Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.03.2005, Az.: 222 Ss 55/05 (OWi)

Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes trotz Vorliegens eines Regelfalls nach der Bußgeldkatalogverordnung (BKatV); Fahrlässige Begehung der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit; Gerichtliche Prüfung derVoraussetzungen der Denkzettelfunktion und Besinnungsfunktion des Fahrverbotes

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.03.2005
Aktenzeichen
222 Ss 55/05 (OWi)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 35877
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2005:0302.222SS55.05OWI.0A

Fundstellen

  • NStZ 2007, 22 (Kurzinformation)
  • zfs 2005, 314-315 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Verkehrsordnungswidrigkeit

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Von einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung ist nicht schon dann auszugehen, wenn der Betroffene ortsunkundig ist und die geschwindigkeitsbegrenzenden Verkehrsschilder schlicht übersehen haben könnte. Das Gericht hat vielmehr die Umstände, die zur Fahrlässigkeit führen sollen, darzulegen und zu begründen.

  2. 2.

    Will das Gericht trotz Vorliegens eines Regelfalls nach der Bußgeldkatalogverordnung von der Verhängung eines Fahrverbotes absehen, bedarf es einer auf Tatsachen gestützten eingehenden Begründung. Ein solches Vorgehen kommt nur bei Härten ganz außergewöhnlicher Art, sonstigen das Tatbild beherrschenden außergewöhnlichen Umständen oder einer Vielzahl zusammentreffender durchschnittlicher Umstände in Betracht.

  3. 3.

    Wird ein Bußgeld von mehr als 100 EUR verhängt, handelt es sich um eine nicht mehr geringfügige Ordnungswidrigkeit, bei der es der näheren Darlegung zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen bedarf.

  4. 4.

    Tatsächliche Umstände wie zum Beispiel das Ausmaß einer Geschwindigkeitsüberschreitung gehören nicht in die Urteilsformel.

In der Bußgeldsache ...
hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle
auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft xxx
gegen das Urteil des Amtsgerichts xxx vom 2. Dezember 2004
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
Richter am Oberlandesgericht xxx
am 2. März 2005
beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts xxx zurückverwiesen.

Gründe

1

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 300 EUR verurteilt, von der Verhängung eines Fahrverbotes jedoch abgesehen.

2

Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 14. April 2004 gegen 22.47 Uhr mit einem Pkw den in beide Fahrtrichtungen jeweils zweispurig ausgebauten xxx in xxx in Richtung stadtauswärts. Hinter der Kreuzung mit der xxx wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit "durch entsprechende Beschilderung" zunächst auf 70 km/h, etwas später auf 50 km/h begrenzt. Der Betroffene fuhr gleichwohl mit einer Geschwindigkeit von 96 km/h und zwar im Bereich der 50-km/h-Begrenzung über eine Strecke von 200 Metern, bis er wegen eines bevorstehenden Abbiegevorgangs seine Geschwindigkeit reduzierte. Der Betroffene kannte sich seinerzeit in xxx noch nicht gut aus und wollte deshalb einen vor ihm fahrenden Kollegen nicht aus den Augen verlieren. Angesichts des geringen Verkehrsaufkommens und des guten Ausbauzustandes des xxx ließ er sich zu der Geschwindigkeitsüberschreitung verleiten.

3

Das Amtsgericht hat das Verhalten des Betroffenen als fahrlässige Geschwindigkeitsüberschreitung gewertet, weil nicht sicher feststellbar sei, "dass dem Betroffenen die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h seinerzeit bewusst gewesen ist."

4

Das Amtsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass es bei dem Betroffenen der Verhängung (des nach dem Bußgeldkatalog vorgesehenen) Fahrverbotes nicht bedürfe, weil ihm dieses Verfahren eindringlich die Bedeutung der Fahrerlaubnis für den Erhalt seines Arbeitsplatzes vor Augen geführt habe. Es reiche deshalb die Erhöhung der Regelbuße auch unter Berücksichtigung der straf- und verkehrsordnungsrechtlichen Vorbelastungen auf 300 EUR aus.

5

Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft unter Erhebung der Aufklärungs- und der Sachrüge mit der Rechtsbeschwerde, die sich insbesondere gegen die Annahme einer fahrlässigen Begehung und das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes richtet.

6

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, sodass es eines Eingehens auf die gleichfalls erhobene Verfahrensrüge nicht bedarf. Es führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

7

1.

Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Fahrlässigkeit sind lückenhaft und widersprüchlich, sodass sie den Schuldumfang nicht ausreichend erkennen lassen.

8

Zwar heißt es in den Urteilsgründen insoweit ausdrücklich, es sei nicht sicher feststellbar, "dass dem Betroffenen die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h seinerzeit bewusst gewesen ist." Die Urteilsgründe belegen indes diese Schlussfolgerung nicht in einer für den Senat nachvollziehbaren Weise. Denn nach den Feststellungen befuhr der Betroffene den xxx Richtung stadtauswärts, kam also aus der Stadt, in der grundsätzlich die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gilt. Insofern ist schon nicht ohne weiteres verständlich, weshalb der Betroffene von einer höheren erlaubten Höchstgeschwindigkeit ausgegangen sein sollte. Dazu, ob der Betroffene die geschwindigkeitsbegrenzenden Verkehrsschilder wahrgenommen hat, verhält sich das angefochtene Urteil nicht. Es wird auch nicht mitgeteilt, was der Betroffene dazu konkret angegeben hat. Soweit die Einlassung des Betroffenen wiedergegeben wird, heißt es, er habe als weitgehend Ortsunkundiger "den Kontakt zu dem vorausfahrenden Kollegen nicht verlieren wollen und sei wohl auch durch den guten Straßenausbau und das geringe Verkehrsaufkommen zu der Geschwindigkeitsüberschreitung verleitet worden." Diese Einlassung deutet eher auf eine bewusste Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit als auf eine fahrlässige Begehungsweise. Weshalb das Amtsgericht sich gleichwohl keine ausreichende Überzeugung für die Annahme von Vorsatz bilden konnte, ergibt sich aus dem Urteil nicht, zumal auch nichts dafür ersichtlich ist, dass der Betroffene die geschwindigkeitsbegrenzenden Verkehrsschilder schlicht übersehen haben könnte. Insoweit fehlt es auch an näheren Darlegungen, wie die Geschwindigkeitsbegrenzungen konkret angeordnet worden sind.

9

2.

Auch die Ausführungen zum Rechtsfolgenausspruch halten sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

10

a)

Der Senat hat wiederholt (grundlegend: B.v.21.09.2000, 322 Ss 140/00 - Owi - = NdsRfpl 2001, 160 f. = VRS 102, 310 ff.) ausgesprochen, dass das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes trotz Vorliegens eines Regelfalls nach der Bußgeldkatalogverordnung einer auf Tatsachen gestützten eingehenden Begründung bedarf und nur bei Härten ganz außergewöhnlicher Art, sonstiger das Tatbild beherrschender außergewöhnlicher Umstände oder einer Vielzahl zusammentreffender durchschnittlicher Umstände in Betracht kommt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn feststeht, dass das Fahrverbot zum Verlust des Arbeitsplatzes führen würde. Im Rahmen der Überzeugungsbildung darf das Tatgericht diesbezügliche Behauptungen des Betroffenen aber nicht einfach hinnehmen, sondern muss sie im Urteil besonders kritisch würdigen und hinterfragen. Auch wenn dem Tatgericht dabei nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht grundsätzlich verwehrt ist, die Feststellungen im Einzelfall allein oder im Wesentlichen auf die Einlassung des Betroffenen zu stützen, kommt dies nur in Betracht, wenn aus der Einlassung nachvollziehbar lückenlose und widerspruchsfreie Feststellungen hergeleitet werden können, die auch allgemeinen Erfahrungssätzen standhalten.

11

Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Das Amtsgericht hat ersichtlich die Annahme eines Härtefalls in erster Linie auf die Angaben des Betroffenen gestützt. Der Hinweis auf ein vorgelegtes Schreiben des Arbeitgebers in diesem Zusammenhang ist schon deshalb unzureichend, weil dessen Inhalt nicht mitgeteilt wird. Im Übrigen fehlen jegliche Darlegungen dazu, weshalb unter Berücksichtigung eines jedenfalls möglichen zweiwöchigen Urlaubs der Betroffene in der verbleibenden Fahrverbotszeit von gut zwei Wochen nicht in einer Weise beschäftigt werden können soll, bei der er auf den Führerschein nicht angewiesen ist. Nach den Feststellungen benötigt der Betroffene den Führerschein für Testfahrten und für die Leistung von Pannenhilfe zu nächtlicher Stunde. Dass der Betroffene nicht kurzzeitig von diesen Tätigkeiten entbunden werden könnte, drängt sich jedenfalls nicht auf, zumal das Urteil nicht mitteilt, wie viele Beschäftigte bei dem Arbeitgeber des Betroffenen tätig sind. Die Argumentation des Amtsgerichts lässt zudem außer acht, dass selbst bei einem Berufskraftfahrer ein einmonatiges Fahrverbot die Kündigung des Arbeitsverhältnisses regelmäßig nicht rechtfertigt (vgl. etwa BayObLG 1989, 243; NZV 1997, 89 f.).

12

b)

Soweit das Amtsgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass hier von der Erhöhung der Regelgeldbuße eine ausreichende Warnfunktion ausgehe, fehlt es ebenfalls an einer nachvollziehbaren Begründung.

13

Für eine Einzelfallprüfung bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Verhängung eines Fahrverbotes gemäß §§ 25 Abs.1 StVG, 4 Abs.1 BKatV ist nur eingeschränkt Raum. Regelmäßig bedarf es vielmehr bei Erfüllung der Voraussetzungen der Denkzettel- und Besinnungsfunktion des Fahrverbotes (BGHSt 38, 231, 235 [BGH 17.03.1992 - 4 StR 367/91] ff.) [BGH 17.03.1992 - 4 StR 367/91]. Eine abweichende individuelle Prognoseentscheidung bedarf daher ganz besonderer tatsächlicher Umstände, die ausnahmsweise die Annahme rechtfertigen können, ein Fahrverbot sei nicht geboten (vgl. Senatsbeschluss v. 21.09.2000, a.a.O.). Solche Umstände legt das angefochtene Urteil nicht dar.

14

In diesem Zusammenhang ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Überzeugungsbildung des Amtsgerichts auch nicht plausibel ist. Immerhin ist dem Betroffenen erst vier Monate vor Begehung der jetzigen Tat eine Fahrerlaubnis neu erteilt worden, nachdem ihm diese mit Urteil des Amtsgerichts xxx vom 16.06.2003 wegen eines Vergehens der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung durch falsches Überholen entzogen worden war. Nachdem selbst ein mehrmonatiger Fahrerlaubnisentzug den Betroffenen nicht hat zu einem verkehrsgerechten Verhalten hat anhalten können, vermag nicht einzuleuchten, dass dieser Effekt nunmehr bereits durch eine erhöhte Geldbuße sollte erreicht werden können.

15

c)

Schließlich ist auch die Erhöhung der Geldbuße nicht rechtsfehlerfrei begründet. Insoweit ist § 17 Abs.3 S.2 OWiG nicht ausreichend beachtet. Bei nicht mehr geringfügigen Ordnungswidrigkeiten, das sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats solche, bei denen ein Bußgeld von mehr als 100 EUR verhängt wird, bedarf es näherer Darlegungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen. Dafür genügt der Hinweis auf ein geregeltes Einkommen nicht, zumal sich aus dem angefochtenen Urteil nicht einmal der Familienstand des Betroffenen und etwaige Unterhaltsverpflichtungen ergeben.

16

3.

Angesichts der unzureichenden Feststellungen ist der Senat nicht in der Lage, gemäß § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst zu entscheiden. Die Sache muss deshalb an das Amtsgericht zurückverwiesen werden. Entgegen dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hat der Senat auch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben. Abgesehen davon, dass ohnehin neue Feststellungen zur konkreten Beschilderung und der erlaubten Höchstgeschwindigkeit vor der Begrenzung auf 70 km/h zu treffen sein werden, vermag der Senat den Urteilsgründen nämlich auch nicht ausreichend deutlich zu entnehmen, dass die Voraussetzungen eines Normalfalls der Geschwindigkeitsmessung durch Hinterherfahren vorliegend erfüllt waren. Immerhin ist nach den Feststellungen die Messung im Bereich der 50-km/h-Begrenzung lediglich über eine Strecke von ca. 200 m erfolgte, wobei zudem nicht mitgeteilt wird, worauf sich die Streckenschätzung gründet. Ebenso wenig ergibt sich aus dem Urteil, in welchen Abständen von wem die Fahrgeschwindigkeit auf dem Tachometer abgelesen worden ist.

17

4.

Angesichts der Fassung der Urteilsformel sieht sich der Senat für die neu zu treffende Entscheidung zu dem Hinweis veranlasst, dass die Urteilsformel von allem freizuhalten ist, was nicht unmittelbar ihrer Zweckbestimmung dient, die abgeurteilte Tat rechtlich zu kennzeichnen. Insbesondere gehören tatsächliche Umstände wie hier das Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht in die Urteilsformel. Vielmehr hat sich die Formel regelmäßig auf die Wiedergabe der gesetzlichen Überschrift des Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestandes oder bei Fehlen einer Überschrift auf die Verwendung einer gebräuchlichen Tatbezeichnung zu beschränken (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., Rdnr. 20 ff. zu § 260).