Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 30.06.2016, Az.: 1 A 475/15
Abweichen vom Verhandlungsgegenstand; Kommunalverfassungsstreit; Ordnungsmaßnahme
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 30.06.2016
- Aktenzeichen
- 1 A 475/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 43292
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs 1 KomVerfG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zum Rederecht des Abgeordneten: Rechtmäßigkeit eines Wortentzugs beim Abschweifen vom Verhandlungsgegenstand.
Ein Abschweifen vom Verhandlungsgegenstand kann nur bei Wortbeiträgen eines Abgeordneten angenommen werden, die auch bei großzügigster Betrachtung nicht im Zusammenhang mit dem Verhandlungsgegenstand stehen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Entziehung des Wortes durch den Beklagten in der Kreistagssitzung am 15. Dezember 2014 rechtswidrig war.
Er ist Mitglied der NPD und fraktionsloser Kreistagsabgeordneter des Kreistages M., dessen Vorsitzender der Beklagte ist. Am 15. Dezember 2014 fand eine Sitzung des Kreistages M. statt. In der Beratung zum Tagesordnungspunkt 8 „Haushaltssatzung und Haushaltsplan 2015“ erhielt der Kläger das Wort und machte mündliche Ausführungen. Während seines ersten Wortbeitrags unterbrach der Beklagte den Kläger wiederholt und forderte ihn auf, zum Verhandlungsgegenstand zu sprechen. Das Sitzungsprotokoll vermerkt hierzu wie folgt:
„Kreistagsabgeordneter A. (NPD) führt aus, dass er den Haushaltsentwurf unter anderem aufgrund der eingeplanten Mittel im Asyl-Bereich nicht mittragen könne und stellt seine Sichtweise zu diesem Thema dar. Da er den großen Parteien beispielsweise „rechtsbrecherisches Verhalten“ unterstellt, themenbezogen die Meinung seiner Partei darstellt und dann/damit nicht zum Tagesordnungspunkt spricht, wird er mehrfach vom Vorsitzenden C. zur Ordnung gerufen.“
Das Wort entzog der Beklagte dem Kläger an dieser Stelle nicht. Nach dessen Redebeitrag folgte eine weitere Debatte zu Tagesordnungspunkt 8, innerhalb derer sich mehrere andere Abgeordnete zu Wort meldeten. Erörtert wurde dann ein Antrag des Kreistagsabgeordneten E., einen Unterstützungsfonds zur Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern einzuführen. Der Kläger ergriff hierzu erneut das Wort. Während seiner Ausführungen ermahnte der Beklagte den Kläger wiederholt und forderte ihn auf, mit seinem Redebeitrag zum Verhandlungsgegenstand zurückzukehren.
Das Sitzungsprotokoll vermerkt hierzu:
„Kreistagsabgeordneter A. (NPD) äußert sich zum Antrag des Kreistagsabgeordneten E. (Die Linke.), einen Unterstützungsfonds zur Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern einzuführen. Aufgrund der Wortwahl und Darstellung ruft Vorsitzender C. Kreistagsabgeordneten A. (NPD) mehrfach „zur Ordnung“ und „zur Sache“ und entzieht ihm im weiteren Verlauf das Wort.“
Am Tag nach der Kreistagssitzung berichtete die Lokalzeitung „F.“ unter der Überschrift „Große Empörung über Redebeitrag der NPD“ über die Entziehung des Wortes durch den Beklagten während der Kreistagssitzung. Der Kläger wurde in dem Beitrag namentlich genannt. Unter dem 27. Januar 2015 legte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, „Einspruch“ gegen die Entziehung des Wortes in der Kreistagssitzung am 15. Dezember 2014 ein und beantragte die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme durch den Kreistag. Mit Schreiben vom 3. März 2015 lehnte der Landkreis M. es ab, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Er wies darauf hin, dass ein „Vorverfahren eigener Art“ nicht in Betracht komme, weil der Kläger nicht von der Sitzung ausgeschlossen worden sei.
Am 11. März 2015 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung seiner Klage trägt er vor, dass die Entziehung des Wortes durch den Beklagten in der Kreistagssitzung rechtswidrig gewesen sei und ihn in seinem organschaftlichen Rederecht verletzt habe. Seine Klage sei als allgemeine Feststellungsklage im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits statthaft. Das erforderliche Feststellungsinteresse folge aus dem Gesichtspunkt des Rehabilitationsinteresses. Durch die Berichte in der lokalen Presse hafte der Entziehung des Wortes eine erhebliche Stigmatisierungswirkung an. Die Entziehung des Wortes erwecke den Anschein, dass er sich in der Kreistagssitzung nicht an die parlamentarische Ordnung gehalten habe. Zudem bestehe eine Wiederholungsgefahr. Er müsse damit rechnen, dass ihm auch zukünftig das Wort in der Kreistagssitzung entzogen werde.
Sein Rederecht sei verletzt. Die gesetzlichen Voraussetzungen, die den Beklagten als Vorsitzenden des Kreistags dazu berechtigten, einem Abgeordneten das Wort zu entziehen, seien nicht gegeben gewesen. Dies gelte zunächst für den ersten Wortbeitrag. Der einzelne Kreistagsabgeordnete dürfe sich gerade bei Haushaltsdebatten deutlicher und zugespitzter Formulierungen bedienen. Die Grenze zur Schmähkritik sei evident nicht überschritten worden. Der Beklagte könne auch nicht mit Erfolg geltend machen, er, der Kläger, habe in unzulässiger Weise die Meinung seiner Partei dargestellt. Denn es sei gerade die Aufgabe eines Parteimitglieds die Positionen seiner Partei im Kreistag zu vertreten. Im Übrigen hätte der Beklagte ihm bei einem - unterstellten - Abschweifen vom Thema einen Sachruf erteilen müssen und keinen Ordnungsruf, wie es vorliegend geschehen sei. Auch sein zweiter Redebeitrag sei nicht zu beanstanden gewesen. Was im Einzelnen an seiner Wortwahl und seiner Darstellung beanstandungswürdig gewesen sei, zeige das Protokoll nicht auf. Aus diesem folge nur, dass er „aufgrund der Wortwahl und Darstellung“ mehrfach „zur Ordnung“ und „zur Sache“ gerufen und ihm sodann das Wort entzogen worden sei. Unter Zugrundelegung der tatsächlichen Wortwahl, die er bereits vor der Sitzung in einem Redemanuskript zusammengetragen habe, seien seine Äußerungen nicht zu beanstanden gewesen. Nach der Rechtsprechung sei die Neutralitätspflicht des Vorsitzenden bei Maßnahmen zu beachten, die sich - wie hier - gegen den Inhalt einer Äußerung richteten. Aus der Neutralitätspflicht des Vorsitzenden folge, dass er nur dann wegen des Inhalts einer Äußerung des Abgeordneten eingreifen könne, wenn die Art des Vortrags den allgemein oder überwiegend allgemein akzeptierten Rede- oder Verhaltensnormen zuwiderlaufe. Er, der Kläger, habe keinerlei beleidigende Äußerungen getätigt oder gegen die parlamentarische Ordnung verstoßen, sondern aus seiner Sicht zur Sache gesprochen. Daher habe der Beklagte seine Ausführungen nach der Rechtsprechung dulden müssen.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass der von dem Beklagten in der öffentlichen Sitzung des Kreistages M. am 15. Dezember 2014 unter dem Tagesordnungspunkt 8 ausgesprochene Wortentzug rechtswidrig war.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt der Klage im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen entgegen:
Es sei gerechtfertigt gewesen, dem Kläger das Wort zu entziehen. Nach der Geschäftsordnung des Kreistages könne der Vorsitzende einem Abgeordneten, der sich nicht zum Verhandlungsgegenstand äußere, nach wiederholter Ermahnung das Wort entziehen. Diese Voraussetzungen seien erfüllt gewesen. Ausweislich des Gedächtnisprotokolls der Protokollantinnen hätten die Ausführungen des Klägers keinen Bezug zum Tagesordnungspunkt 8 „Haushaltssatzung und Haushaltsplan 2015“ gehabt. Es sei nicht erkennbar gewesen, dass der Kläger die Redeinhalte seiner Vorredner aufgegriffen oder Stellung zu der nach den Beratungen der Fachausschüsse geänderten Fassung des Haushaltsplanentwurfs 2015 genommen habe. Vielmehr habe sein Redebeitrag ausschließlich Vorwürfe gegenüber Interessenvertretern der aktuellen Flüchtlings- und Asylpolitik beinhaltet. Er, der Beklagte, habe dem Kläger während seiner ersten Wortmeldung mehrere Sachrufe erteilt, ihn also wiederholt aufgefordert gehabt, nur zum Haushalt 2015 zu sprechen. Die Sachrufe seien erforderlich und angemessen gewesen, um die Ordnung der Kreistagssitzung wiederherzustellen, nachdem die vorherigen Hinweise auf die sachfremden Erwägungen des Klägers nicht erfolgreich gewesen seien. Im weiteren Verlauf der Haushaltsberatung habe sich der Kläger erneut zu Wort gemeldet und sich zu dem Antrag des Kreistagsabgeordneten E. (Die Linke.) geäußert. Der daraufhin ergangene Redebeitrag des Klägers sei am Verhandlungsgegenstand vorbeigegangen und habe nicht zu der Haushaltsdebatte beitragen können. Er, der Beklagte, habe den Kläger abermals darauf aufmerksam gemacht, dass er vom Verhandlungsgegenstand abschweife und ihm anschließend zu Recht das Wort entzogen. Die von dem Kläger aufgegriffene Rechtsprechung sei nicht einschlägig. Er, der Beklagte, habe die Entziehung des Wortes nicht - wie von der Rechtsprechung entschieden - aufgrund von ungebührlichem Verhalten als Sofortmaßnahme verhängt, sondern dem Kläger das Wort entzogen, weil dieser wiederholt vom Verhandlungsgegenstand abgeschweift sei.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Die Entziehung des Wortes durch den Beklagten in der Kreistagssitzung am 15. Dezember 2014 war rechtswidrig.
Die Klage ist zulässig.
Statthafte Klageart ist die Feststellungklage gemäß § 43 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Wird ein Mitglied eines Kommunalorgans von einem anderen in der Kommunalverfassung mit eigenen Rechten ausgestatteten Organ in seiner Rechtsstellung beeinträchtigt, kann es im Rahmen eines sog. Kommunalverfassungsstreits um gerichtlichen Rechtsschutz durch Erhebung einer Feststellungklage nachsuchen. Die Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO kommt dabei demjenigen zu, der geltend macht, durch die Handlung oder Unterlassung eines anderen Organs in einem durch die Kommunalverfassung eingeräumten Recht verletzt zu sein. So verhält es sich hier. Der Kläger wendet sich in seiner Stellung als Abgeordneter des Kreistages M. gegen ein anderes Mitglied des Kommunalorgans, nämlich gegen den Vorsitzenden des Kreistages und rügt eine Verletzung seines Rederechts. Eine Ordnungsmaßnahme des Vorsitzenden gegenüber einem Kreistagsmitglied stellt ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO dar (vgl. OVG NRW, Urteil vom 16.05.2016 - 15 A 785/12 -, juris) und es besteht ein berechtigtes Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung.
Die Klage ist auch begründet.
Die Maßnahme des Beklagten zulasten des Klägers ist an §§ 63 Abs. 1, 69 des Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz i.d.F. vom 17. Dezember 2010 (NKomVG) i.V. mit § 16 Abs. 2 Satz 1 der Geschäftsordnung für den Kreistag, den Kreisausschuss, die Ausschüsse des Kreistages und die nach besonderen Rechtsvorschriften gebildeten Ausschüsse des Landkreises M. i.d. Fassung vom 7. November 2011 (GOKT) zu messen.
Nach § 63 Abs. 1 NKomVG leitet der Vorsitzende die Verhandlungen, eröffnet und schließt die Sitzungen, sorgt für die Aufrechterhaltung der Ordnung und übt das Hausrecht aus. Nach § 69 Satz 2 NKomVG sollen in der Geschäftsordnung des Kreistages Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung enthalten sein. Dies schließt auch die Befugnis ein, das Rederecht der Mitglieder der Vertretung zu begrenzen (vgl. Blum in: Blum/Häusler/Meyer, NKomVG, § 54 Rn. 1, 5). Das Rederecht zählt zu den elementaren Rechten der Kreistagsabgeordneten. Es ist nicht ausdrücklich in der Kommunalverfassung geregelt, wird aber aus § 54 NKomVG, dem „freien kommunalen Mandat“ des Abgeordneten abgeleitet (vgl. Blum in: Blum/Häusler/Meyer, NKomVG, § 54 Rn. 1, 5). Der Kreistag hat die Aufgabe, die divergierenden Vorstellungen seiner gewählten Mitglieder im Wege der Rede und Gegenrede und der nachfolgenden Abstimmung zu einem einheitlichen Willen zusammenzuführen, um dem Landkreis hierdurch die nötige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Das Kreistagsmitglied soll, soweit es sich zu einem Tagesordnungspunkt zu Wort meldet, die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen seiner Partei ungestört darstellen können. Damit dient das Rederecht des Kreistagsabgeordneten unmittelbar der Erfüllung staatlicher Aufgaben und hat eine überragende Bedeutung für die einheitliche politische Willensbildung. Vor diesem Hintergrund sollen Regelungen in der Geschäftsordnung, die das Rederecht begrenzen, im Interesse der Funktionsfähigkeit der Vertretung dazu dienen, einen sachgerechten Sitzungsverlauf zu gewährleisten, insbesondere für ein Mindestmaß an gegenseitiger Rücksichtnahme sorgen, so dass jedes Mitglied der Vertretung seine mitgliedschaftlichen Rechte ungestört wahrnehmen kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 18.04.1989 - 10 L 29/89 -, juris).
In diesem Sinne bestimmt § 16 Abs. 2 GOKT, dass der Vorsitzende, wenn ein Kreistagsmitglied gegen die Bestimmungen der Geschäftsordnung verstößt, dieses unter Nennung des Namens „zur Ordnung“ (sog. Ordnungsruf), falls es vom Verhandlungsgegenstand abschweift, „zur Sache“ (sog. Sachruf) rufen kann. Folgt das Kreistagsmitglied dieser Ermahnung nicht, kann der Vorsitzende dem Kreistagsmitglied nach nochmaliger Verwarnung das Wort entziehen. Ist dem Kreistagsmitglied das Wort entzogen, darf es zu dem aktuellen Punkt der Tagesordnung nicht mehr sprechen.
Mit Rücksicht auf die Bedeutung des Rederechts eines Kreistagsabgeordneten kann ein „Abschweifen“ vom Verhandlungsgegenstand nur bei Wortbeiträgen angenommen werden, die sich weder unmittelbar noch mittelbar auf den Verhandlungsgegenstand beziehen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Kreistagsmitglied zu Gegenständen und Vorgängen Stellung nimmt, die auch bei großzügigster Betrachtung nicht im Zusammenhang mit dem Verhandlungsgegenstand stehen (vgl. Koch in: Ipsen (Hrsg.), NKomVG, § 63 Rn. 8). Denn der das Rederecht in Anspruch nehmende Abgeordnete kann grundsätzlich frei darüber entscheiden, welche Bezüge er im Rahmen seiner politischen Stellungnahme zum Verhandlungsgegenstand herzustellen will (vgl. Blum in: Blum/Häuser/Meyer, NKomVG, § 63 Rn. 19). Deshalb ist ein Sachruf regelmäßig nur dann gerechtfertigt, wenn ein offensichtliches, praktisch unstreitiges Abschweifen vom Verhandlungsthema gegeben ist (vgl. Hoffmann in: Thieme: Niedersächsische Gemeindeordnung, 3. Aufl. 1997, § 44 Rn. 4).
Bei der Prüfung, ob nach den soeben dargestellten Grundsätzen ein offensichtliches Abschweifen vom Verhandlungsgegenstand vorliegt, kommt dem Vorsitzenden des Kreistages ein Beurteilungsspielraum zu, der die Kontrolle durch das Verwaltungsgericht begrenzt. Dieses hat insbesondere auch dem situativen Charakter der mündlichen Rede Rechnung zu tragen, der es mit sich bringt, dass der Vorsitzende des Kreistages in der Regel zügig, d.h. ohne große Bedenkzeit über die Zulässigkeit von Redebeiträgen zu entscheiden hat. Dabei gilt, dass die verwaltungsgerichtliche Kontrolle umso intensiver ist, je deutlicher der Sachruf gegen den Inhalt der Äußerung gerichtet ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16.05.2013 - 15 A 785/12 -, juris; VerfGH Sachsen, Urteil vom 03.12.2010 - Vf 12-I-10 -, juris m.w.N.). Unzulässig wäre etwa ein Sachruf, der darauf zielt, bestimmte inhaltliche Positionen oder Bewertungen zu unterbinden, die aus Sicht des Redners der Auseinandersetzung in der Sache dienen sollen, ohne dass die Art des Vortrages den allgemein oder überwiegend akzeptierten Rede- oder Verhaltensweisen der Vertretung zuwiderläuft. Bei der Überprüfung des auf einen Sachruf folgenden Entzugs des Wortes zu Lasten eines Abgeordneten muss auch der Kontext berücksichtigt werden, innerhalb dessen das Kreistagsmitglied sein Rederecht in Anspruch nimmt. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund steht, je gewichtiger die mit dem Redebeitrag thematisierten Fragen für den Kreistag und die Öffentlichkeit sind und je intensiver die politische Auseinandersetzung zu dem Thema des Verhandlungsgegenstandes geführt wird, umso eher müssen Rechte Dritter gegenüber dem Rederecht des Abgeordneten zurücktreten. Dabei ist zu beachten, dass Redebeiträge schon aufgrund ihres Wortlauts Raum für verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen können. Auch ist zu berücksichtigen, dass der Kreistag ein Ort der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, der Darstellung von unterschiedlichen, auch von der Mehrheit nicht getragenen Sichtweisen ist. Der Widerstreit der politischen Positionen lebt nicht zuletzt von Debatten, die mit Stilmitteln der Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik arbeiten. Diese sind so lange hinzunehmen, wie die Darstellung nicht in einer Weise geschieht, welche die Funktionsweise des Kommunalorgans als solches in Frage stellt oder beeinträchtigt oder es sich offensichtlich nicht mehr um die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema handelt, sondern die bloße Provokation im Vordergrund steht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16.05.2013 - 15 A 785/12 -, juris; VerfGH Sachsen, Urteil vom 03.12.2010 - Vf. 12-I-10-, juris m.w.N.).
Mit Rücksicht auf alle diese Gesichtspunkte hat der Beklagte seinen Beurteilungsspielraum überschritten, als er dem Kläger während dessen Stellungnahme zu dem im Rahmen des Tagesordnungspunktes 8 gestellten Antrag des Abgeordneten E., einen Unterstützungsfonds für Flüchtlinge und Asylbewerber einzurichten, das Wort entzogen hat. Die Kammer legt dabei die Inhalte zugrunde, die aus dem von dem Kläger überreichten Redemanuskript ersichtlich sind. Diese sind - soweit es für die Kammer darauf ankommt - zwischen den Beteiligten im Wesentlichen nicht umstritten. Der Kläger hat mit dem ersten Satz seines Redebeitrages zu diesem Antrag ausdrücklich den Inhalt des Antrags des Abgeordneten E. aufgegriffen. Er hat diesen mit deutlich polemisierenden rhetorischen Fragen kommentiert, was eine Aufforderung des Beklagten zur Folge hatte, „zur Sache“ sprechen. Der so gerügte Wortbeitrag des Klägers erschöpfte sich aber nicht in der bloßen Herabwürdigung des Abgeordneten E., sondern zielte erkennbar darauf ab, der ablehnenden Haltung des Klägers gegenüber den mit dem Antrag verbundenen Mehrausgaben im Haushalt in Höhe von 23.272,50 Euro, mit Schärfe Nachdruck zu verleihen und hatte hinreichenden Bezug zum Verhandlungsgegenstand.
Bei Anwendung des großzügigen Maßstabes, der wegen der Bedeutung des Rederecht des Abgeordneten für die Funktion des Kreistages geboten ist, können auch die Ausführungen des Klägers, die dem an dieser Stelle der Debatte ersten Sachruf des Beklagten nachfolgten, nicht als „Abschweifen“ vom Verhandlungsgegenstand angesehen werden. Darin hat der Kläger die situative Schärfe seiner anfänglichen Ausführungen aufgegriffen, gesteigert und hat gegenüber dem ersten Teil seines Wortbeitrages thematisch weiter ausgeholt. Er hat dabei das Verhalten der Republik Italien sowie die Unterstützung von Asylbewerbern durch von ihm bezeichnete Personengruppen polemisch dargestellt, kommentiert, aus seiner politischen Sicht bewertet und „Medien" und „Politiker" kritisiert. Er hat weiter nach seiner Meinung unzureichende Abschiebungen und gewährtes „Bleiberecht" für Personen ohne Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte polemisch kommentiert. Mit der Aufforderung:
„anstatt über Unterstützungsfonds unserem Landkreis zusätzliche Belastungen aufhalsen zu wollen, sollten Sie, Herr E., sich in Ihrer Partei einsetzen für den konsequenten Schutz der Außengrenzen Europas und die Rückführung von aufgegriffenen Flüchtlingen in ihre Herkunfts-oder zumindest Ausreise starten.“
hat er sich danach aber unmittelbar wieder dem Gegenstand des Antrags zugewandt.
Nach einem weiteren Sachruf des Beklagten setzte der Kläger fort, indem er unter direkter Ansprache des Abgeordneten E. meinte, nicht die „Optimierung der Willkommenskultur" sei notwendig, sondern die „deutliche Verschärfung des Asylrechts" und die „schnelle Ausweisung" von „Moslem- Extremisten" und „kriminellen Ausländern". Der Kläger nannte eine weitere Personengruppe, wobei zwischen den Beteiligten umstritten ist, ob er diese als „Asylbetrüger“- so der Kläger - oder als „Asylbewerber“- so der Beklagte - bezeichnete. Darauf kommt es aber für die Entscheidung nicht an. Jedenfalls hat sich der Kläger mit seiner Stellungnahme zum Antrag des Abgeordneten E. während der Beratungen zum Tagesordnungspunkt 8 der Kreistagssitzung (Haushaltssatzung und Haushaltsplan 2015) vom 15. Dezember 2014 noch in den Grenzen seines Rederechtes gehalten. Die allgemeinen, von seinem politischen Grundverständnis getragenen, polemischen und in ihrer Schärfe pointierten Äußerungen des Klägers hatten an dieser Stelle der Debatte weder die Qualität einer unzulässigen, bloßen Schmähkritik, noch ein Ausmaß und eine Länge, die einen Entzug des Wortes gerechtfertigt hätten. Der Kläger hat jeweils nach wenigen Sätzen wieder ausdrücklich den Bezug zu dem Gegenstand der Debatte hergestellt, der zu diesem Zeitpunkt durch den Antrag des Abgeordneten E. bestimmt wurde.
Bei der Bewertung des Wortbeitrages des Klägers berücksichtigt die Kammer, dass die Haushaltsdebatte am Ende des Haushaltsjahres auch in Kommunal- und Kreisparlamenten traditionell zu einer weitreichenden politischen Debatte führt, innerhalb derer auch zu Fragen Stellung genommen wird, die nicht ausschließlich bzw. unmittelbar die Kommune bzw. den Landkreis und dessen Haushalt betreffen. Die Mitschrift der Protokollantinnen vom 15. Dezember 2014 zeigt dabei, dass dies auch Gepflogenheit innerhalb des Kreistages des Landkreises M. ist. So bezog sich beispielsweise ein anderer Redner auf den Armutsbericht der Bundesregierung und meinte, die „große Koalition mauere". Ein weiterer Abgeordneter sprach den ehrenamtlichen Helfern in den Gemeinden „Dank" aus.
Angesichts der politischen Bedeutung nicht nur der Haushaltsdebatte selbst, sondern auch der Thematik, die dem Antrag des Abgeordneten E. zu Grunde lag, war den jeweiligen Rednern - auch dem Kläger - ein weiter Spielraum bei der Entscheidung über die Bezüge zum Verhandlungsgegenstand zuzubilligen. Die Frage der Hilfe für Flüchtlinge und Asylsuchende war für den Kreistag und für die Öffentlichkeit von weitreichender Bedeutung und die politische Auseinandersetzung hierzu wurde intensiv und z.T. auch kontrovers geführt. Die Bedeutung des Themas konkret im Rahmen der Haushaltsdebatte des Landkreises M. vom 15. Dezember 2014 zeigt sich in der Verwaltungsvorlage zur Haushaltsplanung, die der Debatte zu Grunde lag. Unter Ziffer 5.7 hieß es darin nämlich, das Thema „Hilfen für Asylbewerber“ nehme in dem Haushaltsentwurf eine „Sonderstellung“ ein, da ein deutlich ausgeprägter Anstieg des Zuschussbedarfs bestehe. Weiter ist ausgeführt, dass die stetig steigende Zahl von Asylbewerbern den Landkreis vor massive finanzielle Probleme und Herausforderungen stelle. Der Antrag des Abordneten E., einen Unterstützungsfonds für Flüchtlinge und Asylbewerber einzurichten, belief sich auf 23.272,50 Euro und stellte einen nicht zu vernachlässigenden Kostenfaktor im Gesamthaushalt dar. Dass der Kläger mit seinen Äußerungen eine nicht von der Mehrheit getragene Sichtweise vertreten hat, ist dem politischen Diskurs geschuldet und von seinem Rederecht gedeckt.
Nach allem war es rechtswidrig, dem Kläger das Wort zu entziehen, als er sich zu dem Antrag des Abgeordneten E. im Rahmen der Haushaltsdebatte geäußert hat. Auf die Bewertung des ersten Wortbeitrages des Klägers zum Tagesordnungspunkt 8 der Kreistagssitzung vom 15. Dezember 2014 kommt es für die Entscheidung des Gerichts nicht an, da der Beklagte diesen nicht zum Anlass genommen hat, dem Kläger das Wort zu entziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.