Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.07.2016, Az.: L 3 U 201/13

Anerkennung von Kniebeschwerden als Berufskrankheit; Überprüfung des Vorliegens einer Gonarthrose als Krankheit; Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht; Gonarthrose; Chronische Kniegelenksbeschwerden; Anerkennung einer Berufskrankheit gemäß BKV Anl. 1 Nr. 2112 in der gesetzlichen Unfallversicherung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
27.07.2016
Aktenzeichen
L 3 U 201/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 23135
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0727.L3U201.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 17.10.2013 - AZ: S 16 U 117/11

Fundstelle

  • NZS 2016, 792

Amtlicher Leitsatz

Die Berufskrankheit Nr. 2112 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten Verordnung setzt in medizinischer Hinsicht das Vorliegen einer Gonarthrose (mindestens) vom Grad II nach Kellgren voraus. Ob dies angenommen werden kann, ist unter Heranziehung des zur Nr. 2112 ergangenen ärztlichen Merkblatts sowie der Begutachtungsempfehlung für die Berufskrankheit Nr. 2112 zu klären.

Redaktioneller Leitsatz

1. Die Frage, was unter "Gonarthrose" zu verstehen ist, ist unter Heranziehung der zur BK-Nr. 2112 vorliegenden Materialien, insbesondere des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung (Bekanntmachung vom 30. Dezember 2009, GMBl 2010, 98) zu klären.

2. In Abschnitt III. des genannten Merkblatts ist ausgeführt, dass die Diagnose einer Gonarthrose i.S.d. BK-Nr. 2112 folgende Voraussetzungen hat: (1) chronische Kniegelenksbeschwerden, (2) Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk und (3) die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad II - IV der Klassifikation von Kellgren et al.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 17. Oktober 2013 geändert. Die Klage wird insgesamt abgewiesen. Kosten sind im Klage- und im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Kniebeschwerden als Berufskrankheit (BK).

Der 1950 geborene Kläger arbeitete von 1966 bis zum Eintritt in den Ruhestand im August 2014 als Maler. Dabei entfiel seit 1970 ein Viertel seiner Arbeitszeit auf das Verlegen von Bodenbelägen (Teppich, PVC, Linoleum).

Im Februar 1970 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Fraktur des rechten Unterschenkels zuzog. Wegen der Folgen dieses Unfalls - lt Bescheid vom 26. August 2010: Wackelsteifigkeit des unteren Sprunggelenks, endgradige Bewegungseinschränkungen des oberen Sprunggelenks, arthrotische Veränderungen im Bereich des Sprunggelenks, Muskelminderung des Ober- und Unterschenkels nach knöchern unter leichter Verkürzung fest verheiltem Unterschenkelbruch rechts und Innenknöchelbruch rechts - gewährt ihm die Beklagte seit November 2009 eine Verletztenrente iHv 30 vH der Vollrente.

Etwa seit 1972 traten bei ihm auch Beschwerden im rechten Kniegelenk auf, die 2002 und 2005 zu arthroskopischen Operationen führten. Der behandelnde Chirurg Dr. E. diagnostizierte im Jahr 2010 insoweit eine Gonarthrose vom Grad I - II nach Kellgren (Bericht vom 5. Oktober 2010). Seit 2009 bestanden auch Kniebeschwerden links, die schließlich im Jahr 2012 zu einer Arthroskopie führten.

Nachdem Dr. E. der Beklagten unter dem 17. August 2010 eine aktivierte Gonarthrose beiderseits als BK angezeigt hatte, zog die Beklagte medizinische Unterlagen bei und holte eine Stellungnahme ihres beratenden Chirurgen F. ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass beim Kläger rechts das radiologische Bild einer Gonarthrose im Stadium I - II nach Kellgren vorliege, während links radiologisch keine Gonarthrose nachweisbar sei. Eine Gonarthrose iSd BK-Nr 2112 (der Anl 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV)) liege nicht vor. Außerdem bestehe rechts eine sekundäre Meniskopathie, die aber nicht als BK nach der Nr 2102 anzusehen sei.

Mit Bescheid vom 23. Februar 2011 entschied die Beklagte, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach den Nrn 2102 oder 2112 der Anl 1 zur BKV nicht vorlägen. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2011).

Hiergegen hat der Kläger am 11. August 2011 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben, mit der er die Anerkennung von BKen nach Nr 2102 und Nr 2112 der Anl 1 zur BKV und die Gewährung von "Leistungen nach dem SGB VII in rechtmäßiger Höhe" begehrt hat. Durch den Wegeunfall 1970 habe er eine Vorschädigung des rechten Kniegelenks erlitten. Infolge der jahrzehntelangen Kniebelastung als Maler und Lackierer sei es neben dieser Schädigung auch zum Verschleiß im linken Kniegelenk gekommen. Daher sei die Kniegelenkserkrankung beiderseits als BK anzuerkennen und zu entschädigen.

Auf Anforderung des SG hat die Beklagte durch ihre Abteilung Prävention Ermittlungen zur beruflichen Kniebelastung des Klägers durchgeführt, die im Hinblick auf die geltend gemachte Gonarthrose eine Gesamtstundenzahl kniebelastender Tätigkeiten von 18.812 ergeben haben (Bericht vom 14. Dezember 2011). Der vom SG als Sachverständiger beauftragte Orthopäde Dr. G. ist in seinem Gutachten vom 3. April 2012 (ergänzt am 4. Juni 2012 und am 28. Januar 2013) zum Ergebnis gekommen, eine BK 2102 liege nicht vor. Dagegen liege - neben einer posttraumatischen Gonarthrose im rechten Kniegelenk - beiderseits eine Gonarthrose iSd BK-Nr 2112 vor, die zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) iHv 10 vH führe. Demgegenüber hat die Chirurgin Dr. H. als Beratungsärztin der Beklagten die Auffassung vertreten, eine Gonarthrose im linken Kniegelenk sei nicht belegt (Stellungnahme vom 17. August 2012).

Mit Urteil vom 17. Oktober 2013 hat das SG den Bescheid vom 23. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2011 abgeändert und festgestellt, dass beim Kläger am linken Kniegelenk eine BK nach Nr 2112 der Anl 1 zur BKV vorliege, und zwar seit dem 22. Mai 2008. Außerdem hat es die Beklagte verurteilt, ihm ab dem 27. Juli 2012 eine Stützrente nach einer MdE iHv 10 vH zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zwar liege eine Meniskopathie iSd Nr 2102 nicht vor und die rechtsseitigen Kniebeschwerden des Klägers seien nicht Folge der beruflichen Tätigkeit des Klägers, sondern des Ereignisses vom 27. Februar 1970. In Hinblick auf das linke Kniegelenk habe der Sachverständige Dr. G. dagegen gut nachvollziehbar begründet, dass eine Gonarthrose Grad II - IV der Klassifikation von Kellgren beim Kläger vorliege, und den erforderlichen Kausalzusammenhang schlüssig und gut nachvollziehbar bejaht. Wenn sich demgegenüber Dr. H. in ihrer beratungsärztlichen Stellungnahme darauf berufen habe, dass die festzustellenden Osteophyten nicht mindestens 2 mm mäßen, ergäben sich derartige Anforderungen aus den Originalpublikationen von Kellgren nicht.

Gegen das ihr am 21. November 2013 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 4. Dezember 2013 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Sofern Dr. G. sowie das SG Braunschweig von einer Gonarthrose nach Kellgren II im linken Kniegelenk ausgingen, liege eine seitendifferente Gonarthrose vor, die für eine BK-Anerkennung untypisch sei. Durch die als Folge der Unterschenkelfraktur von 1970 aufgetretene Beinachsenfehlstellung wäre im Übrigen auch ein altersvoranschreitender Befund in dem durch den Arbeitsunfall nicht betroffenen linken Kniegelenk zu erwarten. Außerdem seien im linken Kniegelenk lediglich Kellgren I-Veränderungen nachzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 17. Oktober 2013 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für überzeugend. Der fortgeschrittene Knorpelschaden im linken Kniegelenk sei durch seine Arbeitsbelastung als Maler verursacht worden. Die iSd BK-Nr 2112 erforderliche Kniebelastung habe er um 5.812 Stunden überschritten.

Der Senat hat ein Sachverständigengutachten des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. I. (vom 12. November 2014) eingeholt, der zu dem Ergebnis gekommen ist, der beginnende degenerative Kniescheibenschaden links deute nach Art und Umfang nicht auf eine berufliche Genese hin.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die Frage, ob im linken Kniegelenk des Klägers eine Gonarthrose als BK iSd Nr 2112 der Anl 1 zur BKV vorliegt. Soweit das SG die Anerkennung einer BK Nr 2112 im rechten Kniegelenk bzw das Vorliegen einer BK Nr 2102 (Meniskopathie) abgelehnt hat, hat der hierdurch beschwerte Kläger keine Berufung eingelegt, sodass die erstinstanzliche Entscheidung insofern rechtskräftig geworden ist (§ 141 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die so verstandene Berufung ist zulässig und auch begründet. Zu Unrecht hat das SG eine BK nach Nr 2112 der Anl 1 zur BKV festgestellt und die Beklagte verurteilt, dem Kläger hierfür eine Verletztenrente zu zahlen.

1. Soweit der Kläger - nach der Sitzungsniederschrift vom 17. Oktober 2013: auf Anraten des Kammervorsitzenden - beantragt hat, ihm "Leistungen nach dem SGB VII in rechtmäßiger Höhe zu gewähren", ist die Klage bereits unzulässig. Eine solche Leistungsklage ist nicht statthaft, weil sie - entgegen § 54 Abs 4 SGG - nicht auf konkrete Leistungen gerichtet ist, sondern (im Ergebnis) allgemein auf die unzulässige Feststellung einer Leistungspflicht der Beklagten. Über sie könnte auch nicht durch Grundurteil iSv § 130 SGG entschieden werden, weil dies nur möglich wäre, wenn der Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht und nur die Höhe vom Gericht offen gelassen wird (zu alledem Bundessozialgericht (BSG) SozR 4-2700 § 8 Nr 6; Urteil vom 30. Januar 2007 - B 2 U 6/06 R - ). Die Beklagte hat in den angefochtenen Bescheiden auch noch nicht über konkrete Leistungsansprüche entschieden; mit der Formulierung: "Ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen besteht nicht" ist nur die Rechtsfolge umschrieben worden, die sich aus der Ablehnung der BK-Feststellung ergibt (vgl hierzu BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 6). Erst recht war es rechtswidrig, wenn das SG die Beklagte zur Zahlung einer Verletztenrente iHv 10 vH verurteilt hat, weil die Gewährung dieser Leistung vom Kläger gar nicht beantragt worden war (Verstoß gegen die Dispositionsmaxime, § 202 S 1 SGG i.V.m. § 308 Abs 1 S 1 Zivilprozessordnung (ZPO)).

2. Im Übrigen ist die Klage als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 i.V.m. § 55 Abs 1 Nr 3 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Sie ist jedoch unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind insgesamt nicht zu beanstanden. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerden im linken Knie des Klägers Folgen einer BK sind.

a) BKen sind gem § 9 Abs 1 S 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als BKen bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Insoweit ist die Regierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann BKen sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind.

Aus diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf bei einzelnen BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität; hier: in Form gesundheitlicher Leistungseinschränkungen des Klägers), ist keine Bedingung für die Feststellung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" iSd Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl hierzu BSGE 103, 54 [BSG 02.04.2009 - B 2 U 33/07 R] mwN).

Die Nr 2112 der Anl 1 zur BKV bezeichnet die hier allein noch streitgegenständliche BK als "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht". Die Voraussetzungen dieser BK liegen aber nicht vor.

b) Der Kläger hat bei seiner beruflichen Tätigkeit als Maler allerdings eine Tätigkeit ausgeführt, die gem § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat.

c) Dabei war er auch den in der Nr 2112 genannten Einwirkungen ausgesetzt, nämlich einer Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht. Dies ergibt sich aus den im Klageverfahren nachgeholten arbeitstechnischen Ermittlungen der Beklagten, die - bei Zugrundelegung von Arbeiten mit einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht - zu einer Gesamteinwirkungsdauer kniebelastender Tätigkeiten iHv 18.812 Stunden gekommen sind.

d) Es kann jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass im linken Knie des Klägers eine Gonarthrose als Krankheit vorliegt, die von der Nr 2112 der Anl 1 zur BKV erfasst wird.

Die Frage, was unter "Gonarthrose" in diesem Sinne zu verstehen ist, ist unter Heranziehung der zur BK-Nr 2112 vorliegenden Materialien, insbesondere des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung (Bekanntmachung vom 30. Dezember 2009, GMBl 2010, 98) zu klären (Becker in: SGB VII-Komm, Stand: März 2016, § 9 Anm 2 zu Nr 2112 unter Hinweis auf BSG SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2; vgl auch BSG SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2109 Nr 1). In Abschn III. des genannten Merkblatts (GMBl aaO, S 100) ist ausgeführt, dass die Diagnose einer Gonarthrose iSd BK-Nr 2112 folgende Voraussetzungen hat: (1) chronische Kniegelenksbeschwerden, (2) Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk und (3) die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad II - IV der Klassifikation von Kellgren et al. Die wissenschaftliche Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim BMAS aus dem Jahr 2011 (GMBl 2011, 983) hat ergänzend hierzu fünf weitere Funktionsstörungen angeführt, die anstelle der unter (2) angeführten Streck- und Beugeeinschränkungen treten können.

Im Fall des Klägers fehlt es aber bereits an einer röntgenologischen Diagnose entsprechend II - IV der Kellgren-Klassifikation. Dies ergibt sich bereits aus der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. H., die die Beklagte im Klageverfahren vorgelegt hat und die im Ergebnis von den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. I. im Gutachten vom 12. November 2015 bestätigt wird.

Eine Gonarthrose von Grad II der Klassifikation nach Kellgren et al setzt nach dem Merkblatt zur BK-Nr 2112 voraus, dass im Röntgenbild oder im Ergebnis anderer bildgebender Verfahren "definitive Osteophyten" und eine mögliche Verschmälerung des Kniegelenkspalts festgestellt werden können. Was unter "definitiven Osteophyten" zu verstehen ist, ist zwar im Merkblatt und - nach den Angaben des erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. G. - möglicherweise auch in den Originalpublikationen von Kellgren et al nicht näher beschrieben. Nähere Aussagen hierzu sind jedoch der "Begutachtungsempfehlung für die Berufskrankheit Nr 2112 (Gonarthrose)" mit Stand vom 3. Juni 2014 zu entnehmen. Diese beruht auf dem Konsens von Vertretern verschiedener Fachgesellschaften und Organisationen und ist - wie zB die Konsensempfehlung zu den BKen Nrn 2108 und 2109 - bei der Beurteilung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zugrunde zu legen, der - wie hier - für die Beantwortung wissenschaftlicher (insbesondere medizinischer) Fachfragen maßgeblich ist (vgl hierzu zuletzt BSG, Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 10/14 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6).

Als Osteophyten sind nach der Begutachtungsempfehlung knöcherne Randausziehungen anzusehen, die am Gelenkrand lokalisiert sind. Als "definitive" Osteophyten gelten dabei nur solche Randausziehungen, die eine Größe von mindestens 2 mm ab ursprünglicher Knochenform aufweisen. Dabei sind Osteophyten an der Kniescheibe für die Begutachtung der BK-Nr 2112 nur dann bedeutsam, wenn sie sich seitlich an der Patella (Kniescheibe) befinden (zu alledem: Begutachtungsempfehlung S 26).

Veränderungen in diesem Ausmaß liegen im linken Knie des Klägers aber nicht vor. Dies ergibt sich sowohl aus der Stellungnahme der beratenden Ärztin Dr. H. als auch aus dem Sachverständigengutachten von Dr. I ... Bereits Dr. H. hat dargelegt, dass die im Jahr 2012 (und damit zeitnah vor der Aufgabe der belastenden Berufstätigkeit) gefertigten Röntgenaufnahmen Osteophyten zeigen, die kleiner als 2 mm sind. Außerdem liegen sie nicht an den Seiten, sondern am oberen und unteren Rand der Patella. Diese Einschätzung wird vom Sachverständigen Dr. I. bestätigt. Auch er hat (S 17 f und 28 f des Gutachtens) linksseitig lediglich osteophytäre Randausziehungen des oberen und unteren Kniescheibenpols festgestellt, die überdies nur in diskretem Umfang vorhanden sind.

Nach der Begutachtungsempfehlung (dort S 26) kann beim Fehlen von Osteophyten ein Kellgren-Grad II zwar auch angenommen werden, wenn ausschließlich eine Verschmälerung des Kniegelenkspalts gegeben ist. Eine definitive Gelenkspaltverschmälerung kann dabei aber nur vorliegen, wenn die Gelenkspaltweiten in bestimmtem Umfang gemindert sind. Der Abstand der Gelenkflächen im Kniehauptgelenk muss hierfür lateral auf 5 mm oder weniger und medial auf 4 mm oder weniger verringert sein. Dies ist beim Kläger aber nicht der Fall. Dr. G. hat auf der Grundlage der von ihm 2012 gefertigten Röntgenaufnahmen lateral eine Gelenkspaltweite von 9 mm und medial von 5 mm festgestellt (S 18 seines Gutachtens vom 3. April 2012). Auch Dr. I. hat die Verschmälerungen als "allenfalls geringgradig" bezeichnet.

Wenn Dr. I. zusammenfassend eine Gonarthrose II. Grades nach Kellgren annimmt, ist dies allerdings nicht schlüssig. Denn auf der Grundlage der von ihm selbst erhobenen Befunde ist bei Heranziehung der Begutachtungsempfehlung allenfalls von einem Grad I auszugehen. Bei Zugrundelegung der hier maßgeblichen Begutachtungsempfehlung ist nach alledem die Einschätzung von Dr. H. zutreffend, wonach ein Kellgren-Grad II und damit eine Gonarthrose iSd BK-Nr 2112 im linken Kniegelenk des Klägers nicht vorliegt.

e) Unabhängig hiervon kann nicht wahrscheinlich gemacht werden, dass eine Gonarthrose links durch die beruflichen Einwirkungen verursacht worden ist. Entscheidend hierfür ist, dass im rechten Knie unstreitig eine deutlich stärker ausgeprägte Gonarthrose vorliegt, ohne dass die Differenz der Befunde durch eine einseitige berufliche Mehrbelastung der rechten Seite erklärt werden könnte. Sowohl Dr. H. als auch Dr. I. führen dies als Gesichtspunkt an, der gegen einen Ursachenzusammenhang mit den beruflichen Einwirkungen spricht, wobei Dr. I. darauf hinweist, dass die Gonarthrose bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung in der Regel auch beidseitig auftritt. Dies steht mit den Ausführungen im ärztlichen Merkblatt zur BK-Nr 2112 (Abschn III, vorletzter Abs (GMBl 2010, 100)) in Übereinstimmung. Auch in der Rspr ist anerkannt, dass eine asymmetrische Ausprägung gonarthrotischer Veränderungen grundsätzlich gegen eine berufliche Verursachung spricht (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Mai 2015 - L 6 U 4974/13; Sächsisches LSG, Urteil vom 4. November 2015 - L 6 U 200/13 - beide ).

Es besteht im vorliegenden Verfahren auch kein Streit darüber, dass die Gonarthrose im rechten Kniegelenk des Klägers wesentlich durch die Folgen des 1970 erlittenen Arbeitsunfalls verursacht ist. Dies nimmt insbesondere auch der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. G. an. Wenn er demgegenüber in seinem Gutachten ausführt, der beruflichen Belastung komme die wesentliche Rolle für das Entstehen der Gonarthrose links zu, kann dies aber nicht überzeugen. Dr. G. führt dies zum einen darauf zurück, dass im Bereich des linken Knies deutlichere klinische Auswirkungen bestünden als rechts und dass andererseits der Hauptmanifestationsort der Veränderungen die Kniescheibenrückflächen seien. Beide Umstände können seine Einschätzung indes nicht stützen. Weder Dr. I. im Berufungsverfahren noch die Ärzte, die den Kläger vor Dr. G. untersucht hatten, konnten die von Dr. G. mitgeteilten Bewegungseinschränkungen im linken Kniegelenk feststellen. Es kann zurzeit auch nicht als gesichert angesehen werden, dass sich eine beruflich bedingte Gonarthrose typischerweise an den Kniescheibenrückflächen manifestiert. Aus der Begutachtungsempfehlung (S 11) ergibt sich vielmehr, dass zwar die biomechanische Evidenz in diesem Fall eine Betonung der Knorpelschäden im Retropatellargelenk erwarten lässt. Die bisher vorliegenden Studien konnten aber keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung der Knorpelschäden zwischen den exponierten und nichtexponierten Personen nachweisen. Deshalb muss gegenwärtig davon ausgegangen werden, dass ein belastungstypisches Verteilungsmuster bei arbeitsbedingt exponierten Fällen mit Gonarthrose im Vergleich zu arbeitsbedingt nicht belasteten Fällen mit Gonarthrose nicht existiert (Begutachtungsempfehlung S 12).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht ersichtlich.