Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 20.12.2016, Az.: 1 Ss 178/16
Anforderungen an die Vollmacht zur Vertretung des Angeklagten im Termin zur Berufungshauptverhandlung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 20.12.2016
- Aktenzeichen
- 1 Ss 178/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 36313
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 30.05.2016 - AZ: 13 Ns 417/15
Rechtsgrundlagen
- StPO § 329 Abs. 1 S. 1
- StPO § 344 Abs. 2 S. 2
Fundstellen
- StRR 2017, 14-15
- StV 2018, 148-150
Amtlicher Leitsatz
Zum Umfang der Begründung der Verfahrensrüge bei Verwerfung der Berufung trotz Anwesenheit eines mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidigers.
Die Vertretungsvollmacht bedarf keiner expliziten Ermächtigung zur Vertretung des Angeklagten "in dessen Abwesenheit".
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 13. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 30. Mai 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Cloppenburg hatte den Angeklagten am 15. Juli 2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Oldenburg mit Urteil vom 30. Mai 2016 verworfen, weil der Angeklagte ungeachtet der durch die Urkunde vom 26. Februar 2016 nachgewiesenen Ladung ohne Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden sei. Die eingelegte Berufung sei daher nach § 329 StPO zu verwerfen.
Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, der die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und beantragt, das Urteil aufzuheben.
II.
Das Rechtsmittel hat mit der auf eine Verletzung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg.
1. Der Rüge liegt folgendes Geschehen zu Grunde:
Zu der Hauptverhandlung vor dem Landgericht am 30. Mai 2016 war der Angeklagte nicht erschienen, wohl hingegen als Verteidiger Rechtsanwalt ... Diesem sowie Rechtsanwalt ... hatte der Angeklagte unter dem 19. Juli 2015 eine von ihm unterzeichnete "Vollmacht und Prozessvollmacht" erteilt, die am 23. Juli 2015 zur Akte gelangt war (Bd. II Bl. 126). Diese Vollmacht (Bd. II Bl. 127) hat unter anderem folgenden Wortlaut:
"Den Rechtsanwälten..., ... wird Prozessvollmacht gemäß §§ 81 ff. ZPO und §§ 302, 374 StPO erteilt wegen S. L... - Strafverfahren Amtsgericht Cloppenburg 18 Ds 775 Js 62234/12 (58/15).
Diese Vollmacht erstreckt sich insbesondere auf:
1. Verteidigung und Vertretung in Bußgeldsachen sowie Strafsachen in allen Instanzen, auch als Nebenkläger, Vertretung gem. § 411 Abs. 1 StPO mit ausdrücklicher Ermächtigung gem. § 233 Abs. 1 StPO.
2.-11. ..."
Nachdem das Landgericht in der Berufungshauptverhandlung am 30. Mai 2016 die ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten und sein unentschuldigtes Fernbleiben festgestellt hatte, hatte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft die Verwerfung der Berufung beantragt. Der Verteidiger hatte keinen Antrag gestellt. Nach Beratung war sodann das angefochtene Verwerfungsurteil verkündet worden.
2. Die vom Angeklagten erhobene Rüge, das Landgericht habe durch sein Vorgehen § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO (in der seit dem 25. Juli 2015 gültigen Fassung) verletzt, weil zum Termin ein mit einer schriftlichen Vollmacht ausgestatteter Verteidiger erschienen sei, entspricht den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 StPO. Danach muss eine Verfahrensrüge so ausgeführt werden, dass das Revisionsgericht allein auf Grund der Revisionsrechtsfertigungsschrift prüfen kann, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen. Dem wird die vorliegende Rüge gerecht.
Der Ansicht des Thür. Oberlandesgerichts (Beschluss v. 28.07.2016, 1 Ss 42/16, bei juris), wonach mit der Verfahrensrüge der Verletzung von § 329 Abs. 1 StPO auch vorgetragen werden müsse, der Verteidiger habe von seiner schriftlichen Vertretungsvollmacht auch Gebrauch machen wollen, er sei also - über die bloße Verteidigung des Angeklagten hinaus - auch zu dessen umfassender Vertretung bereit gewesen, vermag der Senat nicht zu folgen. Denn einer ausdrücklichen Erklärung des Verteidigers, er sei zur Vertretung des Angeklagten bereit, bedarf es nicht. Vielmehr ist hiervon bei einem Erscheinen des Verteidigers grundsätzlich auszugehen, solange dieser nicht von vornherein erklärt oder zu erkennen gibt, den Angeklagten nicht vertreten zu wollen. (vgl. amtl. Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 18/3562, S. 69, 2. Abs.). Es ist somit zwar grundsätzlich die Bereitschaft des Verteidigers zur Vertretung des Angeklagten erforderlich. Diese kann aber nur bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür verneint werden, dass es der Verteidiger überhaupt nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen will (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 06.09.2016, 4 RVs 96/16, bei juris, m.w.N.). Dieses wäre etwa dann der Fall, wenn der Verteidiger trotz ausdrücklichen Befragens durch das Gericht keine Erklärung dazu abgibt, ob er den nicht anwesenden Angeklagten vertreten will.
Ebenso wie der Angeklagte selbst muss aber der Verteidiger nicht an der Verhandlung mitwirken und Erklärungen zur Sache abgeben. Aus dem Schweigen des Verteidigers und dem - wie vorliegend geschehen - Absehen von einer Antragstellung allein lässt sich deshalb nicht schließen, er sei nicht verhandlungswillig (vgl. KG, Beschluss v. 07.07.2010, 1 Ss 233/10, StraFo 2010, 427 [KG Berlin 02.06.2010 - 4 Ws 64/10; 1 AR 754/10] m.w.N., zu § 411 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Zwar kann die Darlegungspflicht nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO auch die Verpflichtung umfassen, sich zu solchen Geschehnissen zu verhalten, die der Rüge den Boden entziehen können. Dieses gilt aber nur, wenn nach der konkreten Fallgestaltung das Vorliegen eines rügevernichtenden Ausnahmetatbestandes ernsthaft in Betracht kommt (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg, Urteil v. 08.12.2015, 1 Rev 58/15, bei juris, m.w.N.). Hier sind aber weder dem Protokoll der Berufungshauptverhandlung noch den dem Senat auf Grund der ebenfalls erhobenen Sachrüge zugänglichen Urteilsgründen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Verteidiger Erklärungen abgegeben hat, die den Schluss zugelassen hätten, er sei außer Stand oder nicht gewillt gewesen, den Angeklagten in der Hauptverhandlung zu vertreten.
Die Rüge ist daher in zulässiger Weise erhoben.
3. Die Rüge erweist sich auch als begründet.
Nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO hat das Gericht die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist.
Vorliegend war indessen der Angeklagte in dem (ersten) Termin zur Berufungshauptverhandlung durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten. Ausweislich der bei den Akten befindlichen Vollmacht vom 19. Juli 2015 war dem Verteidiger Vollmacht zur Verteidigung und Vertretung erteilt. Damit war in der Vollmacht berücksichtigt, dass der Verteidiger als solcher nur der Beistand und nicht der Vertreter des Beschuldigten ist, und es deshalb einer ausdrücklichen Bevollmächtigung zur Vertretung bedarf, weil der Beschuldigte dadurch wichtige Verfahrensrechte in die Hände seines Verteidigers legt, der an seine Stelle tritt und mit Wirkung für ihn Erklärungen abgeben kann. Diese ausdrückliche Ermächtigung reicht aber auch aus. Durch die Forderung einer expliziten Ermächtigung zur Vertretung des Angeklagten "in dessen Abwesenheit" würde der dem Erfordernis der gesonderten Bevollmächtigung zu Grunde liegende Schutzgedanke überspannt (vgl. bereits Senatsentscheidung v. 23.03.2016, 1 Ss 36/16, n.v., unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 20.09.1956, 4 StR 287/56, BGHSt 9, 356, und OLG Düsseldorf, Beschluss v. 10.05.1991, 5 Ss 171/91 - 53/91 I, VRS 81, 292; jeweils zu § 411 Abs. 2 S. 1 StPO; sowie Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 234 Rn. 5).
Einer Erklärung des hierzu nicht ausdrücklich befragten Verteidigers in der Hauptverhandlung, er sei zur Vertretung des Angeklagten bereit, bedurfte es, wie zu 2. dargelegt, nicht.
III.
Nach alledem war das Verwerfungsurteil der 13. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 30. Mai 2016 aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückzuverweisen.