Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 14.08.2015, Az.: 15 UF 44/15

Gemeinsame elterliche Sorge als Leitbild gegenüber der Alleinsorge im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
14.08.2015
Aktenzeichen
15 UF 44/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 25577
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2015:0814.15UF44.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Peine - 08.01.2015 - AZ: 10 F 398/14

Fundstelle

  • NZFam 2015, 980

Amtlicher Leitsatz

Auch nach Erlass des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern von 16. April 2013 besteht bei bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge kein Leitbild dahin, dass deren Fortbestand gegenüber der Alleinsorge im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorzugswürdig ist.

Entscheidungsmaßstab ist allein das Kindeswohl; es ist nicht erforderlich, dass das Kind bei bestehender schwerwiegender und nachhaltiger Störung der Kommunikation der Eltern und nicht möglicher gemeinsamer Entscheidungsfindung erheblich belastet würde, wenn seine Eltern gezwungen würden, die elterliche Sorge gemeinsam auszuüben.

Tenor:

I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Peine - vom 8. Januar 2015 - 10 F 398/14 - wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

III. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern von J. H., geboren am ... 2000. Aus ihrer Ehe ist ebenfalls die am ... 1990 geborene F. H. hervorgegangen. Die Kindeseltern trennten sich im Jahr 2007. Ihre Ehe ist seit dem 21.01.2009 rechtskräftig geschieden. J. lebte seitdem bei der Kindesmutter. Lediglich in einem kurzen Zeitraum im Jahr 2014 hielt sie sich beim Kindesvater auf.

Aufgrund von Drogen- und Alkoholproblemen hielt sich J. im Sommer/Herbst 2014 für ca. 11 Wochen in psychiatrischen Krankenhäusern auf. Anschließend schaffte sie es, sich in ihre bisherige Klasse wieder zu integrieren und konnte ihre schulischen Leistungen verbessern.

Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin beantragt, ihr die alleinige elterliche Sorge zu übertragen. Sie begründet dies mit der fehlenden Kommunikation mit dem Kindesvater, seiner mangelnden Absprachefähigkeit und der akut schwierigen Phase für J.

Der Kindesvater tritt dem entgegen. Es habe in der Vergangenheit keine Schwierigkeiten mit Unterschriften seinerseits gegeben, wobei die Kindesmutter sämtliche Entscheidungen allein getroffen und ihn lediglich hinterher informiert habe. Das Amtsgericht hat den Bericht des Verfahrensbeistands eingeholt, J. und die Kindeseltern persönlich angehört.

In dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht der Antragstellerin die alleinige elterliche Sorge übertragen. Mit seiner Beschwerde möchte der Antragsgegner den Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge erreichen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

Das Amtsgericht hat die gemeinsame elterliche Sorge zu Recht aufgehoben und der Kindesmutter übertragen. Nach § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB ist einem Elternteil die elterliche Sorge zu übertragen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

Damit ist eine doppelte Kindeswohlprüfung erforderlich: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht und im zweiten Schritt, ob die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil ebenfalls dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob dem Gesetz ein Leitbild gemeinsamer elterlicher Sorge zu entnehmen ist (OLG Celle [10. Senat] FamRZ 2014, 857, 857 f.; NZFam 2014, 738, 739 ; OLG Stuttgart [16. Senat] FamRZ 2014, 1715, 1715 f.) oder ob sich aus dem Gesetz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis herleiten lässt (BVerfG FamRZ 2007, 1876 Rn. 13 f.; BGH FamRZ 2008, 592; 2005, 1167; 1999, 1646, 1647; OLG Stuttgart [11. Senat] FamRZ 2015, 674; Staudinger/Coester, BGB, Neubearbeitung 2009, § 1671 Rn. 110-118; Hennemann in: Münchner Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 1671 Rn. 11; Veit in: Bamberger/Roth, Beck'scher Online Kommentar BGB, Edition 35, Stand: 01.05.2015, § 1671 Rn. 6 m. w. N.).

Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Hinsichtlich des hier einschlägigen § 1671 Abs. 1 BGB enthält die Gesetzesbegründung zum "Entwurf eines Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern" lediglich den Hinweis, dass dieser "sprachlich überarbeitet, inhaltlich aber unverändert" ist (BT-Drucksache 17/11048, S. 19). Bei der Neufassung von § 1671 BGB im Rahmen des Kindschaftsrechtsreformgesetzes im Jahr 1998 führte die Gesetzesbegründung aus, es dürfe nicht der Schluss gezogen werden, "daß der gemeinsamen Sorge künftig ein Vorrang vor der Alleinsorge eines Elternteils eingeräumt werden soll. Es soll auch keine gesetzliche Vermutung bestehen, wonach die gemeinsame Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei." (BT-Drucksache 13/4899, S. 63, 99). Bei Zusammenschau der Gesetzesbegründungen ist davon auszugehen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin kein Vorrang der gemeinsamen elterlichen Sorge bestehen soll.

Die von der Gegenauffassung herangezogenen Ausführungen in der Gesetzesbegründung befassen sich dagegen mit der Neufassung von §§ 1626a BGB, der bei Kindern, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind, die Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge vorsieht. Die Ausführungen zum "Leitbild" (BT-Drucksache 17/11048, S. 17) einschließlich der dort zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 127, 132 [BVerfG 21.07.2010 - 1 BvR 420/09]) beziehen sich daher ersichtlich lediglich auf die elterliche Sorge für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Sie zielt auf eine verfahrensrechtlich einfache (vgl. § 155a FamFG) erstmalige Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge und erleichtert die Gleichstellung von Kindern, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind, mit den ehelichen Kindern.

Insbesondere der Hinweis darauf, dass die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern und ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen voraussetzt (BT-Drucksache 17/11048, S. 17), bestätigt, dass der Gesetzgeber in Anbetracht dieser zu § 1671 Abs. 1 BGB ergangenen, gefestigten verfassungsgerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerfG FamRZ 2004, 354, 355; 2004, 1015, 1016; BGH FamRZ 2008, 592 Rn. 11) keine Änderungen bei Entscheidungen nach § 1671 Abs. 1 BGB beabsichtigte.

Prüfungsmaßstab ist vielmehr allein, welche Regelung aus Gründen des Kindeswohls zu treffen ist. Mindestvoraussetzung für den Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge ist neben den eben genannten Kriterien die objektive Kommunikationsfähigkeit und subjektive Konsensbereitschaft der Kindeseltern (BGH FamRZ 2008, 592 Rn. 12 ff.). Das von der erstgenannten Auffassung nunmehr zusätzlich geforderte Merkmal, dass das Kind bei bestehender schwerwiegender und nachhaltiger Störung der Kommunikation der Eltern und nicht möglicher gemeinsamer Entscheidungsfindung erheblich belastet würde, wenn seine Eltern gezwungen würden, die elterliche Sorge gemeinsam auszuüben (OLG Celle [10. Senat] NZFam 2014, 738, 729), ist abzulehnen.

Den Kindeseltern fehlt es vorliegend an der notwendigen Fähigkeit, miteinander unvoreingenommen und bezogen auf die F. betreffenden Fragen miteinander zu kommunizieren und im gegenseitigen Austausch der Argumente eine einvernehmliche Lösung zu finden. Zwischen den Kindeseltern besteht insoweit Einigkeit, als beide gegenüber dem Verfahrensbeistand angegeben haben, dass Telefonate zwischen ihnen schnell eskalieren. Das Streitpotenzial zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner ist damit als sehr hoch anzusehen.

Zwar kann und darf die einseitige Ablehnung der Kommunikation durch den betreuenden Elternteil allein nicht zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge führen (Staudinger/Coester, § 1671 Rn. 122 m. w. N.). Zu bedenken ist allerdings auch, dass die Verpflichtung zur Konsensfindung tatsächlich nicht bestehende Verständigungsmöglichkeiten nicht ersetzen kann und sie sich in der Realität nicht verordnen lässt. Der aufgezwungene Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge könnte als Sanktion des die Kommunikation verweigernden Elternteils erscheinen, was angesichts der verfassungsrechtlichen Wertung, dass die Elterninteressen hinter den Kindesinteressen zurückzustehen haben, auszuschließen ist (BGH FamRZ 2008, 592 Rn. 14 f.).

Hier lehnt die Kindesmutter zwar (inzwischen) die Kommunikation mit dem Kindesvater ab, doch liegt dem die beiderseitig eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit zugrunde. Dies ist als augenblicklicher Status festzustellen, wobei angesichts der über fünf Jahre zurückliegenden Ehescheidung nicht zu erwarten ist, dass sich dieser Zustand schnell überwinden lässt.

Auch wenn - wie oben ausgeführt - eine erhebliche Belastung von J. keine Voraussetzung für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist, es vielmehr auf die Gesamtbetrachtung aller Facetten des Kindeswohls ankommt, ist von Bedeutung, dass J. unter diesen Streitigkeiten ihrer Eltern gelitten hat und bei einem Wiederaufflammen weiterhin leiden würde. Unerheblich ist dabei, aufgrund welcher Umstände es zu einem Drogen- und Alkoholmissbrauch bei J. gekommen ist und aufgrund welcher Umstände eine stationäre Behandlung erforderlich wurde.

Insoweit ist eine ausschließlich an der Zukunft von J. orientierte Entscheidung zu treffen. J. hat in diesem Zusammenhang angegeben, dass sie ihren Vater in Konfliktsituationen, in denen er immer sehr laut geschrien habe und sie verbal fertig gemacht habe, als körperlich bedrohlich empfunden habe und sie eingeschüchtert gewesen sei, auch wenn er sie nicht geschlagen habe.

Weiter hat sie gegenüber dem Verfahrensbeistand und dem Amtsgericht angegeben, dass sie ihren Vater im Moment nicht sehen wolle. Ihr sei es am wichtigsten, zur Ruhe zu kommen und sich nicht wieder so schlecht zu fühlen wie vor der stationären Therapie. Ihr war es auch wichtig, dass ihr Vater nichts über sie und ihre Therapie erfahren soll. Er mache nur Stress. Ihre Mutter und ihr Vater würden sich jedes Mal streiten, wenn sie miteinander zu tun hätten. Es werde dann immer schnell laut und sie würden sich anschreien. Sie könne sich nicht erinnern, dass es jemals anders war. Sie wünsche sich einfach Ruhe und wolle nicht mehr, dass ihre Eltern sich deswegen anschreien würden. Sie möchte, dass ihre Mutter die Entscheidungen allein treffen kann.

J. hat damit ihren Willen deutlich und unmissverständlich geäußert. Der Kindeswille ist der verbale Ausdruck für die relativ stärkste Personenbindung und zum anderen ein Akt der Selbstbestimmung, der mit zunehmenden Alter des Kindes in den Vordergrund tritt und im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte des Kindes verfassungsrechtliches Gewicht hat (BVerfG FamRZ 2009, 1389; 2008, 1737, 1738; BGH FamRZ 2010, 1060, 1063).

Angesichts des Alters von J. von inzwischen 15 Jahren ist der Wille für die Entscheidung von erheblicher Bedeutung. Sie hat ihre Entscheidung auch insoweit nachvollziehbar damit begründet, dass sie sich davon eine persönliche Entlastung erwartet, indem sie davon ausgeht, dass ihre Eltern dann keinen Anlass mehr zu Streitigkeiten haben. Der Wille von J. steht damit in Übereinstimmung mit den weiteren Erkenntnissen und auch den von den Eltern eingeräumten Kommunikationsschwierigkeiten, die der künftigen Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen.

Bestärkt wird der Senat in seiner Entscheidung dadurch, dass die Anfang 2015 bestätigte positive schulische Entwicklung jedenfalls teilweise auf die von J. herbeigeführte Distanz zu ihrem Vater zurückzuführen sein dürfte. Dass es zum Ende des letzten Schulhalbjahres im Juli 2015 zu Grenzüberschreitungen gekommen ist, ist jedoch nicht darauf zurückzuführen. Es zeigt vielmehr, dass die Überwindung der Schwierigkeiten aus dem Sommer und Herbst 2014 für J. nicht einfach ist.

Die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Kindesmutter steht auch nicht entgegen, dass es in der Vergangenheit zu keinen Schwierigkeiten bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge gekommen ist. Dass letztlich faktisch die Kindesmutter die elterliche Sorge allein ausgeübt hat, ergibt sich gleichfalls aus den Angaben des Kindesvaters, wonach diese alleine entschieden und ihn anschließend informiert habe.

Einer erneuten persönlichen Anhörung der Beteiligten bedurfte es nicht, weil diese vom Amtsgericht persönlich gehört wurden, dies von den Beteiligten nicht angetragen wurde und keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten wären (§ 68 Abs. 3 S. 2 FamFG).

Von der Anhörung von J. hat der Senat gemäß § 159 Abs. 3 Satz 1 FamFG abgesehen, weil dafür schwerwiegende Gründe vorliegen. Damit entspricht der Senat dem Wunsch von J., aus den Streitigkeiten ihrer Eltern, die letztlich in diesem Verfahren gipfelten, herausgehalten zu werden. Ihr ist es zu wünschen, dass nunmehr die von ihr ersehnte Ruhe eingekehrt. Aus Sicht des Senats ist dies für ihre weitere positive Entwicklung von entscheidender Bedeutung.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen §§ 84 FamFG, 45 Abs. 1 Nr. 1, 40 Abs. 1 FamGKG.