Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 31.01.2011, Az.: 1 Ws 24/11

Ausgehen von Fluchtgefahr bei Ankündigung des im Ausland lebenden Angeklagten zum Erscheinen zur Hauptverhandlung nur nach vorheriger Zusicherung einer Strafaussetzung zur Bewährung; Ergehen eines Haftbefehls nach §§ 112 ff. StPO als Vorwegnahme eines zu erwartenden Haftbefehls wegen Nichterscheinens in der Hauptverhandlung nach § 230 Abs. 2 StPO

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
31.01.2011
Aktenzeichen
1 Ws 24/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 21857
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2011:0131.1WS24.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Cloppenburg - 14.10.2004 - AZ: 4 Gs 35/04
LG Oldenburg - 23.06.2010 - AZ: 1 Qs 210/10

Fundstellen

  • NJW-Spezial 2011, 538
  • StV 2011, 419-420

Verfahrensgegenstand

Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und Geldfälschung

Amtlicher Leitsatz

Fluchtgefahr kann nicht deshalb angenommen werden, weil der im Ausland wohnende Angeklagte ankündigt, zur Hauptverhandlung nur nach vorheriger Zusicherung einer Strafaussetzung zur Bewährung anzureisen. Ein Haftbefehl nach §§ 112 ff StPO kann nicht als Vorwegnahme eines zu erwartenden Haftbefehls wegen Nichterscheinens in der Hauptverhandlung nach§ 230 Abs. 2 StPO ergehen.

In der Strafsache
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 31. Januar 2011
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und
...
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 23. Juni 2010, durch den der gegen den Angeklagten erlassene Haftbefehl des Amtsgerichts Cloppenburg vom 14. Oktober 2004 aufgehoben worden ist, wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und insoweit entstandene notwendige Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

1

Das Amtsgericht Cloppenburg erließ gegen den Angeklagten am 14. Oktober 2004 einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl.

2

Dem Angeklagten wird darin vorgeworfen, von August 2003 bis zum 19. November 2003 in Saterland, Kaunas, Silauliai, Stockholm, Oslo, Stavanger und anderenorts sich in zwei Fällen der Geldfälschung und in vier Fällen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht zu haben und zwar als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Haftbefehls verwiesen.

3

Mit Beschluss vom 23. Juni 2010 hob das Landgericht auf die Haftbeschwerde des Beschuldigten den Haftbefehl auf, weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr bestünden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss verwiesen.

4

Die Staatsanwaltschaft klagte den Angeklagten unter dem 23. August 2010 wegen der im Haftbefehl aufgeführten Taten zum Landgericht an, wo die Anklage, auf deren Inhalt verwiesen wird, am 15. September 2010 einging.

5

Mit Beschluss vom 30. November 2010 ließ das Landgericht die Anklage zu, soweit sie dem Angeklagten zur Last legt, in der Absicht, dass falsches Geld als echt in den Verkehr gebracht oder dass ein solches Inverkehrbringen ermöglicht werde, sich falsches Geld verschafft und als echtes Geld in den Verkehr gebracht zu haben (Fall 1 der Anklage) und in zwei Fällen vorsätzlich dazu Hilfe geleistet zu haben, dass mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben wird (Fälle 3, 5, 6 der Anklage). Insoweit eröffnete das Landgericht das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - Cloppenburg. Im Übrigen lehnte das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.

6

Der Verteidiger wandte sich daraufhin am 8. Dezember 2010 mit folgendem Schreiben an die Staatsanwaltschaft:

Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt,

ich weiß ja jetzt nicht, ob Sie die Entscheidung des Landgerichts noch anfechten wollen. Sollten Sie dies nicht tun, dann würde ich mit meinem Mandanten klären, ob er bereit und in der Lage wäre für ein Verfahren nach Deutschland zu kommen. Voraussetzung wäre allerdings nach Maßgabe der landgerichtlichen Entscheidung die Verhängung einer Bewährungsstrafe gegen Abgabe eines entsprechenden Geständnisses.

Sollten Sie diesem Vorschlag näher treten können, dann bitte ich um Rückmeldung.

Mit freundlichen Grüßen ... ."

7

Die Staatsanwaltschaft, die am 9. Dezember 2010 gegen die teilweise Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens bzw. die Zulassung der Anklage mit Änderungen sofortige Beschwerde einlegte, legte am 4. Januar 2011 Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls ein, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.

8

Die Staatsanwaltschaft stützt die Annahme der Fluchtgefahr entscheidend darauf, der Angeklagte habe Kenntnis von der gegen den gesondert verfolgten Mittäter J... G... wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen und Geldfälschung in zwei Fällen verhängten Strafe von sieben Jahren und sechs Monaten und müsse seinerseits mit einer ganz erheblichen Freiheitsstrafe rechnen. Dies bilde einen erheblichen Anreiz, sich dem Verfahren zu entziehen. Aufgrund des Schreibens des Verteidigers vom 8. Dezember 2010 werde davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte dem Verfahren nicht freiwillig stellen werde. Wegen der Einzelheiten wird auf das Beschwerdevorbringen verwiesen.

9

Die zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung des Haftbefehls bleibt in der Sache ohne Erfolg.

10

Schon im Zeitpunkt der Aufhebung des Haftbefehls am 23. Juni 2010 kannte der Angeklagte - die seit 16. November 2005 rechtskräftige - Verurteilung des gesondert verfolgten J... G... . Soweit die Staatsanwaltschaft nunmehr aufgrund des Schreibens des Verteidigers vom 8. Dezember 2010 eine gesteigerte Gefahr sieht, der Angeklagte werde sich dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren nicht stellen, hebt die Staatsanwaltschaft entscheidend darauf ab, dass die gegen den Angeklagten erhobene Anklage in allen Punkten zu eröffnen sein werde und der Angeklagte - insbesondere wegen der bandenmäßigen Begehung und des dadurch eröffneten höheren Strafrahmens - eine ganz empfindliche Freiheitsstrafe zu erwarten habe.

11

Ein dringender Tatverdacht bandenmäßiger Begehung von Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie von Straftaten der Geldfälschung ist indessen auch nach Auffassung des Senats derzeit nicht zu bejahen.

12

Das Landgericht hat in seinem Beschluss über die teilweise Eröffnung des Hauptverfahrens, auf dessen Inhalt verwiesen wird, zutreffend ausgeführt, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Vernehmung der inzwischen rechtskräftig verurteilten früheren Beschuldigten G..., J... und A... im vorliegendem Verfahren als Zeugen in Betracht komme, werde eine Bandenabrede mit dem Angeklagten wahrscheinlich nicht zu beweisen sein. Bei der Prüfung, ob ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl gegen den Angeklagten gerechtfertigt ist, kann daher kein dringender Tatverdacht einer Bandenmitgliedschaft des Angeklagten zugrunde gelegt werden.

13

Soweit der Angeklagte des unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Punkte 3, 5 und 6 der Anklage) beschuldigt wird, teilt der Senat zudem die weitere Würdigung des Landgerichts, es bestehe kein dringender Tatverdacht einer Mittäterschaft des Angeklagten. Vielmehr ist nach dem bisherigen Ermittlungsstand lediglich von dringendem Tatverdacht bezüglich einer Gehilfenschaft des Angeklagten in zwei Fällen durch zweimalige Mitwirkung beim Einbau von Verstecken für Rauschmittel in den VW Passat auszugehen.

14

Schließlich hat das Landgericht im Beschluss vom 30. November 2010 mit zutreffender Begründung hinreichenden Tatverdacht hinsichtlich des Vorwurfs der Geldfälschung (Punkt 2 der Anklage) und des unerlaubten Handels mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge (Punkt 4 der Anklage) verneint.

15

Hiervon ausgehend hat der bislang nicht bestrafte Angeklagte wegen Beihilfe zum unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen durch Mitwirkung bei der Schaffung von Verstecken im VW Passat ( Anklagepunkte 3, 5 und 6) sowie wegen eines Falles der Geldfälschung (Anklagepunkt 1) keine derart hohe Strafe zu gewärtigen, die die Annahme begründete, er werde sich dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen.

16

Vielmehr erscheint mit Rücksicht auf die bisherige Unbestraftheit des Angeklagten, die infolge des Haftbefehls erfahrene und im Falle der Verurteilung auf die Strafe anzurechnende Freiheitsbeschränkung in Litauen sowie den Umstand, dass seit Begehung der Taten mehr als sieben Jahre verstrichen sind, die Verhängung einer Strafe in einem Bereich, der eine Strafaussetzung zur Bewährung zuließe, nicht ausgeschlossen. Damit löst die Straferwartung hier keinen besonderen Fluchtanreiz aus.

17

Auch das Schreiben des Verteidigers vom 8. Dezember 2010 gibt keinen ausreichenden Anlass für die Annahme, der Angeklagte werde sich dem Strafverfahren entziehen. Es kann deshalb insoweit dahinstehen, ob sich ein Beschuldigter dem Verfahren überhaupt schon dadurch im Sinne des§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO "entzieht", dass er sich in seinem Heimatland zwar unter einer bekannten Adresse aufhält, im Übrigen aber passiv verhält. Ein Sichentziehen setzt nach der sprachlichen Bedeutung des Wortes mehr als bloß passives Verhalten oder bloßen Ungehorsam gegenüber behördlichen Anordnungen voraus. vielmehr verlangt der Begriff eine gewisse zweckgerichtete Tätigkeit, vgl. BGHSt 23, 380 (383) . MeyerGoßner , StPO , 53. Aufl. § 112Rdn. 18 m.w. Nachweisen. d.A. - als obitev dictum - OLG Köln stV 2004,121.. Allein ein bloßes Verbleiben am Wohnort kann daher grundsätzlich nicht einem Sichentziehen gleichgesetzt werden, zumal ein Beschuldigter nicht verpflichtet ist, seine Strafverfolgung zu erleichtern. Die Anordnung der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO dient zudem nicht dazu, den etwaigen Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO wegen unentschuldigten Ausbleibens in der Hauptverhandlung vorwegzunehmen.

18

Nach allem war die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung des Haftbefehls als unbegründet zu verwerfen.

19

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO.