Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 19.01.2023, Az.: 1 Ws 309/22

Statthafte sofortige Beschwerde gegen fehlende Entscheidung im Urteil über Kosten der Nebenklage; Grundsätzliche Kostenlast des Angeklagten für notwendige Auslagen des Nebenklägers; Ausnahmsweise kein Kostenerstattungsanspruch des Nebenklägers bei fehlender Veranlassung des Angeklagten; Mitverschulden des Verletzten als Kostenablehnung beim Nebenkläger

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
19.01.2023
Aktenzeichen
1 Ws 309/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 28909
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 19.10.2022 - AZ: 15 Ns 129/22

Fundstellen

  • AGS 2023, 80-81
  • StRR 2023, 2-4
  • StRR 2023, 5
  • VRR 2023, 4-5
  • VRR 2023, 17-19
  • ZAP EN-Nr. 142/2023

Redaktioneller Leitsatz

Gemäß § 473 Abs. 1 S. 2 StPO hat der Angeklagte bei Erfolglosigkeit seines Rechtsmittels grundsätzlich die notwendigen Auslagen des Nebenklägers zu tragen. Eine Ausnahme besteht, wenn der Angeklagte keinen genügenden Anlass für einen Anschluss des Nebenklägers gegeben hat oder ihn selbst ein Mitverschulden trifft.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers wird die mit dem Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 19. Oktober 2022 getroffene Kostenentscheidung (Az.: 15 Ns 129/22) dahin ergänzt, dass die Angeklagten auch die dem Nebenkläger im Verfahren über ihre Berufungen entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen haben.

Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben. Die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen tragen die Angeklagten.

Gründe

I.

Die Angeklagten wurden durch Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 30. März 2022 wegen einer gefährlichen Körperverletzung, begangen zum Nachteil des - mit Beschluss vom 6. Mai 2022 zugelassenen - Nebenklägers zu Geldstrafen von jeweils 90 Tagessätzen verurteilt. Die notwendigen Kosten des Nebenklägers wurden den Angeklagten auferlegt.

Gegen dieses Urteil haben beide Angeklagte zunächst Berufung eingelegt, diese aber mit anwaltlichen Schreiben vom 7. Juli 2022 und 14. Okt. 2022 wieder zurückgenommen.

Mit Beschluss vom 19. Okt. 2022 hat das Landgericht Braunschweig den Angeklagten gemäß § 473 Abs. 1 StPO die Kosten der Berufung und ihre Auslagen auferlegt. Eine Entscheidung über die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers ist unterblieben.

Der Nebenkläger wendet sich mit seiner sofortigen Beschwerde vom 25. Oktober 2022, eingegangen beim Landgericht Braunschweig per beA am selben Tag, gegen die unterlassene Entscheidung über seine eigenen notwendigen Auslagen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 22. Dezember 2022 beantragt, auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers die Kosten- und Auslagenentscheidung des Landgerichts Braunschweig vom 19. Oktober 2022 dahingehend zu ergänzen, dass die Angeklagten die dem Nebenkläger im Berufungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen haben.

Die Angeklagten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Angeklagte S. P. M. trägt mit Verteidigerschriftsatz vom 9. Januar 2023 vor, die sofortige Beschwerde sei gemäß § 464 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz i. V. m. § 400 StPO nicht zulässig. Der Nebenklägervertreter habe im Berufungsverfahren zudem keinerlei Tätigkeiten entfaltet, sodass die Beschwerde auch unbegründet sei.

II.

1.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist formgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingegangen und auch nach § 464 Abs. 3 StPO statthaft. Der Statthaftigkeit steht im vorliegenden Fall § 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz StPO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist eine sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung unzulässig, wenn ein Rechtsmittel in der Hauptsache nicht statthaft ist. Das ist trotz § 400 Abs. 1 StPO und der durch die Berufungsrücknahmen rechtskräftigen erstinstanzlichen Verurteilungen der Angeklagten wegen der Tat, für die der Nebenkläger anschlussberechtigt war, nicht der Fall.

Der Senat hat sich bereits mit Beschluss vom 10. Februar 2021 (Az. 1 Ws 289/20, nicht veröffentlicht) der Ansicht angeschlossen, dass die §§ 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz, 400 Abs. 1 StPO der Anfechtung der Kostenscheidung durch den Nebenkläger nicht entgegenstehen. § 400 Abs. 1 StPO beseitigt nicht die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels, sondern versagt dem Nebenkläger nur für einen bestimmten Fall die Beschwer (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Oktober 1998, Az.: 3 Ws 464 - 466/98, Rn. 4; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. August 2002, Az.: 5 Ws 54/02, Rn. 5; OLG Naumburg, Beschluss vom 21. September 2001, Az.: 1 Ws 329/01, Rn. 12; OLG Jena, Beschluss vom 22. Januar 2010, 1 Ws 525/09, Rn. 12 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Oktober 2012, Az.: 4b Ws 25/12, Rn. 5, jeweils zit. nach juris). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 464 Abs. 3 S. 1, 2. HS StPO kommt es jedoch nur auf die Statthaftigkeit an, sodass sonstige Zulässigkeitshindernisse außer Betracht bleiben.

Zwar betraf die Entscheidung des Senats vom 10. Februar 2021 konkret lediglich den Fall, dass die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen wurde und nicht die hier vorliegende Fallgestaltung, bei der die Berufungen der Angeklagten zurückgenommen wurden. Auch in diesem Fall wäre aber ein ohne die Berufungsrücknahmen ergangenes Urteil der Berufungskammer für den Nebenkläger grundsätzlich gemäß § 401 StPO mit der Revision anfechtbar, sodass ein Rechtsmittel gegen die Hauptentscheidung und damit auch gegen die Kostenentscheidung statthaft gewesen wäre. Bei der aufgrund der Berufungsrücknahme ergangenen Kostenentscheidung kann nichts anderes gelten (OLG Hamburg, Beschluss vom 9. Juni 2015, Az.: 1 Ws 69/15, Rn. 6; OLG Hamm, Beschluss vom 12. Juli 2001, Az.: 2 Ws 141/01, Rn. 7; KG, Beschluss vom 26. Mai 2000, Az.: 3 Ws 112/00, jeweils zit. nach juris).

Der Wert des Beschwerdegegenstandes, der sich nach dem voraussichtlichen (Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 304, Rn. 32 m. w. N., zit. nach beck-online) Kosten- und Auslagenbetrag bestimmt, dürfte den Wert von 200,- Euro (§ 304 Abs. 3 StPO) selbst dann übersteigen, wenn die Verfahrensgebühr des Nebenklägervertreters für das Berufungsverfahren gemäß Nr. 4124 VV RVG zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer wegen des bis zur Rücknahme eher geringen Umfangs der vom Nebenklägervertreter entfalteten Tätigkeit maßvoll bemessen wird.

Diese Gebühr ist auch schon entstanden. Zwar entsteht die Verfahrensgebühr nach der Vorbemerkung 4 Abs. 2 der Anlage 1 zum RVG für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information, woraus teilweise gefolgert wird, dass die Gebühr zumindest dann noch nicht entsteht, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor deren Begründung zurücknimmt. Diese Ansicht beruht aber auf der Erwägung, dass die Staatsanwaltschaft gemäß § 156 Abs. 1 RiStBV jedes von ihr eingelegte Rechtsmittel begründen muss, weshalb ein Verteidiger grundsätzlich davon ausgehen kann, dass eine Berufung der Staatsanwaltschaft innerhalb der Frist des § 317 StPO begründet wird und eine sinnvolle Verteidigung erst möglich ist, wenn die Berufungsbegründung den Umfang und die Zielsetzung des Rechtsmittels aufzeigt (OLG Köln, Beschluss vom 3. Juli 2015, 2 Ws 400/15, Rn. 19, BeckRS 2015, 12573; Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, VV 4124 Rn. 3, zit. nach beck-online). Diese Annahme ist auf den Beratungsbedarf eines Nebenklägers bei einer, nicht begründungspflichtigen, Berufung des Angeklagten nicht übertragbar.

2.

Die sofortige Beschwerde des Nebenklägers ist auch begründet.

Gemäß § 473 Abs. 1 S. 2 StPO haben die Angeklagten, die ein Rechtsmittel erfolglos eingelegt haben, auch die notwendigen Auslagen des Nebenklägers zu tragen. Im hier vorliegenden Fall führt dieser Grundsatz dazu, dass in der Kostenentscheidung vom 19. Oktober 2022 die notwendigen Auslagen des Nebenklägers für die Berufungsinstanz den Angeklagten aufzuerlegen sind. Soweit teilweise unter Rückgriff auf die Regelung in § 472 Abs. 1 S. 3 StPO hiervon eine Ausnahme gemacht wird, wenn der Angeklagte durch sein Verhalten keinen vernünftigen Grund für den Anschluss als Nebenkläger gegeben hat oder den Verletzten ein Mitverschulden trifft (OLG Hamm, Beschluss vom 4. März 2003, 1 Ws 63/03, Rn. 8, zit. nach juris), liegt eine solche Fallgestaltung hier nicht vor.

Soweit mit dem Verteidigerschriftsatz für den Angeklagten S. P. M. vorgetragen wird, der Nebenklägervertreter habe keinerlei Tätigkeiten im Berufungsverfahren ausgeübt, wird verkannt, dass die Gebühr nach VV 4124 der Anlage 1 zum RVG schon bei der erstmaligen Tätigkeit im Berufungsverfahren entsteht, wofür keine nach außen erkennbare Tätigkeit erforderlich ist, sondern auch eine (interne) Beratung des Mandanten über den Gang des Verfahrens ausreichen kann (Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage 2021, VV 4124 Rn. 5, zit. nach beck-online). Ob eine solche Tätigkeit tatsächlich stattgefunden hat, welchen Umfang sie hatte und ggf. in welcher Höhe die Verfahrensgebühr festzusetzen ist, ist ggf. im Kostenfestsetzungsverfahren zu klären und nicht im Rahmen der Kostengrundentscheidung.

III.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nach § 21 Abs. 1 S. 1 GKG niedergeschlagen, weil diese bei richtiger Behandlung der Sache nicht angefallen wären.

Die Angeklagten haben jedoch die notwendigen Auslagen des Nebenklägers (auch) für dieses Beschwerdeverfahren zu tragen, § 473 Abs. 1 Satz 2 StPO.