Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 06.06.2012, Az.: 6 A 122/11

aG-light; atypischer Ausnahmefall; Ausnah; Ermess; Merkzeichen; Park

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
06.06.2012
Aktenzeichen
6 A 122/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44445
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Verkehrsbehörden können bei der Prüfung, ob schwerbehinderten Menschen eine Ausnahmegenehmigung für Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 StVO zu erteilen ist, verpflichtet sein, über die in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO geregelten Fälle hinaus einen atypischen Ausnahmefall zu prüfen. Eine solche Verpflichtung besteht immer dann, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles konkrete Anhaltspunkte für einen atypischen Ausnahmefall ergeben.

2. Ein atypischer Ausnahmefall liegt vor, wenn ein Vergleich der Beeinträchtigungen des Antragstellers im konkreten Fall mit den in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO geregelten Fällen ergibt, dass die Beeinträchtigungen ähnlich schwer wiegen und es damit sachlich nicht gerechtfertigt ist, den Antragsteller durch Versagung der Ausnahmegenehmigung ungleich zu behandeln.

Tatbestand:

Der am F. geborene Kläger begehrt die Erteilung einer für die gesamte Bundesrepublik Deutschland geltenden Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen außerhalb der aG - Regelung (sog. aG - light).

Mit Bescheid vom 06.06.2007 war für den Kläger seitens des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle G. (im Folgenden: Landesamt) ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Merkzeichen G festgestellt worden. Auf dieser Grundlage erteilte die Beklagte dem Kläger bis zum Jahr 2009 einen Parkausweis für Behinderte, welcher nicht nur für ihr Stadtgebiet, sondern auch für die Kreise H. und I. sowie die Stadt G. galt. Mit Bescheid vom 02.11.2009 stellte die Beklagte unter Hinweis auf eine geänderte Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 StVO lediglich einen auf ihr Stadtgebiet begrenzten Parkausweis aus.

Auf Hinweis der Beklagten stellte der Kläger beim Landesamt im November 2009 einen (Folge-)Antrag, gerichtet auf die „Feststellung des Bestehens der Voraussetzungen des Absatzes c) der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO“ (gemeint: Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11, II. Nr. 3 Buchst. c.= Rn. 136). Daraufhin wurden mit Bescheid vom 25.05.2010 seitens des Landesamtes ein GdB von 90 sowie die Merkzeichen G und B festgestellt. Danach liegen beim Kläger folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor:

1. Hüfttotalendoprothese beiderseits, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB: 50)

2. Degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Spinalkanalstenose, Nervenstörung in den Beinen (Einzel-GdB: 40)

3. Muskelverschmächtigung am linken Oberarm, Funktionseinschränkung im linken Schultergelenk nach Nervenentzündung (Einzel-GdB: 30)

4. Anerkenntnis nach dem BVG (Einzel-GdB: 30)

5. Koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck (Einzel-GdB: 30).

Die Erteilung des Merkzeichens aG (außergewöhnlich gehbehindert) wurde mit der Begründung abgelehnt, dass nach versorgungsärztlicher Beurteilung keine derart schwere Einschränkung der Gehfähigkeit vorliege, die dazu führe, dass der Kläger selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung gehen könne. Er gehöre nicht zu den in II. 1. der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO genannten Personen. Außerdem lägen keine Erkrankungen vor, die eine Gleichstellung mit diesem Personenkreis rechtfertigten. Dagegen erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch und machte geltend, dass über die beantragte Feststellung im Hinblick auf die Voraussetzungen des Absatzes c) zur Verwaltungsvorschrift nicht entschieden worden sei. Er begehre daher nach wie vor die Feststellung, dass ein GdB von mindestens 80 für die unteren Extremitäten einschließlich der Lendenwirbelsäule (LWS) vorliege. Im Widerspruchsverfahren holte das Landesamt einen neuen ärztlichen Bericht der behandelnden Hausärztin ein und beteiligte seinen Ärztlichen Dienst. In dem Bericht vom 09.12.2010 führt der Ärztliche Dienst nach Aktenlage aus, dass die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der unteren Extremitäten und der LWS insgesamt keinen GdB von 80, sondern allenfalls einen GdB von 70 bedingen. Es lägen auch keine Befunde vor, welche eine höhere GdB - Einstufung des Herzleidens begründen könnten. Insgesamt lägen somit die Voraussetzungen für eine Parkgenehmigung nach den neuen Richtlinien nicht vor. Unabhängig davon rechtfertigten die Funktionsbeeinträchtigungen auch nicht das Merkzeichen aG.

Mit Bescheid vom 21.12.2010 wies das Landesamt den erhobenen Widerspruch zurück. Zur Begründung verwies es darauf, dass der Kläger nach den Feststellungen des Ärztlichen Dienstes nicht zum Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gehöre und diesen auch nicht gleichzustellen sei. Die konkreten Feststellungen des Ärztlichen Dienstes zu den Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten und der LWS sowie des Herzens wurden dem Kläger nicht mitgeteilt.

Am 18.01.2011 erhob der Kläger Klage gegen die Bescheide des Landesamtes vor dem Sozialgericht G. (J.) und legte dar, dass er (letztlich) die Feststellung der Voraussetzungen begehre, die für die Erteilung eines Parkausweises für Behinderte notwendig seien. Über die Klage wurde noch nicht entschieden. Der gleichzeitig beim Sozialgericht gestellte einstweilige Rechtsschutzantrag auf eine Verpflichtung des Landesamtes, ihn untersuchen zu lassen, um durch die Straßenverkehrsbehörde der Beklagten die Ausstellung eines Parkausweises für Schwerbehinderte mit überörtlicher Geltung zu erlangen, wurde mit Beschluss des Sozialgerichts vom 03.03.2011 abgelehnt (K.). Zur Begründung wird dort ausgeführt, der Kläger begehre die Erteilung einer Ausnahme auf der Grundlage des § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO. Dafür sei nicht das Landesamt, sondern die Straßenverkehrsbehörde zuständig. Das Landesamt habe alle Entscheidungen im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Anerkennung seiner Schwerbehinderteneigenschaft getroffen. Soweit die Straßenverkehrsbehörde die Erteilung einer Parkerleichterung abgelehnt habe, weil der Kläger den Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen nach den Bestimmungen des § 69 SGB IX nicht erbracht habe, sei diese aufgrund der geltenden Erlasslage gehalten, Amtshilfe beim Landesamt in Anspruch zu nehmen.

Daraufhin beantragte der Kläger unter dem 12.04.2011 bei der Beklagten die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO für den Geltungsbereich der gesamten Bundesrepublik, mindestens aber für die Bereiche L., G., H., M. und I.. Zur Begründung verwies er auf den Grad seiner Behinderung von 90, die Erteilung der Merkzeichen B und G sowie ärztliche Unterlagen. Danach leide er bei einer immer weiter zunehmenden Gebrechlichkeit an einer Gehbehinderung mit Schnapphüften, sensibler Polyneuropathie der Beine, funktionsrelevanten Paresen (Lähmungen des Fußhebers rechts und einer hochgradigen atrophischen Lähmung des linken Armplexus). Er sei nicht in der Lage, Strecken über zwanzig Meter zu Fuß und ohne fremde Hilfe zurückzulegen und auf die Benutzung eines Rollators angewiesen. Wegen seiner Erkrankungen müsse er sich regelmäßig zu Ärzten begeben, die nicht nur in L., sondern auch in G. und H. praktizierten. Er sei in der Lage, mit dem PKW zu Arztbesuchen und anderen Gelegenheiten des sozialen Lebens zu fahren; um sich dann auch tatsächlich dorthin begeben zu können, sei er jedoch auf die beantragten Parkerleichterungen angewiesen. Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 29.04.2011 lehnte die Beklagte die Erteilung eines Parksonderausweises, gültig für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland, ab und verwies darauf, dass der Kläger die in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO genannten Voraussetzungen nicht erfülle. In dieser Verwaltungsvorschrift sei der Personenkreis, dem Parkerleichterungen gewährt werden könnten, verbindlich festgelegt. Anderen Personen dürften die Parkerleichterungen nicht gewährt werden. Sie sei jedoch berechtigt, gem. § 46 StVO für ihren Bereich Ausnahmen zuzulassen. Deshalb sei dem Kläger auch bereits ein eingeschränkter Parkausweis, gültig in L., ausgestellt worden.

Dagegen hat der Kläger am 25.05.2011 Klage erhoben und verfolgt sein Begehren weiter. Zur Begründung trägt er vor, bis zum Jahr 2009 sei die Erstellung des ihm seinerzeit erteilten Ausweises an die Feststellung geknüpft gewesen, dass er nicht mehr als hundert Meter ohne Hilfe gehen könne. Dieser Nachweis habe durch eine einfache ärztliche Bescheinigung geführt werden können. Nunmehr wende er sich gegen die örtliche Begrenzung des Parkausweises. Auf Anregung der Beklagten habe er beim Landesamt die Feststellung beantragt, dass bei ihm neben den Merkzeichen G und B ein Grad der Behinderung von wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken, bestehe. Zu diesen Feststellungen habe sich die Beklagte außerstande gesehen. Deshalb habe er in seinem Antrag an das Landesamt aus November 2009 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es ihm darum gehe, das Bestehen der Voraussetzungen der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO bestätigt zu erhalten. Dieser Antrag sei offenbar für das Landesamt atypisch gewesen, da dieser Antrag nicht zutreffend ausgelegt worden sei. Denn mit dem Bescheid vom 25.05.2010 sei vom Landesamt der Grad der Behinderung von 80 auf 90 erhöht, zusätzlich das Merkmal B eingetragen und das Merkzeichen aG abgelehnt worden. Zum Vorliegen der eigentlich von ihm beantragten Voraussetzungen sei keine Stellung genommen worden.

Ihm stehe ein Anspruch auf Erteilung eines entsprechenden Parkausweises zu. Quasi als Auffangtatbestand für besondere Härten räume § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO die Möglichkeit ein, (eingeschränkte) Parkerleichterungen zu erteilen, wenn das Merkzeichen aG nicht vorliege. Dabei sei der Straßenverkehrsbehörde Ermessen eröffnet, welches im vorliegenden Fall lediglich zu dem Ergebnis führen könne, dass ihm die begehrte Ausnahmegenehmigung mit der Geltung für das gesamte Bundesgebiet zu erteilen sei. Die von der Beklagten zitierte Verwaltungsvorschrift stelle dabei kein Hindernis dar. Zum einen sei er der dort genannten Gruppe der schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können, zuzuordnen. Denn er könne sich nicht über Strecken von mehr als zwanzig Metern zu Fuß fortbewegen. Dabei sei er auf die Benutzung eines Rollators in Leichtbauweise angewiesen. Zum anderen stellten die genannten Beeinträchtigungen lediglich eine beispielhafte Aufzählung und keinen - wie von der Beklagten rechtsfehlerhaft angenommen - abschließenden Katalog dar. Die von der Beklagten verlangte Nachweismethode (über eine Amtshilfe durch das Landesamt) benachteilige ihn derart unangemessen, dass erhebliche Bedenken gegen die Durchführbarkeit und Wirksamkeit der Verwaltungsvorschrift bestünden und diese somit nicht anzuwenden sei. Er habe nicht die Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen nachzuweisen. Außerdem ziehe sich das Verfahren unzumutbar lange hin. Es sei nicht ersichtlich, warum nicht wie bisher einfache ärztliche Feststellungen über die tatsächliche Gehfähigkeit des jeweiligen Antragstellers ausreichen sollten. Darüber hinaus könne die Beklagte ihn von einem Amtsarzt ihres Gesundheitsamtes begutachten zu lassen.

Es liege ein vollständiger Ermessensausfall vor. Sollte die Verwaltungsvorschrift tatsächlich keine Härtefallregelung beinhalten, müsste sie insofern auch für die Beklagte als nicht bindend angesehen werden. Im Übrigen seien Ausnahmegenehmigungen gem. § 46 Abs. 4 StVO grundsätzlich im gesamten Bundesgebiet wirksam. Warum die Beklagte - wie geschehen - Ausnahmen für ihren Bereich erteilen könne, sei nicht ersichtlich. Da er sich zu Arztbesuchen und in Ausübung des normalen sozialen Lebens in den Bereichen der Städte L. und G. sowie in den Landkreisen I., H. und M. bewege, sei es jedenfalls zwingend geboten, die Ausnahmegenehmigung für diese Bereiche zu erteilen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.04.2011 zu verpflichten, ihm eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 der StVO für das gesamte Bundesgebiet zu erteilen,

hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.04.2011 zu verpflichten, seinen Antrag auf Erteilung eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 der StVO für das gesamte Bundesgebiet neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf die Verwaltungsvorschriften zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO, die von ihr verbindlich anzuwenden seien. Sie sei insbesondere an die dortige Regelung gebunden, dass eine Ausnahmegenehmigung an andere Personengruppen, die nicht in der Verwaltungsvorschrift genannt seien, nicht erteilt werden könne. Da der Kläger die dort genannten Voraussetzungen nicht erfülle, könne ihm kein Parkausweis mit eingeschränkten Sonderrechten in der beantragten Form erteilt werden. Auch das Landesamt habe ein Vorliegen der geforderten Voraussetzungen nicht bestätigt. Nach Rücksprache mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr am 08.10.2009 könne sie jedoch für ihren Bereich gem. § 46 StVO Ausnahmen zulassen, weshalb dem Kläger ein entsprechender Parkausweis erteilt worden sei.

Gleichzeitig mit der Klage hat der Kläger einen einstweiligen Rechtsschutzantrag gestellt (6 B 132/11). Nach Rücknahme des Antrags in der ersten mündlichen Verhandlung am 30.08.2011 ist das Verfahren eingestellt worden. Das Gericht hat Beweis durch Einholung eines Gutachtens des Herrn N. eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das fachorthopädische Gutachten vom 25.10.2011 (Bl. 110 ff. der Gerichtsakte) und die ergänzenden Ausführungen des Gutachters vom 11.01.2012 (Bl. 139 ff. der Gerichtsakte) verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie im Verfahren 6 B 132/11, den zu diesen Verfahren vorgelegten Verwaltungsvorgang der Beklagten und die beigezogenen Akten des Sozialgerichts G. zu den Aktenzeichen O. und J. einschließlich der dortigen Beiakte des Landesamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Dem Kläger steht gegenwärtig kein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO zur Gewährung von Parkerleichterungen für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen außerhalb der aG-Regelung zu (sog. „aG-light“) (1.). Die Beklagte ist jedoch zu verpflichten, den Antrag auf Erteilung einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (2.).

1.Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO kann die örtlich zuständige Straßenverkehrsbehörde in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftszeichen, Richtzeichen, Verkehrseinrichtungen oder Anordnungen erlassen sind, genehmigen.Zu den Vorschrift- und Richtzeichen in diesem Sinne gehören u.a. die durch die Zeichen 283, 286, 290, 314, 315 und 325 StVO angeordneten Parkverbote bzw. -beschränkungen. Zu den Parkerleichterungen, die in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO (im Folgenden: VwV-StVO, BAnz 2009, S. 2050 ff. = VkBl. 2009, S. 386 ff.) unter Rn. 118-126 genannt werden, gehören z.B. die Gestattung, im eingeschränkten Haltverbot bis zu drei Stunden zu parken, im Bereich eines Zonenhaltverbots die zugelassene Parkdauer zu überschreiten, in Fußgängerzonen während freigegebener Ladezeiten zu parken, an Parkuhren und Parkscheinautomaten ohne Gebühr und zeitliche Begrenzung zu parken, auf Parkplätzen für Anwohner bis zu drei Stunden zu parken und in verkehrsberuhigten Bereichen außerhalb der gekennzeichneten Flächen zu parken, sofern in zumutbarer Entfernung keine andere Parkmöglichkeit besteht.

Bereits aus dem Wortlaut von § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO ergibt sich, dass die Erteilung nur ausnahmsweise zulässig ist. Darüber hinaus konkretisiert Rn. 1 der VwV-StVO den Tatbestand des § 46 Abs. 1 StVO, wenn es dort heißt, es sei nur in besonders dringenden Fällen gerechtfertigt, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, wobei an den Nachweis einer Dringlichkeit strenge Anforderungen zu stellen sind. Liegt eine solche Ausnahmesituation vor, die bei strikter Anwendung der rechtlichen Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnte (vgl. BVerfG, B. v. 10.12.1975 - 1 BvR 118/71 -, BVerfGE 40, 371, 377 [BVerfG 03.12.1975 - 2 BvL 7/74]), hat die zuständige Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Damit ist das Merkmal der Ausnahmesituation nicht als eigenständiges Tatbestandsmerkmal verselbstständigt, sondern Bestandteil der der Behörde obliegenden Ermessensentscheidung. Denn die Feststellung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, setzt den gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall voraus, der dem generellen Verbot zugrunde liegt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 14.03.2000 - 8 A 5467/98 -, NZV 2001, 277 ff. unter Berufung auf das BVerwG; VG Braunschweig, U. v. 29.04.1999 - 6 A 6066/98 - ). Die mit dem Verbot verfolgten öffentlichen Belange sind dabei gegen die besonderen Interessen desjenigen, der die Ausnahmegenehmigung begehrt, abzuwägen. Die Ermessensentscheidung kann das Gericht gem. § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt darauf überprüfen, ob die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen erkannt, von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat. Das Ermessen der Behörde wird durch die aufgrund Art. 84 Abs. 2 GG erlassene und am 4. Juni 2009 neugefasste VwV-StVO gelenkt und gebunden. Es handelt sich dabei nicht um Rechtsnormen, sondern um innerdienstliche Richtlinien, die keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für den Bürger begründen. Sie entfalten im Verhältnis zum Bürger nur deshalb Wirkungen, weil die Verwaltung zur Wahrung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet ist und sich demgemäß durch die pflichtgemäße Anwendung der Verwaltungsvorschriften selbst bindet. Maßgeblich ist die bestehende Verwaltungspraxis (OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 23.08.2011 - 8 A 2247/10 -, juris Rn. 27; s. a. BVerwG, B. v. 27.12.1990 - 1 B 162.90 -, juris Rn. 5).

Bei Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Die Beklagte hat entgegen der Ansicht des Klägers das ihr bei der Entscheidung zustehende Ermessen ausgeübt; ein zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führender Ermessensausfall liegt nicht vor. Denn unter Berücksichtigung des oben dargestellten Charakters der VwV-StVO als ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften hat die Beklagte bereits mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Rn. 129-139 der VwV-StVO, hier insbesondere der Rn. 136 vorliegen, das Ermessen zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt.

Dieses Ermessen war aber nicht soweit eingeschränkt, dass nur die Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung ermessensfehlerfrei gewesen wäre (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

Durch die Neufassung der VwV-StVO zu Nr. 11 der Vorschrift ist der Kreis der Personen, die aufgrund der bundesweit geltenden Regelung bzgl. einer Ausnahmegenehmigung zur Parkerleichterung anspruchsberechtigt sind, geändert worden. Nach Nr. II. 1. und 2. der früher geltenden VwV-StVO zu Nr. 11 (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 46 StVO Rn. 18) konnten Ausnahmegenehmigungen für Parkerleichterungen Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen „aG“) und Blinden (Merkzeichen „BI“) erteilt werden. Neben dieser bundesweiten Regelung fand in Niedersachsen der Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 04.05.2004 (43-30050 12 10) Anwendung. Dort wurden den Straßenverkehrsbehörden Vorschläge gemacht, in welchen Fällen verstärkt und unbürokratisch von der Möglichkeit der Erteilung nur für den eigenen Bereich geltender Parkerleichterungen für Schwerbehinderte, in deren Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen „aG“ oder „BI“ nicht ausgewiesen sind, Gebrauch gemacht werden kann. Damit wurde dem Anliegen des Niedersächsischen Landtages Rechnung getragen, diesen Menschen Parkerleichterungen im Hinblick auf lebensnotwendige Verrichtungen wie Arztbesuche, Einkäufe etc. zu gewähren. Ähnlich wurde in anderen Bundesländern verfahren.

Durch die Neufassung der VwV-StVO zum 01.01.2009 ist der Kreis der Personen, die aufgrund der bundesweit geltenden Regelung anspruchsberechtigt sind, durch Hinzufügung der neuen Randnummern 136-139 erheblich erweitert worden. Zum Kreis der schwerbehinderten Personen, die regelmäßig für Parkerleichterungen in Betracht kommen, gehören nun zusätzlich schwerbehinderte Menschen mit beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen (Rn. 135), schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen „G“ und „B“ und einem Grad der Behinderung von wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) (Rn. 136), schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen „G“ und „B“ und einem Grad der Behinderung von wenigstens 70 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) und gleichzeitig einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 für Funktionsstörungen des Herzens oder der Atmungsorgane (Rn. 137), schwerbehinderte Menschen, die an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa erkrankt sind, wenn hierfür ein Grad der Behinderung von wenigstens 60 vorliegt (Rn. 138) sowie schwerbehinderte Menschen mit künstlichem Darmausgang und zugleich künstlicher Harnableitung, wenn hierfür ein Grad der Behinderung von wenigstens 70 vorliegt (Rn. 139).

Im Hinblick auf die Neufassung hat das Niedersächsische Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr mit Erlass vom 19.06.2009 (43-30050/1240) die früher geltenden Erlasse, insbesondere den Erlass vom 04.05.2004, aufgehoben (vgl. Nr. 2 Satz 2). Gleichzeitig wurde klargestellt, dass Ausnahmegenehmigungen künftig nur noch nach den neuen bundeseinheitlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erteilen sind (Nr. 3.1). Die auf der Grundlage der früheren Erlasse erteilten Ausnahmegenehmigungen sollen im Umfang der bisherigen Berechtigung ihre Gültigkeit bis zum individuell festgesetzten Ablauftermin behalten. Eine Verlängerung der Gültigkeitsdauer oder eine Erweiterung des Geltungsbereichs durfte nicht mehr erfolgen (Nr. 5.1 Sätze 1 und 2). Es wurde ausdrücklich klargestellt, dass der Personenkreis, dem Parkerleichterungen gewährt werden können, in den Rn. 129-139 der VwV-StVO verbindlich festgelegt sei und dass anderen Personen keine Parkerleichterungen mehr gewährt werden dürften (Nr. 3.1). Landesspezifische Ausnahmegenehmigungen und Parkausweise sind danach in Niedersachsen wie z. B. auch in Nordrhein-Westfalen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 23.08.2011, a. a. O., Rn. 35 ff.) nicht (mehr) vorgesehen.

Im Ergebnis ist damit bundesweit der Kreis der anspruchsberechtigten Personen deutlich erweitert worden, während bezogen auf das Gebiet des Landes Niedersachsen durch Verzicht auf die Weiterführung der landesspezifischen Ausnahmeregelungen der Personenkreis eingeschränkt worden ist (vgl. die unter Nrn. 5 und 6 des Erlasses vom 04.05.2004 genannten Personengruppen, die in der VwV-StVO nicht als Anspruchsberechtigte genannt werden). Zwar wird bereits in dem Erlass vom 04.05.2004 den Straßenverkehrsbehörden vorgeschlagen, für Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 allein infolge Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule und den Merkzeichen „G“ und „B“ Parkerleichterungen zu gewähren. Damit entsprach diese Personengruppe der nunmehr in Rn. 136 der VwV-StVO genannten Personengruppe. Allerdings wurde die Erteilung der entsprechenden Ausnahmegenehmigung an gehbehinderte Personen mit Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen oder der Lendenwirbelsäule in der tatsächlichen Verwaltungspraxis der Beklagten anders gehandhabt. Wie sich aus dem in den Verwaltungsvorgängen vorhandenen Vordruck der Beklagten und dem unwidersprochenen Vortrag des Klägers ergibt, wurde eine Ausnahmegenehmigung erteilt, wenn das Merkzeichen „G“ mit einem Grad der Behinderung von mindestens 70 zuerkannt worden war und die Bewegungsfähigkeit des Betroffenen maximal 100 Meter betrug. Als Nachweis wurden der Schwerbehindertenausweis und eine ärztliche Bescheinigung gefordert. Auf dieser Grundlage wurde dem Kläger durch die Beklagte bis zur Änderung der VwV-StVO im Jahr 2009 eine Parkerleichterung für ihr Stadtgebiet und aufgrund von Absprachen und einer wohl gleichen Verwaltungspraxis der Kreise H. und I. sowie der Stadt G. auch für deren Gebiete erteilt.

Die Änderung der bundesweit geltenden Verwaltungsvorschrift und der Verzicht auf die Weiterführung landesspezifischer Ausnahmen durch den niedersächsischen Erlassgeber ist rechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die Änderung der Verwaltungspraxis durch die Beklagte. Ziel der Neufassung der VwV-StVO war, die unterschiedlichen gesundheitlichen Voraussetzungen und Parkerleichterungen sowie die uneinheitlichen Parkausweise in den einzelnen Bundesländern im Rahmen einer bundeseinheitlichen Regelung umfassend anzugleichen und in der Konsequenz die Handhabung der Parkerleichterungen in der Verwaltungspraxis zu erleichtern. Diesem Ziel dienten auch der Verzicht auf die Weiterführung landesspezifischer Ausnahmen und die daraufhin erfolgte Änderung der konkreten Verwaltungspraxis der Beklagten. Damit sind die vorgenommenen Änderungen, die auf neuen Erfahrungen und einer geänderten Konzeption beruhen, sachlich gerechtfertigt und verstoßen daher nicht gegen den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung. Auch unter Vertrauensschutzgesichtspunkten sind sie nicht zu beanstanden, da ermessensbindende Verwaltungsvorschriften unter dem Vorbehalt ihrer Änderung stehen und dadurch nicht nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände nachteilig eingegriffen wird (vgl. für alles Vorstehende OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 23.08.2011, a. a. O., Rn. 39 ff.).

Der Kläger, der sich im Wesentlichen auf seine Gehbehinderung beruft, gehört nicht zu dem von der VwV-StVO erfassten Personenkreis. Unstreitig ist für den Kläger das Merkzeichen „aG“ bisher nicht vergeben worden, so dass die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung über Rn. 129, 130 nicht in Betracht kommt. Soweit es für die Entscheidung über eine Ausnahmegenehmigung auf das Vorliegen von Merkzeichen ankommt, sind die Straßenverkehrsbehörden an die Feststellungen der für Aufgaben des Schwerbehindertenrechts zuständigen Behörden (hier des Nds. Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie – im Folgenden: Landesamt) gebunden. Das ergibt sich aus § 69 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. § 69 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB IX. Danach dient der Schwerbehindertenausweis dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Leistungen und sonstigen Hilfen, die schwerbehinderten Menschen nach Teil 2 des SGB IX oder nach anderen Vorschriften zustehen. Bindungswirkung kommt dabei nicht nur den im Schwerbehindertenausweis dokumentierten positiven Feststellungen über gesundheitliche Merkmale im Sinne des § 69 Abs. 4 SGB IX zu, sondern auch den negativen Feststellungen, dass solche Merkmale nicht vorliegen (vgl. Nds. OVG, B. v. 15.06.2012 - 12 LA 59/11 -; OVG Nordrhein-Westfalen, U. 23.8.2011, a. a. O., Rn. 82 m. w. N.). Soweit der Kläger darauf verweist, dass er sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann, beruft er sich auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rn. 129, 130 der VwV-StVO, die einer Vergabe des Merkzeichens „aG“ durch das Landesamt bedürfen. Da er mit der beim Sozialgericht G. anhängigen Klage (J.) den Bescheid des Landesamtes vom 25.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.12.2010 und damit auch die Ablehnung der Vergabe des Merkzeichens aG angefochten hat, haben insoweit allein die Sozialgerichte zu entscheiden.

Der Kläger, dem unstreitig die Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) zuerkannt worden sind, hat auch nicht nachgewiesen, dass bei ihm in Sinne der Regelung in Rn. 136 der VwV-StVO eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) vorliegt. Dabei ist die Kammer nicht strikt an die Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des Landeamtes in seinem Bericht vom 09.12.2010 gebunden. Dieser hat im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid des Landesamtes vom 25.05.2010 Feststellungen zu den Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der unteren Extremitäten und der Lendenwirbelsäule im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen der Rn. 136 der VwV-StVO getroffen. Danach begründen diese Beeinträchtigungen insgesamt keinen GdB von 80, sondern allenfalls einen GdB von 70.

Inwieweit die Verwaltungsgerichte in Verfahren gerichtet auf Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO an Stellungnahmen der Sozialverwaltung, in Niedersachsen des Landesamtes, zu den Voraussetzungen der Rn. 136 der VwV-StVO gebunden sind, ist umstritten. Zum einen wird eine Bindungswirkung verneint, weil sich § 69 Abs. 5 Satz 2 SGB IX allein auf die in den Schwerbehindertenausweis einzutragenden Feststellungen, also auf das Vorliegen einer Behinderung und den (Gesamt-)Grad der Behinderung sowie die weiteren gesundheitlichen Merkmale (§ 69 Abs. 4 SGB IX) beziehe. Sonstige Stellungnahmen der Sozialverwaltung zum Vorliegen bestimmter Krankheiten oder Funktionsbeeinträchtigungen, wie hier zu den Voraussetzungen der Rn. 136 VwV-StVO, sollen von der Bindungswirkung nicht erfasst werden (vgl. OVG Nordrhein- Westfalen, U. v. 23.08.2011, a. a. O., Rn. 84 ff.). Zum anderen wird eine Bindungswirkung bejaht und angenommen, dass die zuständigen Behörden der Sozialverwaltung wegen ihrer besonderen Sachkunde allgemein und unbeschränkt befugt sind, über das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale für Nachteilsausgleiche mit verbindlicher Wirkung für andere durch Verwaltungsakt zu entscheiden. Dieses Feststellungsmonopol soll auch dann gelten, wenn es für die Merkmale (noch) keine Merkzeichen gibt, die sich in einen Schwerbehindertenausweis eintragen ließen, wie z. B. bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Rn. 136 der VwV-StVO gegeben sind (vgl. Dau, jurisPR v. 20.10.2011 und VG Düsseldorf, U. v. 15.09.2009 - 14 K 1539/39 -, juris). Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung der Sozialgerichte noch nicht geklärt, inwieweit das Landesamt gemäß § 69 SGB IX zu verbindlichen Feststellungen im Hinblick auf Rn. 136 der VwV-StVO durch Verwaltungsakt berechtigt oder verpflichtet ist, gegen die die Betroffenen dann vor den Sozialgerichten um Rechtsschutz nachsuchen können (vgl. Dau, a. a. O.). In Anbetracht dieser Situation kann nicht die Rede davon sein, dass das Verfahren „eindeutig geregelt“ ist (so aber Antwort des MWAV vom 21.05.2012 auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Schneck, LT-Drs. 16/4817). Solange eine Rechtsschutzgewährung durch die Sozialgerichte in diesen Fällen unklar ist, sind daher die Verwaltungsgerichte nach Ansicht der Kammer im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG berechtigt, weitere Ermittlungen vorzunehmen. Das gilt jedenfalls dann, wenn Zweifel bestehen, ob die Stellungnahme des Landesamtes richtig ist und die Verkehrsbehörde im Rahmen der Ermessensentscheidung daher von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist.

Nach diesen Maßstäben war die Kammer im vorliegenden Verfahren berechtigt, eine Beweisaufnahme durch Einholung eines fachärztlichen Gutachtens des Orthopäden P. durchzuführen, da der oben zitierte Bericht des Ärztlichen Dienstes des Landesamtes vom 09.12.2010 keinerlei Begründung nennt, warum die Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) allenfalls einen GdB von 70 begründen sollen. Nur auf diese Weise kann dem Kläger, der die Feststellungen des Ärztlichen Dienstes bestreitet, effektiver Rechtsschutz i. S. v. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt werden. Denn der im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid des Landesamtes vom 25.05.2010 zwar seitens des Sachbearbeiters angeforderte Bericht des Ärztlichen Dienstes vom 09.12.2010 ist im Hinblick auf diese Feststellungen bewusst nicht Inhalt des daraufhin ergangenen Widerspruchsbescheides vom 21.12.2010 geworden. Diese Feststellungen wurden auch weder dem Kläger noch dem Beklagten im später durchgeführten Verfahren zur Erteilung einer Parkerleichterung mitgeteilt. Der Kläger konnte daher nach derzeitigem Sachstand nur im Rahmen des vorliegenden gerichtlichen Verfahrens gegen die Straßenverkehrsbehörde auf Erteilung der Parkerleichterung eine sachliche und rechtliche Überprüfung im Hinblick auf die Feststellung, ob ein GdB von mindestens 80 für Funktionsstörungen der unteren Extremitäten und der Lendenwirbelsäule vorliegt, veranlassen.

Es kann dahinstehen, ob das aufgrund der mangelnden Aussagekraft des Berichtes des Ärztlichen Dienstes eingeholte Gutachten des P. lediglich einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen ist, da dieses darüber hinausgehend insgesamt nachvollziehbar ist und die Feststellungen des Ärztlichen Dienstes des Landesamtes bestätigt. Anhand einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen unter Berücksichtigung der Ausführungen des Klägers zu seiner Gehfähigkeit mit Schreiben vom 13.11.20011 hat der Gutachter rechtsfehlerfrei die beim Kläger vorliegenden Funktionsstörungen trotz der vom Landesamt festgestellten Einzel-GdB`s für beide Hüftgelenke und die Lendenwirbelsäule – auch bei Berücksichtigung einer gegenseitigen Beeinflussung – mit einem gemeinsamen GdB von nicht mehr als maximal 70 ordnungsgemäß bewertet. Dabei hat er seine Feststellungen in rechtlich zulässiger Weise gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auf die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der dazu erlassenen Rechtsverordnung gestützt. Dementsprechend hat er seiner Bewertung eines GdB`s für die Funktionsstörungen der unteren Extremitäten und der Lendenwirbelsäule die allgemeinen Grundsätze zur Bildung eines Gesamt-GdB der bis zum 31.08.2008 geltenden Allgemeinen Versorgungsgrundsätze bzw. die insoweit gleichlautenden ab 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze der Anlage 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung zugrunde gelegt. Danach sind die gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX notwendigen Feststellungen zu den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander nachvollziehbar begründet. Dementsprechend hat der Gutachter die einzelnen vorhandenen Funktionsstörungen berücksichtigt und bzgl. ihres Einflusses auf die Gehfähigkeit bewertet. Insbesondere hat er bei der erforderlichen Gesamtschau berücksichtigt, inwiefern sich die Funktionsstörungen in den unterschiedlichen Funktionskreisen der Hüftproblematik und der Wirbelsäulenproblematik überschneiden bzw. verstärken (vgl. Ergänzung zum Gutachten vom 11.01.2012, S. 4; Schorn: in Müller-Wenner/Schorn, SGB IX, § 69 Rn. 59). Es bestehen auch nicht deshalb Zweifel an den gutachterlichen Feststellungen, weil dem Gutachter (versehentlich) der ärztliche Bericht der Hausärztin Q. vom 15.11.2010 nicht übersandt wurde. Denn die Beschreibung des Gesundheitszustandes und der daraus resultierenden Funktionsstörungen decken sich mit den zahlreichen zuvor eingereichten Stellungnahmen der Hausärztin. Allein der Hinweis auf eine zunehmende Gebrechlichkeit hat keinen Einfluss auf die maßgeblichen vorhandenen Funktionsstörungen. Darüber hinaus hat der Gutachter nachvollziehbar begründet, dass aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen und der aktuellen, detaillierten Ausführungen des Klägers zu seiner Gehfähigkeit eine Entscheidung nach Aktenlage erfolgen konnte. Insgesamt vermitteln die sich ergänzenden Unterlagen ein überzeugendes Bild von der Art und dem Ausmaß aller geltend gemachten Funktionsstörungen, die zu einer Bewertung der hier umstrittenen Funktionsstörungen für die unteren Extremitäten und die Lendenwirbelsäule mit einem GdB von maximal 70 führen.

2. Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu, seinen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Die Entscheidung der Beklagten, im Fall des Klägers nur das Vorliegen der Voraussetzungen der Rn. 136 der VwV-StVO zu prüfen und darüber hinaus keinen gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall, der dem generellen Verbot zugrunde liegt, vorzunehmen, stellt einen Ermessensfehlgebrauch dar.

Diese Entscheidung hat die Beklagte auf der Grundlage des oben zitierten Erlasses vom 19.06.2009 zur Neufassung der VwV-StVO zu Nr. 11 StVO (s. o.) getroffen. Dort wird u. a. in Nr. 3.1 ausdrücklich bestimmt, dass der Personenkreis, dem Parkerleichterungen gewährt werden können, in Nr. II Ziffern 1-3 der VwV-StVO (Rn. 129-139) verbindlich festgelegt ist. Anderen Personen dürfen danach Parkerleichterungen nicht gewährt werden. Der Erlass erweist sich jedoch insoweit als rechtswidrig. Indem die Beklagte sich auf dieser Grundlage in ständiger Verwaltungspraxis gehindert gesehen hat, das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalls nach Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen der Rn. 136 weiter zu prüfen, hat sie den ihr eingeräumten Ermessensspielraum verkannt. Die Ausnutzung des den Verkehrsbehörden durch § 46 StVO eröffneten Ermessensspielraumes setzt nämlich gemäß § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i. V. § 40 VwVfG voraus, dass die Behörde das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält. Im vorliegenden Verfahren besteht der Zweck der Ermächtigung des § 46 Abs. 1 StVO darin, Abweichungen von generellen Bestimmungen der StVO zu ermöglichen, um besonderen Ausnahmesituationen Rechnung zu tragen, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten. Ob ein solcher Fall vorliegt, bemisst sich nach dem Ergebnis eines Vergleichs der Umstände des konkreten Falles mit dem typischen Regelfall, der dem generellen Verbot zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund darf das Ermessen der Beklagten durch die VwV-StVO zwar gelenkt und gebunden werden. Jedoch konkretisiert die VwV-StVO die behördliche Entscheidung nicht abschließend und hindert die Behörde nicht generell, ihr Ermessen in vergleichbaren, aber nicht ausdrücklich geregelten Fällen abweichend auszuüben. Durch die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften wird das gesetzlich eingeräumte Ermessen lediglich abstrakt wahrgenommen und der Behörde zur Einzelfallentscheidung eine Orientierung gegeben (vgl. BVerwG, B. v. 27.12.1990 - 1 B 162/90 -; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13.03.2006 - 8 A 2345/05 - und U. v. 23.08.2011, a. a. O., alle juris). Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut von § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO, der ausdrücklich Ausnahmegenehmigungen in bestimmten Einzelfällen denjenigen gegenüberstellt, die allgemein für bestimmte Antragsteller gewährt werden. Damit können die Verkehrsbehörden verpflichtet sein zu prüfen, ob über die in der VwV-StVO geregelten Fälle hinaus ein atypischer Ausnahmefall vorliegt. Eine solche Verpflichtung besteht immer dann, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles konkrete Anhaltspunkte für einen atypischen Ausnahmefall ergeben. Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn ein Vergleich der Beeinträchtigungen des Antragstellers im konkreten Fall mit den in der VwV-StVO geregelten Fällen ergibt, dass die Beeinträchtigungen ähnlich schwer wiegen und es damit sachlich nicht gerechtfertigt ist, den Antragsteller durch Versagung der Ausnahmegenehmigung ungleich zu behandeln. Dabei kommt ein atypischer Ausnahmefall in diesem Sinne nicht nur dann in Betracht, wenn der Antragsteller gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend macht, die nicht zu Gehbehinderungen im weitesten Sinne gezählt werden können. Auch eine Kumulation verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen unter Einschluss gehbehindernder Faktoren kann im Einzelfall dazu führen, dass eine besondere Ausnahmesituation vorliegt, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden kann. Zur Beantwortung der Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall nach diesen Kriterien vorliegt, kann die Verkehrsbehörde beispielsweise eine amtsärztliche Stellungnahme einholen.

Unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers und der Feststellungen des Landesamtes zu seinem Gesundheitszustand insgesamt bestehen im Fall des Klägers konkrete Anhaltspunkte für die Prüfung eines atypischen Ausnahmefalls. Er leidet nicht nur an Funktionsstörungen der unteren Extremitäten und der Lendenwirbelsäule durch die beiden Hüfttotalendoprothesen und die Wirbelsäulenveränderungen, sondern auch an einer Verschmächtigung am linken Oberarm mit Funktionseinschränkungen im linken Schultergelenk nach Nervenentzündung. In seiner Beschreibung zur Gehfähigkeit vom 13.11.2011 nimmt er darauf Bezug und schildert die dadurch entstehenden besonderen Probleme beim Aufstehen, Umhergehen und der Nutzung des Rollators, weil der linke Arm nur sehr eingeschränkt bewegt werden kann. Auch das nachgewiesene Nervenengpasssyndrom am rechten Ellenbogen (vgl. www.medizin-info.de zum sulcus-ulnaris-Syndrom und Ärztlicher Bericht des Neurologen Dr. Hallermann vom 07.03.2011), zu dessen Behandlung der behandelnde Neurologe zu einer Vermeidung jeglicher Druckbelastungen am Ellenbogen rät, dürfte die Probleme bei der Nutzung des Rollators verstärken. Dies gilt ebenso für die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommene eingeschränkte Funktionsfähigkeit seiner rechten Hand aufgrund einer Kriegsverletzung, für die seitens des Landesamtes ein Einzel-GdB von 30 festgestellt worden ist. Weiterhin ist die zunehmende allgemeine Gebrechlichkeit des fast 90 Jahre alten Klägers zu berücksichtigen. Dementsprechend ist die Beklagte zu verpflichten, den Antrag auf Erteilung einer Parkerleichterung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Letztlich wird zu prüfen sein, ob der gesundheitliche Zustand des Klägers zu einer persönlichen Situation führt, der bei einem wertenden Vergleich mit den Personenkreisen, denen nach der VwV-StVO Parkerleichterungen zugestanden werden, durch Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung zu begegnen ist.