Amtsgericht Neustadt am Rübenberge
Urt. v. 27.03.1995, Az.: 27 C 2380/94
Anspruch auf Räumung einer Wohnung nach wirksamer Kündigung; Vorliegen eines berechtigten Interesses zur Kündigung von Wohnraum durch eine Gemeinde; Benötigung der Räume zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe; Verpflichtung einer Gemeinde zur Schaffung ausreichender Kindergartenplätze; Baurechtliche Bedenken gegen den Bau eines Kindergartens; Verpflichtung zum Angebot einer Ersatzwohnung
Bibliographie
- Gericht
- AG Neustadt am Rübenberge
- Datum
- 27.03.1995
- Aktenzeichen
- 27 C 2380/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 20001
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:AGNEUST:1995:0327.27C2380.94.0A
Rechtsgrundlagen
- § 564b Abs. 1 BGB
- § 24 Abs. 1 SGB VIII
- § 296a ZPO
Fundstelle
- NJW-RR 1996, 397 (Volltext mit red. LS)
Prozessführer
...,
vertreten durch den Stadtdirektor, ...
Prozessgegner
1. Herr ...,
2. Frau ...,
In dem Rechtsstreit
hat das Amtsgericht Neustadt a. Rbge.
auf die mündliche Verhandlung vom 6. März 1995
durch
den Richter am Amtsgericht Dr. ...
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, die Wohnung im Dachgeschoß des im Eigentum der Klägerin stehenden Gebäudes ... nebst sämtlichen Nebengelassen zu räumen und an die Klägerin geräumt herauszugeben.
- 2.
Den Beklagten wird eine Räumungsfrist bis zum 30.06.1995 gewährt.
- 3.
Den Beklagten werden die Kosten des Rechtsstreits als Gesamtschuldner auferlegt.
- 4.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 3.000,00 DM abzuwenden, wenn die Klägerin nicht vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Räumung einer Wohnung in Anspruch.
Die Klägerin hat den Beklagten mit Vertrag vom 14.06.1974 eine Wohnung ... vermietet. Zuvor war der Beklagten zu 2. im Jahr 1968 von der Rechtsvorgängerin der Klägerin, der Gemeinde ..., die Wohnung für eine monatliche Miete von 60,00 DM zur Verfügung gestellt worden. Auf den Mietvertrag und das Schreiben der Gemeinde ... vom 30.12.1968 wird verwiesen (Bl. 9 ff., Hülle Bl. 88 d. A.).
Im Erdgeschoß des Hauses betreibt die Klägerin einen Kinderspielkreis, in dem zur Zeit zwei Gruppen mit je 20 Kindern betreut werden. Nebenräume, wie ein Mitarbeiter- und ein Kleingruppenraum, stehen nicht zur Verfügung. Ebenso fehlt ein Mehrzweckraum. Acht Kinder konnten bisher wegen fehlender Spielkreisplätze nicht in den Spielkreis aufgenommen werden. Bis zum Jahr 1998 werden im Ortsteil ... ständig mehr als 40 Kinder im kindergartenfähigen Alter sein. Das Landesjugendamt hat den Spielkreis am 14.12.1993 besichtigt und u.a. festgestellt, die Umwandlung des Spielkreises in einen Kindergarten scheitere noch an der nicht frei zu bekommenden Wohnung im Obergeschoß, d.h. der von den Beklagten gemieteten Wohnung.
Die Klägerin kündigte den Mietvertrag mit Schreiben vom 27.09.1993 zum 30.09.1994. Auf das Schreiben wird Bezug genommen (Bl. 13 ff. d. A.). Die Beklagten haben der Kündigung widersprochen.
Die Klägerin trägt vor,
sie wolle im Dachgeschoß nach Räumung durch die Beklagten einen Abstellraum, einen Personal-/Büroraum, eine Teeküche und einen Mehrzweckraum errichten. Anderenfalls könne der Spielkreis nicht in einen Kindergarten umgewandelt werden. Der Neubau eines Kindergartens sei ihr, der Klägerin, finanziell nicht zumutbar.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Wohnung im Dachgeschoß des im Eigentum der Klägerin stehenden Gebäudes ... nebst sämtlichen Nebengelassen zu räumen und an die Klägerin geräumt herauszugeben.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten sind der Auffassung,
eine Kündigung wegen öffentlichen Bedarfs sei nur zulässig, wenn der Wohnraum erneut als solcher genutzt werde. Ferner müsse Ersatzwohnraum angeboten werden. Sie behaupten, die von der Klägerin geplante Umnutzung sei baurechtlich nicht zulässig. Die damit verbundenen Kosten würden diejenigen eines Anbaus deutlich überschreiten. Letztlich stelle die Kündigung für sie, die Beklagten, eine soziale Härte dar. Insoweit wird auf Bl. 2 und 3 der Klageerwiderung (Bl. 43 f. d. A.) Bezug genommen.
Wegen des weiteren Parteivortrages wird auf den gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist zulässig. Es handelt sich um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit, für die nach § 13 GVG die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, hier nach § 23 Nr. 2 a GVG die Zuständigkeit des Amtsgerichts, gegeben ist. Zwischen den Parteien besteht ein Mietvertrag im Sinne von § 535 BGB. Den Beklagten ist die Wohnung nicht als Dienstwohnung zugewiesen, so daß auch nicht die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nach § 40 Abs. 1 VwGO gegeben ist. Das Bestehen eines Mietverhältnisses ergibt sich zunächst aus dem Vertrag vom 14.06.1974. Darüber hinaus ist der Beklagten zu 2. auch nicht durch die Rechtsvorgängerin der Klägerin die Wohnung als Dienstwohnung zugewiesen worden. Im Schreiben der Gemeinde ... vom 30.12.1968 heißt es nämlich, daß die Wohnung für eine monatliche Miete zur Verfügung gestellt wird und das Mietverhältnis am 01.01.1969 beginne. Somit hatte auch die Rechtsvorgängerin der Klägerin bereits ein Mietverhältnis begründet, nicht jedoch eine Dienstwohnung zugewiesen.
II.
Die Klage ist auch begründet.
1.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Räumung der Wohnung aus § 556 Abs. 1 BGB. Das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis ist durch die Kündigung der Klägerin vom 27.09.1993 form- und fristgerecht, §§ 564 a Abs. 1, 565 Abs. 2 BGB, beendet worden.
2.
Nach § 564 b Abs. 1 BGB kann ein Vermieter ein Mietverhältnis über Wohnraum nur kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Der Klägerin steht ein solches berechtigtes Interesse zu. Das Gesetz nennt in § 564 b Abs. 2 BGB Beispielsfälle für ein berechtigtes Interesse. Diese Aufzählung ist jedoch nicht abschließend. Der Vermieter darf ein Mietverhältnis nach Abs. 1 der genannten Vorschrift fristgerecht kündigen, wenn er hieran ein berechtigtes Interesse hat, das ebenso schwer wiegt in den Fällen des Abs. 2 (Bub/Treier/Grapentien, 2. Auflage, Rn. IV 85). Eine Gemeinde, die ein Mietverhältnis über Wohnraum kündigt, kann sich zur Begründung des berechtigten Interesses darauf berufen, daß sie den Raum zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben benötigt (BayOblG, NJW 1981, 580). Allerdings genügt nicht jedes öffentliche Interesse. Dieses muß ein so erhebliches Gewicht haben, daß es gegenüber dem allgemeinen Interesse des Mieters am Fortbestand des Mietverhältnisses überwiegt. Das geplante Vorhaben muß einem dringenden öffentlichen Bedürfnis entsprechen. Ob diese Voraussetzung vorliegt, hat das mit der Räumungsklage befaßte Gericht in eigener Zuständigkeit zu überprüfen (OLG Frankfurt, WuM 1981, 126, 127; LG Bochum, WuM 1989, 242 [LG Bochum 13.12.1988 - 11 S 227/88]). Ferner muß der Tatrichter beurteilen, ob die Räume zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe tatsächlich benötigt werden. Dabei braucht der Bedarf für öffentliche Zwecke nicht dringend zu sein, ausreichend sind vernünftige, billigenswerte Gründe an der Erlangung der Räume (BayOblG, a.a.O. S. 583).
Die genannten Voraussetzungen bei einer Kündigung nach § 564 b Abs. 1 BGB seitens einer Gemeinde gelten auch unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung Eigentum im Sinne von Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist. Daraus folgt nämlich nicht, daß in Konflikt zwischen dem Eigentumsrecht des Vermieters und dem Eigentumsschutz des Mieters das Bestandsinteresse des Mieters in jedem Falle vorgeht. Für die Regelfälle ordentlicher Kündigungen hat der Gesetzgeber die notwendige Interessenabwägung in den §§ 564 b, 556 a BGB bereits vorgenommen. Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des § 564 b Abs. 1 die durch die Eigentumsgarantie gezogenen Grenzen zu beachten und müssen die im Gesetz zum Ausdruck kommende Interessenabwägung so nachvollziehen, daß der beiderseitige Eigentumsschutz berücksichtigt wird und unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen vermieden werden (Bundesverfassungsgericht, NJW 1993, 2035, 2036) [BVerfG 26.05.1993 - 1 BvR 208/93].
3.
Die Klägerin kann sich hier zur Begründung der Kündigung auf eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung berufen. Gemäß § 24 Abs. 1 SGB VIII in der bis zum 31.12.1995 gültigen Fassung hat ein Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an nach Maßgabe des Landesrechts Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. In Niedersachsen ist dieser Anspruch mit § 12 Abs. 1 KiTaG umgesetzt, wonach sich der Anspruch auf einen Platz in einer Vormittagsgruppe eines Kindergartens oder einer dem Kindergarten entsprechenden kleinen Kindertagesstätte richtet. Der Anspruch ist gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, in der sich das Kind gewöhnlich aufhält. Nur hilfsweise kann nach § 12 Abs. 3 KiTaG der Rechtsanspruch auch durch das Angebot eines Platzes in einem Kinderspielkreis erfüllt werden, wenn ein ausreichendes Angebot an Plätzen nicht zur Verfügung steht. Die Klägerin ist somit grundsätzlich verpflichtet, ausreichend Kindergartenplätze anzubieten. Dabei kommt für die Klägerin die örtlich bedingte, dem Gericht wie den Parteien bekannte Schwierigkeit hinzu, daß die Gemeinde ... eine Vielzahl von zum Teil sehr weit auseinander liegenden Ortsteilen hat, so daß zumindest in den größeren Ortsteilen wie ... eigene Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden müssen, weil die Kinder nicht darauf verwiesen werden können, zum Kindergarten einen langen Anreiseweg in Anspruch zu nehmen. Daraus ergibt sich, daß die Klägerin auch im Ortsteil ... grundsätzlich einen Kindergarten einrichten muß.
Das Gericht hat keinen Zweifel daran, daß die Klägerin nach Räumung der Wohnung durch die Beklagten die Räume so ausbauen wird, daß sie einen Kindergarten unterhalten kann. Schon aus dem unstreitigen Vermerk des Landesjugendamts über die Besichtigung am 14.12.1993 ergibt sich, daß der Umwandlung in einen Kindergarten noch der durch die im Obergeschoß belegte Wohnung bedingte Platzmangel entgegen steht. Die Klägerin hat auch bereits in der mündlichen Verhandlung bei der sich aus dem Protokoll ergebenden Erörterung der Sach- und Rechtslage klargestellt, daß sie vorrangig die Umwandlung in einen Kindergarten erstrebt. Auf den nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 08.03.1995 kommt es somit nicht an. Die Klägerin hat ferner dargelegt, wie der Umbau sich vollziehen soll, damit die Voraussetzung für die Schaffung eines Kindergartens erfüllt werden können. In dem Kindergarten könnten mehr als die derzeit vorhandenen 40 Plätze zur Verfügung gestellt werden, was angesichts der Bevölkerungsentwicklung im Ortsteil ... dringend erforderlich erscheint.
Der Vortrag der Beklagten zur baurechtlichen Unzulässigkeit des Ausbaus der Wohnung aus dem Schriftsatz vom 16.03.1995 wird nach § 296 a ZPO nicht berücksichtigt. Die Beklagten hatten ihre baurechtlichen Bedenken in der Klageerwiderung sehr wenig substantiiert, so daß diesen nicht nachgegegangen zu werden braucht. Ihnen war dann mit Beschluß vom 06.03.1995 Schriftsatznachlaß gewährt worden, § 283 ZPO, jedoch nur zur Frage der Dienstwohnung sowie auf den neuen Vortrag im Schriftsatz der Klägerin vom 20.02.1995. Damit war den Beklagten nicht die Möglichkeit eröffnet, zu weiteren Gesichtspunkten unbeschränkt neu vorzutragen.
Unerheblich ist, ob die Klägerin die Möglichkeit hätte, durch einen An- oder Neubau ebenfalls einen Kindergarten zu schaffen. Zwar muß, wie ausgeführt, das Gericht prüfen, ob die Räume zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben tatsächlich benötigt werden. Ebenso wie bei der Eigenbedarfskündigung nach § 564 b Abs. 2 Nr. 2 BGB steht es dem Gericht jedoch nicht zu, seine eigenen Vorstellungen an die Stelle der Planung des Eigentümers zu setzen (vgl. Bundesverfassungsgericht, NJW 1994, 2605 [BVerfG 30.06.1994 - 1 BvR 2048/93]). Ausreichend sind auch hier vernünftige, billigenswerte Gründe an der Erlangung der Räume, die die Klägerin dargelegt hat.
Ferner ist die Klägerin nicht verpflichtet, den Beklagten Ersatzwohnraum anzubieten. Die Beklagten beziehen sich hier offenbar auf die Auflagen bei einer Genehmigung der Zweckentfremdung von Wohnraum. Hier handelt es sich jedoch um eine öffentlich-rechtliche Genehmigung unter Auflagen, deren Voraussetzungen für die Kündung von Wohnraum nicht entsprechend anzuwenden sind. Ob es im Hinblick auf die normalerweise nach einem über 20jährigen Mietverhältnis zwischen den Mietparteien bestehende Verbundenheit für die Klägerin nahegelegen hätte, den Beklagten bei der Suche von Ersatzwohnraum behilflich zu sein und ihnen etwas mehr anzubieten als die Unterkunft in einem Schlichtwohnungsbau, ist hier nicht zu entscheiden. Zwar wird in der neueren Rechtssprechung zunehmend die Fürsorgepflicht des Vermieters für den Mieter betont (vgl. z.B. Landgericht Hannover, WuM 1994, 424 f.). Die Fürsorgepflicht des Vermieters geht jedoch nicht so weit, daß dieser bei einer berechtigten Kündigung grundsätzlich verpflichtet ist, Ersatzwohnraum anzubieten.
4.
Die Beklagten können der Kündigung nicht nach § 556 a Abs. 1 BGB widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen. Voraussetzung hierfür wäre, daß die vertragsmäßige Beendigung des Mietverhältnisses für die Beklagten bzw. die gesamte Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen der Klägerin nicht zu rechtfertigen wäre. Eine solche Härte liegt hier nicht vor. Zwar hat die Beklagte zu 2. unwidersprochen vorgetragen, chronisch erkrankt und deshalb darauf angewiesen zu sein, nahe an ihrem Arbeitsplatz zu wohnen. Dies schließt es jedoch nicht aus, daß die Beklagte beispielsweise in der Kernstadt von ... eine Wohnung bezieht, von wo aus sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach ... gelangen kann. Die Kinder der Beklagten befinden sich, wie in der mündlichen Verhandlung noch einmal festgestellt wurde, in einem Alter, in dem sie ständiger Betreuung durch die Eltern nicht mehr bedürfen. Vielmehr dürfte abzusehen sein, daß die Kinder den Haushalt der Beklagten demnächst verlassen werden. Den Beklagten ist es somit zuzumuten, sich eine andere Wohnung im Raum ... zu suchen. Sie werden zwar einen entsprechend günstigen Wohnraum wohl kaum finden, insgesamt hat sich das Angebot jedoch durch die erhebliche Neubautätigkeit der letzten Jahre sehr verbessert.
III.
Die Beklagten sind somit antragsgemäß zur Räumung zu verteilen. Gemäß § 721 ZPO hat das Gericht von Amts wegen auch ohne entsprechenden Antrag eine Räumungsfrist festgesetzt, wobei drei Monate ausreichend erschienen, da die Beklagten bereits durch die sehr lange Stundigungfrist geschützt waren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 7, 711 ZPO.