beschwerden als Dauerschaden. Außerdem musste der Kläger frühpensioniert werden.
Bei diesen Entscheidungen ist zu berücksichtigen, dass sie zum Teil erhebliche Zeit zurückliegen, so dass bei einem Vergleich mit dem vorliegenden Fall die zwischenzeitliche Geldentwertung zu beachten ist. Außerdem sind die wiedergegebenen Fälle in ihren Auswirkungen überwiegend deutlich gravierender als bei der Klägerin.
Unter Berücksichtigung der aufgeführten schmerzensgeldrelevanten Umstände und mit Blick auf die Rechtsprechung in Fällen von psychischen Beeinträchtigungen mit Krankheitswert hält der Senat ein Schmerzensgeld von 4.000,00 € für angemessen. Abgedeckt sind damit auch eventuelle psychotherapeutische Behandlungen, wie sie vom Sachverständigen für den Fall in Erwägung gezogen worden sind, dass die Symptome der Bindungsstörung bis in das Vorschulalter hinein andauern sollten.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO, die Entscheidung übe die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, 713 ZPO.