Landgericht Lüneburg
Urt. v. 08.09.2010, Az.: 20 KLs/ 1304 Js 10340/09 (5/09)

Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren aufgrund fehlender Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen

Bibliographie

Gericht
LG Lüneburg
Datum
08.09.2010
Aktenzeichen
20 KLs/ 1304 Js 10340/09 (5/09)
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 45118
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGLUENE:2010:0908.20KLS.1304JS1034.0A

In der Strafsache
gegen
1. xxx Wxxx,
geboren am xxx
wohnhaft xxx
2. Kxxx-Hxxx Wxxx
geboren am xxx
wohnhaft xxx
wegen Vergewaltigung u.a.
hat das Landgericht Lüneburg - 1. große Jugendkammer - in der Sitzung vom 08.09.2010, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Landgericht xxx
als Vorsitzender
Richter am Landgericht xxx
Richter xxx
als beisitzende Richter
xxx
als Schöffen
Staatsanwalt xxx
als Beamter der Staatsanwaltschaft
Rechtsanwalt xxx
als Verteidiger des Angeklagten Wxxx
Rechtsanwalt Meyer-Lohkamp
als Verteidiger des Angeklagten Wxxx
Justizangestellte xxx
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil der Jugendkammer II des Landgerichts xxx vom 07. Mai 2004 (3774 Js 34680/01 - 34a 7/03) sowie das Urteil der Jugendkammer I des Landgerichts xxx vom 30. Januar 2006 (3774 Js 34680/01 - 31a 44/05) werden aufgehoben.

Die Angeklagten werden freigesprochen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.

Die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin trägt diese selbst.

Der Angeklagte Wxxx ist für die vorläufige Festnahme (16.05.2001), die vollzogene Untersuchungshaft (17.05.2001 bis 07.06.2001 sowie 28.01.2004 bis 09.08.2005) sowie Strafhaft (10.08.2005 bis 16.06.2009) aus der Landeskasse zu entschädigen.

Der Angeklagte Wxxx ist für die vorläufige Festnahme (16.05.2001), die vollzogene Untersuchungshaft (17.05.2001 bis 07.06.2001 sowie 29.01.2004 bis 21.06.2006) sowie Strafhaft (22.06.2006 bis 18.09.2007) sowie für die Dauer der angeordneten Führungsaufsicht (18.09.2007 bis 29.11.2009) aus der Landeskasse zu entschädigen.

Gründe

(teilweise abgekürzt gem. § 267 Abs. 5 StPO)

Die beiden Angeklagten waren nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren freizusprechen, weil - weit über letzte Zweifel hinaus - zur Widerlegung der Unschuldsvermutung geeignete Beweismittel nicht vorliegen. Dies gilt zunächst für die die Erstverurteilung tragende Aussage der Nebenklägerin und vermeintlich Geschädigten Jxxx Wxxx, aber auch - ohne dass es für die Entscheidung der Kammer darauf noch angekommen wäre - für die sonstigen Beweismittel.

I.

Der Verfahrensgang stellt sich wie folgt dar: Die am xxx 1986 geborene Nebenklägerin Jxxx Wxxx war im Jahr 2000 Schülerin der Realschule in xxx. In diesem Jahr hatte die Englisch- und Sportlehrerin xxx dort ihre erste Planstelle angetreten. Die Schülerin Wxxx fiel ihr auf, weil sie hilfebedürftig erschien. Dies führte im November 2000 zu einem ersten Engagement der Zeugin xxx zugunsten ihrer Schülerin bei einem Streit zwischen deren Mutter und Tante. Ab Januar 2001 intensivierte sich der Kontakt zwischen der Nebenklägerin und ihrer Lehrerin.

Hintergrund war der sich bei der Lehrerin verdichtende Eindruck, dass die zurückgezogen und verstört wirkende Schülerin dringend der Hilfe durch eine außenstehende Person bedurfte. Sie bemühte sich daraufhin um das Vertrauen des Mädchens, welches sie sukzessive erlangte. Daraus entwickelte sich ab Januar 2001 ein sich intensivierender Kontakt u. a. in Form eines regen Verkehrs an E-Mails und SMS, in dessen Verlauf die Nebenklägerin zunächst andeutungsweise und später immer konkreter umfangreichen angeblichen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, den Angeklagten Wxxx, sowie einen "Freund der Familie", den Angeklagten Wxxx, behauptete.

Die Schilderungen beeindruckten die Zeugin xxx zutiefst. Sie reagierte mit einer sich massiv verstärkenden Fürsorge gegenüber ihrer Schülerin, die über alsbaldiges Duzen letztlich bis zur Unterbringung der Nebenklägerin im Elternhaus der Zeugin führte.

Auch vermittelte die Zeugin der Nebenklägerin nach Nachfrage beim Jugendamt den Kontakt zur Zeugin Sxxx, einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch des Landkreises xxx. Ab April 2000 fanden hier Gespräche statt, die in erster Linie der "Stabilisierung" der Nebenklägerin dienten und von der Überzeugung der Zeuginnen xxx und Sxxx getragen waren, dass die Angaben der xxx xxx der Wahrheit entsprächen. Dem entsprechend bestärkten sie die Nebenklägerin auch darin, die vermeintlichen Taten der Angeklagten der Polizei am 15. Mai 2000 anzuzeigen.

Die beiden damals Beschuldigten wurden sodann am 16. Mai 2000 vorläufig festgenommen und am Folgetag aufgrund eines entsprechenden Haftbefehls des Amtsgerichts xxx inhaftiert.

Am 31. Mai und am 7. Juni 2000 vernahm die damalige Richterin am Amtsgericht xxxdie Nebenklägerin zu ihren Vorwürfen bezüglich Wxxx (1- Termin) und Wxxx (2. Termin). Jxxx Wxxx sagte aus, dass sie vom Januar bis Mai 2001 von beiden Angeklagten unabhängig voneinander mehrfach vergewaltigt und dabei entjungfert worden sei, wobei sie der Angeklagten Wxxx sie u. a. mit einer brennenden Zigarette, aber auch mit einem Teppichmesser gequält habe. Die Ermittlungsrichterin gewann in den Vernehmungen den Eindruck, dass die Nebenklägerin "krank" sei, wusste aber nicht recht einzuordnen, ob dies die Folge massiven sexuellen Missbrauchs war oder umgekehrt dazu geführt hatte, dass Jxxx Wxxx frei erfundene Anschuldigungen erhoben hatte. Die Haftbefehle gegen die beiden Angeklagten wurden daraufhin am 07. Juni 2001 aufgehoben.

Am 23. Dezember 2002 erhob die Staatsanwaltschaft Bxxx gegen die zu diesem Zeitpunkt auf freien Fuß befindlichen beiden Beschuldigten auf der Grundlage der Angaben der Nebenklägerin Anklage.

Zuständig war die Jugendkammer II des Landgerichts xxx. Diese ließ die Anklage zur Hauptverhandlung zu und verhandelte vom 12. Juni 2003 bis zum 7. Mai 2004 an 42 Sitzungstagen. Beide Angeklagten bestritten während der gesamten Verfahrensdauer die gegen sie erhobenen Vorwürfe. Während der laufenden Hauptverhandlung erhob Jxxx Wxxx gegen ihren Vater erstmals den weitergehenden Vorwurf, er habe sie bereits vor 2001 an andere Fernfahrer zum Zwecke des sexuellen Missbrauchs "ausgeliehen". Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein weiteres Ermittlungsverfahren ein, erwirkte am 03.07.03 einen neuen Haftbefehl gegen Wxxx und erhob später gesondert Anklage. Am 28.01.04 erging auch im Ausgangsverfahren erneut Haftbefehl gegen beide Angeklagte.

Mit Urteil vom 7. Mai 2004 verurteilte die Jugendkammer II beide Angeklagten jeweils u. a. wegen Vergewaltigung in 5 Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafen von 12 Jahren 8 Monaten (Wxxx) und 5 Jahren 8 Monaten (Wxxx).

Ihre Überzeugung stützte die Kammer im Wesentlichen auf die Aussage der Nebenklägerin, die an 12 Hauptverhandlungstagen gehört worden war. Die Angaben Jxxx Wxxx stufte die Kammer als glaubhaft, ihre Person als glaubwürdig ein. Dabei gewann sie ihre Überzeugung aus dem persönlichen Eindruck der Zeugin, die an verschiedenen Tagen sehr emotional von den vermeintlichen Straftaten berichtet hatte.

Die Kammer hatte sich zudem von der Dipl.-Psychologin Uxxx als Glaubwürdigkeitsgutachterin sowie Dr. Dxxx als psychiatrischem Sachverständigen beraten lassen. Dr. Dxxx hatte der Nebenklägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, die Sachverständige Uxxx im Ergebnis umfassende Glaubwürdigkeit bescheinigt. Letztere hatte ausgeführt, die Aussagen der Nebenklägerin seien zwar in "vielen Bereichen dürftig und auch mit gewissen Mängeln behaftet gewesen." Diese Mängel seien aber psychologisch - vor dem Hintergrund einer posttraumatischen Belastungsstörung - erklärbar gewesen. Nachdem die Zeugin in der Exploration verschlossen gewesen sei, sei im Laufe der Hauptverhandlung eine positive Veränderung wahrnehmbar gewesen. Die Aussage sei insgesamt konstant gewesen und habe eine Vielzahl an Realitätskriterien ausgewiesen. Eine Beeinflussung habe es nicht gegeben. Die Zeuginnen xxx und Sxxx seien frei von jedem Verdacht der Suggestion.

Darüber hinaus hatte sich die Kammer auf das Gutachten des Rechtsmediziners Dr. Axxx gestützt, der in der Hauptverhandlung ausgeführt hatte, die bei der Nebenklägerin festgestellten Brandverletzungen seien mit der geschilderten Misshandlung mit einer Zigarette, die Schnittverletzungen im Bereich des Schamhügels mit einer Verletzung mit einem Teppichmesser und auch der von ihm festgestellte Zustand des Hymens mit einer mehrfachen Vergewaltigung durchaus vereinbar.

Gegen das Urteil legten beide Angeklagten Revision ein. Während das Revisionsverfahren noch beim BGH anhängig war, erfolgte am 15. September 2004 auf Wunsch der Nebenklägerin eine ergänzende weitere Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft xxx im Hinblick auf weitere bislang nicht geäußerte Vorwürfe. Nachdem sie sich Vertraulichkeit hatte zusichern lassen, machte Jxxx Wxxx in Begleitung ihrer damaligen Anwältin sowie der Zeugin xxx gegenüber Staatsanwalt xxx Angaben zu einem angeblich seit Jahren anhaltenden Missbrauch durch einen Bordellring in xxx, dessen Opfer sie und andere Minderjährige gewesen sein wollte. Sie gab u. a. an, schon seit Jahren -wie andere Mädchen auch - regelmäßig durch einen organisierten Personenkreis, dessen Köpfe sie namentlich benannte, massiv sexuell missbraucht worden zu sein und ihre Unschuld bereits Jahre vor 2001 verloren zu haben. Dabei beschrieb sie insbesondere auch Gebäude in zwei Straßen in xxx, in denen Missbrauch stattgefunden haben sollte, sowie eine ärztliche Hilfsperson, die bei Verletzungen der betroffenen Kinder hinzugezogen worden sei. Als gravierendsten Einzelvorfall beschrieb sie eine Situation, in der angeblich vor laufender Kamera ein aus einem Missbrauch stammendes neugeborenes Baby solange an eine Wand geworfen worden sei, bis es verstarb.

Entsprechend der Zusage wurden die Angaben vertraulich behandelt. Zugleich bemühte sich die Staatsanwaltschaft um Identifikation der beschriebenen Personen und Örtlichkeiten sowie um ergänzende Informationen seitens der Nebenklägerin. Dabei stellte sich alsbald heraus, dass es zwar die angegebenen Straßen in xxx gab. Die beschriebenen Häuser ließen sich allerdings nicht finden. Ebenso wenig ließen sich den keineswegs alltäglichen Namen der angeblichen Führungspersonen des Kinderbordellringes real existierende Personen zuordnen. Die Staatsanwaltschaft bemühte sich daraufhin um ergänzende Angaben seitens der Nebenklägerin, die allerdings nicht erfolgten. In der folgenden Zeit gab Jxxx Wxxx zwar der Illustrierten "BRAVO" ein Interview, welches doppelseitig mit ungepixeltem Bildmaterial von ihr veröffentlicht wurde, machte jedoch keine weiteren Angaben gegenüber der Staatsanwaltschaft.

In der Zwischenzeit hatte der BGH am 9. August 2005 die Revision des Angeklagten Wxxx verworfen, so dass dieser fortan Strafhaft verbüßte. Die Revision des Angeklagten Wxxx führte zunächst zu einem Teilerfolg, blieb aber nach einer zwischenzeitlichen Verhandlung zum Strafmaß mit erneuter Revision im Wesentlichen erfolglos. Er wurde zu 4 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, die er bis zum 18. September 2007 vollständig verbüßte. Mit diesem Datum trat per Gesetz Führungsaufsicht ein.

Bereits während der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer II des Landgerichts xxx hatte Jxxx Wxxx gegen ihren Vater weitergehende Vorwürfe dahin erhoben, er habe sie an andere Fernfahrer zum Zwecke des sexuellen Missbrauchs "ausgeliehen". Diese waren nicht zum Gegenstand einer Nachtragsanklage gemacht worden. Sie hatten aber zu einem weiteren Verfahren geführt, welches am 10. und 15. Januar 2008 vor der Jugendkammer II des Landgerichts xxx verhandelt wurde. In dieser Hauptverhandlung überreichte die Staatsanwaltschaft das Protokoll der Aussage der Nebenklägerin vom 15. September 2004. Bis zu diesem Zeitpunkt war diese Aussage Verteidigung wie Gericht unbekannt gewesen. Daraufhin machte Jxxx Wxxx keine Aussage gegen ihren Vater. Der Angeklagte Wxxx wurde freigesprochen. Die Entscheidung wurde rechtskräftig.

II.

Mit Anträgen vom 8. April (Wxxx) bzw. 27. Mai 2009 (Wxxx) beantragten die Verurteilten die Wiederaufnahme des Verfahrens bei der 1. großen Jugendkammer des Landgerichts Lüneburg. Die Wiederaufnahmeanträge wurden gemäß § 359 Ziffer 5 StPO damit begründet, dass sowohl das aussagepsychologische als auch das psychiatrische Gutachten des Ausgangsverfahrens schwer fehlerhaft gewesen seien und dass darüber hinaus bei Kenntnis der Angaben der Nebenklägerin in ihrer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung vom 15.09.2004 ein anderes Urteil zu erwarten gewesen wäre. Das Gutachten der Sachverständigen Uxxx wurde mit einem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Kxxx aus xxx angegriffen, der der Ausgangsgutachterin schwerwiegende Fehler bescheinigt. Das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. Dxxx wurde mit einem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Kxxx aus xxx angegriffen, der u. a. die Diagnose "posttraumatische Belastungsstörung" massiv in Zweifel zieht und eine Borderline-Problematik annimmt. Hinsichtlich der Vernehmung vom 15.09.2004 wurde vorgetragen, dass die Angaben der Nebenklägerin vor der Jugendkammer II des Landgerichts xxx und vor Staatsanwalt xxx sich gegenseitig ausschlössen und damit geeignet seien, als neues Beweismittel die Glaubwürdigkeit der Hauptbelastungszeugin entscheidend in Frage zu stellen.

Mit Beschluss vom 18. Mai 2009 hat die Kammer den seinerzeit - einzig - vorliegenden Antrag des Angeklagten Wxxx für zulässig erklärt, da zumindest die staatsanwaltschaftliche Vernehmung vom 15.09.2004 im Hinblick auf das Ausgangsverfahren ein neues Beweismittel im Sinne des § 359 StPO darstelle. Zur Aufnahmerelevanz der beiden vorgetragenen Gutachten hat sich die Kammer in diesem Beschluss nicht verhalten. Da sich der Verurteilte Wxxx noch in Haft befand, hat die Kammer zugleich im Hinblick auf eine vorläufige Unterbrechung der Strafvollstreckung nach § 360 Abs. 2 StPO den Dipl.-Psychologen Wxxxx um alsbaldige Erstellung eines Kurzgutachtens zu der Frage gebeten, ob die Angaben der Nebenklägerin bei der Staatsanwaltschaft geeignet seien, deren Glaubwürdigkeit insgesamt in Zweifel zu ziehen. Dies hat der Sachverständige in seiner Stellungnahme bejaht, woraufhin die Kammer mit Beschluss vom 16. Juni 2009 die Entlassung des Verurteilten Wxxx aus der Haft angeordnet hat.

Die Kammer hat sodann zur Vorbereitung der abschließenden Entscheidung in den Wiederaufnahmeverfahren nunmehr beider Verurteilter am 24. November 2009 eine mündliche Anhörung der Sachverständigen Uxxx (Aussagepsychologin im Ausgangsverfahren), Dr. Dxxx (Psychiater im Ausgangsverfahren), Prof. Dr. Kxxx(Wiederaufnahmegutachter Glaubwürdigkeit), Prof. Dr. K (Wiederaufnahmegutachter Psychiatrie) sowie der Dipl.-Psychologin Kxxx (Glaubwürdigkeitsgutachterin der Kammer) und des Psychiaters Dr. Rxxx(psychiatrischer Gutachter der Kammer) durchgeführt. Im Rahmen der mündlichen Anhörung haben sämtliche Sachverständigen in Kenntnis des gesamten Akteninhaltes dazu Stellung genommen, wie sich die staatsanwaltschaftlichen Aussage vom 15. September 2004 voraussichtlich auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin in einer erneuten Hauptverhandlung auswirken würde und wie generell die Angaben der Nebenklägerin seit den ersten Beschuldigungen einzustufen seien.

Sämtliche Gutachter sind zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der vorliegenden Aussageentwicklung unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof im Jahre 1999 aufgestellten Vorgaben die Erlebnisfundiertheit der verurteilungsrelevanten Angaben der Nebenklägerin nicht mehr festzustellen sein werde. Die Sachverständigen haben insbesondere dargelegt, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irrelevant sei, ob und gegebenenfalls welche Angaben die Nebenklägerin in einer neuen Hauptverhandlung mache. Selbst wenn diese in sich stimmig und in der Darstellung überzeugend sein sollten, bleibe die Zeugin unter Berücksichtigung ihrer früheren Aussagen "verbrannt". Dabei sei es irrelevant, ob Grundlage der Beurteilung der Nebenklägerin nur deren Aussage in einer neuen Hauptverhandlung oder zusätzlich eine vorangegangene Exploration sei. Auch in einer Explorationssituation sei keine weitergehende Klärung mehr zu erwarten.

Die Kammer hat daraufhin mit Beschluss vom gleichen Tage die Wiederaufnahme beider Verfahren angeordnet und Termin für die Wiederaufnahmehauptverhandlung ab dem 4. August 2010 anberaumt. Eine frühere Terminierung scheiterte daran, dass zunächst offen geblieben war, ob die Nebenklägerin zu einer erneuten Glaubwürdigkeitsbegutachtung bereit sein würde. Zudem stellte sich heraus, dass die Glaubwürdigkeitsgutachterin der Kammer im Anhörungstermin für eine erneute Hauptverhandlung nicht zur Verfügung stehen würde, was zur Verpflichtung der Sachverständigen Gxxx führte, die aufgrund ihrer Auslastung vor August 2010 nicht zur Verfügung stand.

Mit Fax vom 5. März 2010 hat die Nebenklägerin mitteilen lassen, dass sie zu einer weiteren Exploration nicht bereit sei, zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung, dass sie auch nicht aussagen werde.

III.

Die Kammer hat vom 4. August bis zum 8. September 2010 an 8 Sitzungstagen verhandelt.

Am 1. Hauptverhandlungstag haben beide Angeklagten erklärt, die gegen sie erhobenen Vorwürfe seien unzutreffend. Die Nebenklagevertreterin hat eine schriftliche Erklärung ihrer Mandantin verlesen, dass diese nach anwaltlicher Beratung und unter Berufung auf die §§ 52 und 55 StPO sich endgültig entschlossen habe, in der Wiederaufnahmehauptverhandlung keine Aussage zu machen.

Die Kammer hat daraufhin auf die eindeutige Rechtsprechung des Bundesgerichthofs zur Aussage-gegen-Aussage-Situation hingewiesen und dargelegt, dass unter diesen Umständen nicht mehr mit einer Verurteilung zu rechnen sei. Deswegen hat sie angeregt, unter Verzicht auf alle weiteren förmlichen Beweismittel im Freibeweisverfahren die anwesende Glaubwürdigkeitsgutachterin Gxxx sowie den anwesenden psychiatrischen Sachverständigen Dr. Rxxx dazu zu hören, ob sie in Kenntnis des gesamten Akteninhaltes Ansatzpunkte dafür hätten, dass bei Erhebung der noch ausstehenden Beweismittel mit der Feststellung der Erlebnisfundiertheit der früheren Angaben der Belastungszeugin zu rechnen sei.

Dieser Anregung der Kammer haben sowohl Staatsanwaltschaft als auch Nebenklage und Verteidigung widersprochen und ausgeführt, sie hielten eine förmliche Beweisaufnahme für erforderlich. Daraufhin wurde zur Vermeidung von Beweisanträgen sowie Aufklärungsrügen mit allen Beteiligten abgesprochen, im Rahmen einer weitergehenden förmlichen Beweisaufnahme den Schwerpunkt der Aufklärung auf die Rekonstruktion der Entstehung der Tatvorwürfe zu legen und die Zeug(inn)en xxx, Sxxx, Mxxx Wxxx (Großmutter der Nebenklägerin), VRiLG xxx, VRiLG xxx (Berichterstatterin der Jugendkammer II) sowie Staatsanwalt xxx zu hören.

Die genannten Zeugen wurden in der Folgezeit von der Kammer gehört mit Ausnahme des Staatsanwalts xxx, der sich wegen eines von der Verteidigung gegen ihn angestrengten Ermittlungsverfahrens auf das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO berief. Zusätzlich erfolgte eine Vernehmung der Richterin am Landgericht (zweite Beisitzerin der Jugendkammer II).

Insbesondere in der mehrtägigen Vernehmung der Zeugin xxx wurde deutlich, dass die Entstehung der belastenden Angaben Jxxx Wxxx durch ein Beziehungsgeflecht zwischen ihr und ihrem Umfeld, insbesondere Frau xxx und Frau Sxxx, entscheidend geprägt war. In diesem Verhältnis ging letztlich in wechselseitiger Steigerung von Missbrauchbehauptungen der Nebenklägerin und Zuwendungen seitens der Lehrerin die gebotene berufliche Distanz verloren. Bezeichnend hierfür war insbesondere, dass die Nebenklägerin im Elternhaus ihrer Lehrerin zeitweise untergebracht war und auf deren Vermittlung zu einem längeren Aufenthalt zu einer Verwandten der Lehrerin in die USA reiste.

Bei der Vernehmung der Zeugin Sxxx wurde deutlich, dass sie ihre Aufgabe im "Opferschutz", also in der Betreuung und Begleitung Jxxx Wxxx, nicht hingegen in einer kritischen Prüfung belastender Angaben der Nebenklägerin, sah. Die Strafanzeige war auch nicht im Wesentlichen durch die Nebenklägerin selbst, sondern maßgeblich durch ihr Umfeld ohne Nachprüfung veranlasst. Am deutlichsten wurde dies in der Aussage der Zeugin xxx, die in erstaunlich präziser Erinnerung der Geschehnisse ihren damaligen oben bereits dargestellten Eindruck wiedergab.

Die Aufklärungsmöglichkeiten im Wiederaufnahmeverfahren krankten sicherlich daran, dass den Gerichtssachverständigen die Nebenklägerin nicht zur Verfügung stand. Gleichwohl haben sich aus der Hauptverhandlung für beide Gutachter eine Vielzahl von Anknüpfungstatsachen ergeben, die sie letztlich zu folgender Beurteilung veranlassten:

Der Psychiater Dr. Rxxx hat ausgeführt, er gehe bei der Nebenklägerin nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung sowie unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhaltes zum jetzigen Zeitpunkt vom Vorliegen einer Borderline-Störüng aus. Ob diese allerdings bereits 2000/2001 vorgelegen habe, lasse sich heute - auch durch eine mögliche Exploration - nicht (mehr) feststellen. Die Diagnose des Ausgangsgutachtens (posttraumatische Belastungsstörung) sei für ihn nicht nachvollziehbar. Typisch seien für die von ihm angenommene Borderline-Symptomatik insbesondere auch manipulative Züge, die sich insbesondere im Verhältnis zur Zeugin xxx, aber auch durch die in der Wiederaufnahmehauptverhandlung erfolgte Vorlage eines gefälschten Attestes zum Nachweis einer angeblichen Krebserkrankung im Jahre 2005 eindrucksvoll bestätigt hätten. Bei der Zeugin xxx gehe er von einem "starker Helfersyndrom" aus.

Die Diplompsychologin Gxxx führte aus, die Aussage der Nebenklägerin sei aus ihrer Sicht "verdorben". Es lasse sich angesichts einer Vielzahl von Risikofaktoren mit aussagepsychologischen Methoden nicht feststellen, ob die Angaben erlebnisfundiert seien. Zwar müsse nicht von einer intentionalen Falschaussage ausgegangen werden. Die vorgefundene Situation biete jedoch einen idealen Nährboden für Pseudoerinnerungen. Bei solchen sei durchaus eine hohe inhaltliche Qualität und Konstanz möglich.

Insbesondere sei problematisch, dass es zunächst keine geschlossenen Angaben gegeben habe, sondern sich diese erst im Kontakt mit den Zeuginnen xxx und Sxxx nach und nach entwickelt hätten, wobei eine erhebliche Psychodynamik anzunehmen sei. Die gravierenden externen Faktoren führten vorliegend dazu, dass nicht mehr zwischen möglicher Eigen- und Fremdsuggestion differenziert werden könne. Unsicherheitsfaktoren ergäben sich zudem u. a. aus der problematischen Beziehung zwischen dem Angeklagten Wxxx und seiner Schwiegermutter Mxxx Wxxx, aus früheren von den der Anzeige zugrunde liegenden Angaben abweichenden Darstellungen der Nebenklägerin (anderer Täter, der ihr in die Hose gegriffen haben soll), dem Aufsatteln weiterer Vorwürfe im Ausgangsverfahren, unklarer Missbrauchsvorwürfe bezüglich eines Nachbarmädchens sowie einer problematischen Stellung der Mutter.

Im Ergebnis stellt die Kammer damit fest, dass bereits die Aussageentstehung die in einem Verfahren Aussage gegen Aussage zwingend erforderliche Verifizierung im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbegutachtung nicht mehr zulässt, ohne dass es insoweit auf spätere abweichende Angaben wie beispielsweise in der Vernehmung durch Staatsanwalt xxx noch ankäme.

Der Beweiswert der Angaben der Nebenklägerin wird darüber hinaus durch weitere Ergebnisse der Wiederaufnahmehauptverhandlung diskreditiert:

Zunächst hat der von der Verteidigung sistierte Sachverständige Prof. Dr. Bxxx überzeugend dargelegt, dass auch aus der rechtsmedizinischen Begutachtung des Erstverfahrens belastende Schlüsse zum Nachteil der Angeklagten nicht gezogen werden können. Die Erstbegutachtung sei fehlerhaft, unvollständig und in ihren Schlussfolgerungen nicht nachvollziehbar.

Die nach Abschluss der Hauptverhandlung des Ausgangsverfahrens bei Staatsanwalt xxx gemachte Aussage wiederum ist in Wesentlichen Teilen mit den belastenden Angaben vor der Jugendkammer II des Landgerichts xxx nicht vereinbar. Dies gilt beispielsweise für den Zeitpunkt des Verlusts der Jungfernschaft, aber auch in einer Reihe von anderen Punkten. So will die Nebenklägerin beispielsweise noch während der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer II durch den Bordellring missbraucht worden sein.

Weitere Bestätigung haben die Bedenken der Sachverständigen gegenüber der Zuverlässigkeit der Angaben der Nebenklägerin auch dadurch erfahren, dass diese über ihre Rechtsanwältin am Schluss der Wiederaufnahmehauptverhandlung ein gefälschtes ärztliches Attest vorgelegt hat. Dem lag zugrunde, dass die Zeugin xxx angegeben hatte, die Nebenklägerin zu einer Krebsbehandlung mehrfach bis vor die MHH begleitet zu haben. Dies war seitens der Verteidigung in Zweifel gezogen und daraufhin durch ein schriftliches Attest der MHH seitens der Nebenklagevertreterin (Anlage Nr. 6 des Protokolls) belegt worden. Die Kammer hat daraufhin die MHH per Fax darum gebeten, Authentizität und Inhalt dieses Attest zu bestätigen, woraufhin die betroffene Professorin miteilte, das Attest wäre nicht von ihr ausgestellt, eine Behandlung habe nicht stattgefunden und das verwendete Logo sei längst nicht mehr in Gebrauch (u. a. Anlage Nr. 7 des Protokolls).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO, die Entscheidung über die Entschädigung dem Grund nach auf den §§ 1 Abs. 1, 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StrEG.