Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.10.2007, Az.: 1 Ws 557/07
Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Beschleunigungsgebot in Haftsachen bei vorhersehbar umfangreichen Verfahren; Vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Verhandlungsplanung bei Angeklagten in Untersuchungshaft
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 18.10.2007
- Aktenzeichen
- 1 Ws 557/07
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 53998
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2007:1018.1WS557.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 03.09.2007 - AZ: 1 KLs 114/06
Rechtsgrundlage
- Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG
Fundstellen
- NStZ 2009, 136 (Kurzinformation)
- NStZ 2010, 201-202
- StraFo 2008, 26-27 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Schwerer Bandendiebstahl
Hinweis
Hinweis: Verbundenes Verfahren
Verbundverfahren:
OLG Oldenburg - 18.10.2007 - AZ: 1 Ws 558/07
In dem Strafverfahren
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 18. Oktober 2007
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richterin am Oberlandesgericht ...
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerden der Angeklagten werden die Beschlüsse des Landgerichts
Oldenburg vom 3.9.2007 und die Haftbefehle des Amtsgerichts Oldenburg vom 16.8.2006 aufgehoben.
Die Angeklagten sind sofort aus der Untersuchungshaft in dieser Sache zu entlassen.
Gründe
Das Amtsgericht Oldenburg hat gegen die Angeklagten am 16.8.2006 Haftbefehle wegen bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls erlassen und als Haftgrund Fluchtgefahr angenommen. Auf die Haftbefehle wird Bezug genommen. Die Angeklagten M. und A. wurden am 16.8.2006 festgenommen. Sie befinden sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Das Landgericht Oldenburg hat am 8.1.2007 die Anklage der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 23.11.2006 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. In der Anklageschrift werden dem Angeklagten M. über die im Haftbefehl bezeichneten 32 Fälle hinaus insgesamt 71 Fälle bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls zur Last gelegt. Hinsichtlich des Angeklagten A. enthält die Anklage über die im Haftbefehl aufgeführten 43 Fälle hinaus insgesamt 90 Fälle bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls.
Gegen die Angeklagten wird gegenwärtig die Hauptverhandlung durchgeführt. Das Landgericht hat mit den Beschlüssen vom 3.9.2007, auf die Bezug genommen wird, die Haftbefehle aufrechterhalten.
Den dagegen gerichteten Haftbeschwerden der Angeklagten vom 24.9. 2007 betr. M. und 21.9.2007 betr. A. hat das Landgericht nicht abgeholfen. Auf die
Nichtabhilfebeschlüsse vom 26.9.2007 wird Bezug genommen. Der Abschluss des Verfahrens ist noch nicht absehbar.
Die Beschwerden der Angeklagten sind zulässig und begründet.
Die Angeklagten sind der in den Haftbefehlen aufgeführten Straftaten weiterhin aufgrund der in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel dringend verdächtig. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist bei beiden Angeklagten gegeben. Insoweit wird auf die Ausführungen in den Haftbefehlen und den angefochtenen Beschlüssen verwiesen.
Gleichwohl können die Haftbefehle keinen Bestand haben, weil das Verfahren nicht in einer Weise gefördert worden ist, die dem aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen genügt.
Die Angeklagten befinden sich - wie ausgeführt - seit dem 16.08.2006, somit seit 1 Jahr und 2 Monaten in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 08.01.2007 hat das Landgericht die Anklageschrift vom 23.11.2006, die sich auch gegen zwei weitere ebenfalls verteidigte Angeklagte richtete, denen bandenmäßige Einbruchsdiebstähle vorgeworfen werden, zur Hauptverhandlung zugelassen. Gleichzeitig beraumte der Vorsitzende die Hauptverhandlung auf den 14.02.2007 an, mit der weiteren Mitteilung, dass Fortsetzungstermine noch vereinbart werden. Zuvor hatte der Vorsitzende mit Verfügung vom 20.12.2007 die 4 Verteidiger gebeten, zu den vorgesehenen Terminstagen (5 Tage im Januar, 3 Tage im Februar) Stellung zu nehmen.
Der Hauptverhandlungstermin am 14.02.2007 dauerte von 9.00 Uhr bis 12.25 Uhr. Es wurde beschlossen, dass die Hauptverhandlung unterbrochen wird und am 01.03.2007, 9.00 Uhr, fortgeführt werden soll. Außerdem wurde als weiterer Fortsetzungstermin der 21.03.2007, 14.00 Uhr, festgesetzt.
Die Verhandlung am 01.03.2007 fand von 9.00 Uhr bis 11.00 Uhr statt. In ihr wurde dem Angeklagten A. für die Verhandlung Rechtsanwalt K.B., als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Mit Beschluss des Senats vom 12.03.2007 wurden die Beschwerden der Angeklagten sowie des Angeklagten S. gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts vom 18.01.2007 als unbegründet verworfen.
Weitere Hauptverhandlungstermine fanden an folgenden Tagen statt:
21.03.2007 14.00 Uhr bis 16.40 Uhr,
04.04.2007 14.00 Uhr bis 15.25 Uhr,
23.04.2007 14.50 Uhr bis 15.35 Uhr.
Das Verfahren gegen den weiteren Angeklagten S. wurde abgetrennt. Dieser Angeklagte wurde am 25.04.2007 wegen schweren Bandendiebstahls in 10 Fällen sowie wie des versuchten schweren Bandendiebstahls in 3 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt.
Das Verfahren gegen die restlichen Angeklagten wurde am 10.05.2007 in der Zeit von 9.00 Uhr bis 12.10 Uhr fortgeführt. Dem Angeklagten A. wurde Rechtsanwalt R. als Verteidiger (Sicherheitsverteidiger) beigeordnet.
Die weitere Hauptverhandlung fand an folgenden Terminen statt:
23.05.2007 9.00 Uhr bis 13.15 Uhr,
25.05.2007 9.20 Uhr bis 11.20 Uhr,
01.06.2007 9.00 Uhr bis 12.55 Uhr,
04.06.2007 9.00 Uhr bis 13.00 Uhr,
11.06.2007 9.00 Uhr bis 12.45 Uhr,
15.06.2007 9.00 Uhr bis 11.40 Uhr,
28.06.2007 11.15 Uhr bis 12.20 Uhr,
10.07.2007 9.00 Uhr bis 13.05 Uhr,
16.07.2007 9.00 Uhr bis 16.30 Uhr,
10.08.2007 12.00 Uhr bis 12.30 Uhr,
31.08.2007 9.00 Uhr bis 13.15 Uhr.
31.08.2008
In der Hauptverhandlung wurden mit den Beteiligten folgende Fortsetzungstermine festgelegt:
25.09.2007; 26.09.2007; 28.09.2007; 08.10.2007; 22.10.2007;
25.10.2007; 30.10.2007; 02.11.2007; 13.11.2007; 15.11.2007.
Die Hauptverhandlung am 11.09.2007 fand von 9.00 Uhr bis 13.10 Uhr statt.
Die Hauptverhandlung vom 25.09.2007 dauerte von 9.00 Uhr bis 13.30 Uhr. Inzwischen sind weitere Hauptverhandlungstermine entsprechend der Planung durchgeführt worden.
Das Landgericht hat in den angefochtenen Beschlüssen ausgeführt, eine vom Gericht zu vertretende Verfahrensverzögerung sei nicht eingetreten. Die Bestimmung der Fortsetzungstermine sei von Anfang an durch die angespannte Terminslage der Verteidiger beeinflusst gewesen. An den nicht zur Fortsetzung genutzten Tagen sei zumindest 1 Prozessbeteiligter an der Teilnahme gehindert gewesen. Es sei davon abgesehen worden, bei den in der Hauptverhandlung am 11.06.2007 und 31.08.2007 erfolgten Absprachen der weiteren Termine sämtliche Verhandlungstage zu protokollieren, an denen einer der Verteidiger anderweitig verhindert gewesen sei.
Die Vorgehensweise der Kammer ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar.
Bei vorhersehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich die Angeklagten in Untersuchungshaft befinden, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Verhandlungsplanung mit mehr als 1 Verhandlungstag pro Woche (BVerfG NStZ 2006, 295 [BVerfG 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05]; StV 2006, 318 [BVerfG 04.04.2006 - 2 BvR 554/06]).
Vorliegend haben in einem Zeitraum vom 14.02.2007 bis 28.09.2007 lediglich 20 Hauptverhandlungstermine stattgefunden. Daraus ergibt sich eine Verhandlungsdichte von nicht einmal 3 Verhandlungstagen pro Monat, also weniger als 1 Verhandlungstag pro Woche wobei eine erhebliche Anzahl dieser Termine weniger als 4 Stunden dauerte. Lediglich am 16.07.2007 dauerte die Hauptverhandlung ganztägig von 9.00 Uhr bis 16.30 Uhr.
Es ist nicht erkennbar, dass die damit einhergehende Verfahrensverzögerung auch bei vorausschauender Planung unvermeidbar war. Es ist gerichtsbekannt, dass die Verteidiger dieses Verfahrens zu den Strafverteidigern gehören, die in zahlreichen Strafverfahren tätig sind, so dass kurzfristige Terminsabstimmungen stets schwierig sind. Dass die Kammer diesem Umstand hinreichend Rechnung getragen hat, ist den Akten nicht zu entnehmen. Die Verteidiger des Angeklagten haben Listen mit den Terminsvorschlägen des Gerichts vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass an den möglichen 43 Verhandlungstagen in der Zeit vom 12.04.2007 bis 29.06.2007 nur 9 Verhandlungstage durchgeführt worden sind, obwohl die Verteidiger, die nachträglich als Pflichtverteidiger beigeordnet worden sind, an den meisten Tagen zur Verfügung standen. Nicht nachvollziehbar ist ferner, warum im Juli und August 2007, obwohl die Angeklagten jeweils von 2 Verteidigern vertreten wurden, nur 2 Hauptverhandlungstermine durchgeführt worden sind. Zu berücksichtigen war insoweit auch, dass seit Ende April 2007 neben den Angeklagten nur noch der Angeklagte B. am Verfahren beteiligt war.
Das Gewicht des sich aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen verstärkt sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 53, 152 ff [BVerfG 06.02.1980 - 2 BvR 1070/79]). Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes und der oben genannten Anforderungen an eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung ist die Vorgehensweise der Kammer im vorliegenden Fall mit den Anforderungen zum Beschleunigungsgebot nicht mehr vereinbar. Eine vorausschauende, das gesamte Verfahren umfassende Terminsplanung hat nicht vorgelegen. Dass die späteren Terminsanberaumungen auf der Grundlage der Schnittmengen der unterschiedlichen Terminsspielräume der Verteidiger erfolgt sind, ist nicht nachvollziehbar. Da auch hinsichtlich der Dauer der
einzelnen Hauptverhandlungstermine nicht erkennbar ist, dass das Landgericht das Beschleunigungsgebot in Haftsachen beachtet hat, sind die Haftbefehle und die Haftfortdauerbeschlüsse des Landgerichts aufzuheben.