Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.10.2008, Az.: 6 B 267/08
Ausreisefrist; Kind; Rechtsschutz, vorläufiger; Verzicht
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 09.10.2008
- Aktenzeichen
- 6 B 267/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 45043
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2008:1009.6B267.08.0A
Rechtsgrundlagen
- 36 IV 1 AsylVfG
- 38 I AsylVfG
- 38 II AsylVfG
- 14a IIi AsylVfg
- 80 V VwGO
Amtlicher Leitsatz
Verzichtet der gesetzliche Vertreter des Kindes gemäß § 14a Abs. 3 AsylVfG auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind, so hat das Bundesamt dem Kind eine Ausreisefrist von einem Monat zu setzen, die bei Klageerhebung mit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens beginnt. Die Regelung in § 38 Abs. 2 AsylVfG, der eine Ausreisefrist von einer Woche vorsieht, ist in diesen Fällen nicht anwendbar.
Gründe
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der von der Antragstellerin erhobenen Klage, die sich ausschließlich gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin verfügte Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides wendet, ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft und auf dieser Grundlage auch im Übrigen zulässig. Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung, weil die Antragsgegnerin die angegriffene einwöchige Ausreisefrist auf § 38 Abs. 2 AsylVfG gestützt hat. Aufschiebende Wirkung haben Klagen im Asylverfahrensrecht nach § 75 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO nur in den Fällen des § 38 Abs. 1 AsylVfG (Abschiebungsandrohung mit einmonatiger Ausreisefrist) und des § 73 AsylVfG (Widerruf oder Rücknahme von Entscheidungen). Im Asylverfahren kann die Ausreisefrist auch unabhängig von der Abschiebungsandrohung (§ 34 AsylVfG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG) zum Gegenstand eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gemacht werden (vgl. BVerwG, U.v. 03.04.2001 - 9 C 22/00 -, Rn. 9 = BVerwGE 114, 122 ff. [BVerwG 03.04.2001 - 9 C 22/00] ).
Der Antrag ist auch begründet. Die Maßstäbe für die Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bestimmen sich im Fall eines Eilantrages gegen eine nach § 38 Abs. 2 AsylVfG verfügte Ausreisefrist nicht nach der Regelung in § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG, die nur für als offensichtlich unbegründet oder unbeachtlich abgelehnte bzw. diesen insoweit ausdrücklich gleichgestellte Asylanträge gilt. Vielmehr gelten insoweit die allgemeinen prozessrechtlichen Regeln (ebenso Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand Juni 2008, § 36 Rn. 4 f. und § 38 Rn. 19; s. auch VG Arnsberg, B.v. 29.06.2006 - 9 L 569/06.A - Rn. 5; a.A. VG Göttingen, B.v. 14.12.2007 - 4 B 172/07 -, www. dbovg. niedersachsen.de, im Folgenden: dbovg). Danach kann das Gericht in einem solchen Fall die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass die Klage mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Erfolg haben und das Interesse des Antragstellers an einem Aufschub der Maßnahme daher das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung überwiegen wird (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl., Rn. 968 und 982). Diese Interessenabwägung fällt hier zulasten der Antragsgegnerin aus, weil sie der Antragstellerin zu Unrecht eine einwöchige Ausreisefrist gesetzt hat.
Die von der Antragsgegnerin angeführte Regelung in § 38 Abs. 2 AsylVfG scheidet als Rechtsgrundlage aus. Die Mutter der Antragstellerin hat für diese nach § 14a Abs. 3 AsylVfG auf die Durchführung eines Asylverfahrens verzichtet. In einem solchen Fall gilt nicht die einwöchige Ausreisefrist nach § 38 Abs. 2 AsylVfG, sondern eine Ausreisefrist von einem Monat, die im Fall der Klageerhebung - wie hier - mit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens beginnt (§ 38 Abs. 1 AsylVfG; ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 11.08.2006 - 1 A 1437/06.A - ; VG Arnsberg, B.v. 29.06.2006 - 9 L 569/06.A - ; VG Düsseldorf, U.v. 14.02.2007 - 4 K 80/07.A - ; VG Gelsenkirchen, B.v. 27.12.2006 - 1a L 1274/06.A - ; VG Göttingen, B.v. 14.12.2007 - 4 B 172/07 -, dbovg; VG Münster, U.v. 02.11.2007 - 8 K 98/07.A - ; VG Oldenburg, U.v. 10.01.2008 - 11 A 443/07 - ; VG Osnabrück, B.v. 28.06.2007 - 5 B 69/07 - ; VG Schwerin, U.v. 08.01.2007 - 7 A 1113/06 As - ; VG Würzburg, U.v. 19.11.20007 - W 7 K 06.30299 - ; a.A. VG Wiesbaden, U.v. 30.06.2005 - 1 E 714/05.A - ; VG Würzburg, B.v. 26.10.2006 - W 7 S 06.30300 - , Rspr. aufgegeben durch U.v. 19.11.20007 - W 7 K 06.30299 - ; Funke-Kaiser, a.a.O., § 38 Rn. 13; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 32 AsylVfG Rn. 6).
§ 38 Abs. 2 AsylVfG bestimmt, dass die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist im Fall der Rücknahme des Asylantrages vor der Entscheidung des Bundesamtes eine Woche beträgt. Diese Regelung ist schon nach ihrem insoweit klaren Wortlaut nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar.
Die Antragstellerin hat keinen Asylantrag gestellt, den sie hätte zurücknehmen können. Ihr Antrag wurde nach den Regelungen in § 14a AsylVfG lediglich als gestellt angesehen (fingiert). Eine derartige Antragsfiktion kann einem Asylantrag nicht gleichgesetzt werden (s. auch BVerwG, U.v. 21.11.2006 - 1 C 10.06 - Rn. 39 = BVerwGE 127, 161 ff. ). Dementsprechend verwendet auch das Asylverfahrensgesetz in § 14a Abs. 3 nicht den Begriff der Rücknahme, sondern spricht von einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens. Auch sonst unterscheidet das Asylverfahrensgesetz begrifflich zwischen Rücknahme und Verzicht. So werden in § 32 Satz 1 und § 71 Abs. 1 AsylVfG Rechtsfolgen ausdrücklich sowohl für den Fall der Antragsrücknahme als auch für den Verzicht nach § 14a Abs. 3 angeordnet. Eine solche ausdrückliche Gleichstellung hat der Gesetzgeber in § 38 Abs. 2 AsylVfG gerade nicht vorgenommen.
Dieser Befund wird durch die Entstehungsgeschichte der Regelungen bestätigt. § 14a wurde durch das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in das Asylverfahrensgesetz eingefügt. Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber den Verzicht (Abs. 3 des § 14a) als neues Rechtsinstitut eingeführt und andere Vorschriften angepasst. Die Bestimmungen des § 38 Abs. 2 AsylVfG sind jedoch auch durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) unverändert geblieben, obwohl die juristische Diskussion um die bei einer Verzichtserklärung zu bestimmende Ausreisefrist seinerzeit bereits geführt wurde und in diesem Gesetz gerade auch die Vorschriften über den fingierten Asylantrag nach § 14a AsylVfG modifiziert worden sind.
Die Anwendung des § 38 Abs. 1 AsylVfG widerspricht auch nicht dem Zweck der Antragsfiktion nach § 14a AsylVfG. Mit dieser Regelung soll lediglich verhindert werden, dass durch sukzessive Antragstellung für die Betroffenen überlange Aufenthaltszeiten in der Bundesrepublik ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive entstehen (vgl. BVerwG, a.a.O, Rn. 30 f.). Dieser Zweck wird durch die Regelungen in den §§ 14a und 71 Abs. 1 AsylVfG auch dann erreicht, wenn im Falle eines Verzichts auf die Durchführung des Asylverfahrens nach § 14a Abs. 3 AsylVfG eine Ausreisefrist von einem Monat gilt (s. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).
Auch eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 2 AsylVfG kommt nicht in Betracht. Dafür fehlt es bereits an der erforderlichen Regelungslücke, also einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes. Das Asylverfahrensgesetz regelt in § 38 Abs. 1 die Ausreisefrist in "sonstigen" Fällen, stellt also gerade für die nicht ausdrücklich geregelten Konstellationen eine Auffangregelung zur Verfügung. Für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers, d.h. für die versehentlich unterbliebene Erwähnung des Verzichts in § 38 Abs. 2 AsylVfG, gibt es nach den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte. Im Übrigen käme eine Analogie nur in Betracht, wenn der vorliegende Sachverhalt in allen nach dem Sinnzusammenhang der gesetzlichen Regelung maßgeblichen Hinsichten mit den vom Gesetzeswortlaut umfassten Fällen übereinstimmen würde und daher zwingend gleich zu behandeln wäre. Dies ist nicht der Fall. Die Fallkonstellationen von Verzicht und Antragsrücknahme unterscheiden sich so erheblich, dass eine unterschiedliche Regelung der Ausreisefrist gerechtfertigt ist. Im Fall des Verzichts nach § 14a Abs. 3 AsylVfG wird nicht ein durch den Erklärenden selbst in Gang gesetztes, sondern ein durch Antragsfiktion eingeleitetes Asylverfahren beendet. Die Möglichkeit des Verzichts stellt sicher, dass die von der Antragsfiktion betroffenen Kinder durch ihre zur Verzichtserklärung befugten gesetzlichen Vertreter die Dispositionsbefugnis über die Geltendmachung des Asylgrundrechts behalten; dies ist ein Gesichtspunkt, der für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der in § 14a AsylVfG normierten Regeln von wesentlicher Bedeutung ist und auch in den Gesetzesmaterialien hervorgehoben wird (vgl. Bundestags-Drucksache 15/420, S. 108; VG Braunschweig, U.v. 22.04.2008 - 6 A 14/06 -; Bodenbender in: GK-AsylVfG, Stand Juni 2008, § 14a Rn. 30). Das System der aufenthalts- und asylverfahrensrechtlichen Regeln enthält Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber den Ausländer, dessen Asylantrag als gestellt gilt, im Fall der Verzichtserklärung aufenthaltsrechtlich bewusst nicht vollständig gleich behandeln, sondern teilweise privilegieren wollte (s.a. § 10 Abs. 3 AufenthG).