Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 20.05.2003, Az.: Ws 105/03
Zuständigkeit für die Entziehung der Fahrerlaubnis; Voraussetzungen für die erstmalige oder erneute vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a Strafprozessordnung (StPO) durch den zweitinstanzlichen Tatrichter; Entziehung der Fahrerlaubnis in Ausnahmefällen; Auftreten von neuen Tatsachen und Beweismitteln als Ausnahmefall; Grobe Fehler der vorinstanzlichen Entscheidung als weiterer Ausnahmefall
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 20.05.2003
- Aktenzeichen
- Ws 105/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 14343
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2003:0520.WS105.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 19.03.2003 - AZ: 35 Ns 111 Js 37482/02
Rechtsgrundlagen
- § 69 StGB
- § 69 Abs. 2 StGB
- § 111a StPO
- § 321 StPO
- § 467 StPO
Tenor:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 19. März 2003 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Durch Urteil vom 16.12.2002 hat das Amtsgericht Goslar den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Es hat festgestellt, der Angeklagte habe am Steuer seines VW Sharan am 24.06.2002 bei Vienenburg dem Zeugen Z. die Vorfahrt genommen, diesen anschließend durch starkes Bremsen gezwungen, seinen Pkw zum Stillstand zu bringen und schließlich den Zeugen - nachdem er ihn beschimpft gehabt habe - dadurch absichtlich verletzt, dass er den mittlerweile aus seinem Pkw aussteigenden Zeugen mit der Fahrertür eingeklemmt habe.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte unter Hinweis auf ein Alibi Berufung mit dem Ziel seines Freispruchs eingelegt. Die Staatsanwaltschaft hat ebenfalls Berufung eingelegt; sie erstrebt die Verhängung einer Maßregel nach § 69 StGB. Daraufhin hat die Berufungskammer beim Landgericht in der Besetzung mit drei Berufsrichtern dem Angeklagten durch Beschluss vom 19.03.2003 die Fahrerlaubnis vorläufig gemäß § 111a StPO entzogen. Der dagegen eingelegten Beschwerde des Angeklagten hat es nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt Verwerfung der Beschwerde.
II.
Das Rechtsmittel ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Es hat in erster Linie unter einem formellen Aspekt Erfolg, hätte aber auch aus sachlich-rechtlichen Gründen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen müssen.
1.
Der Beschluss vom 19.03.2003 ist schon deshalb aufzuheben, weil er (wie auch der Nichtabhilfebeschluss vom 28.04.2003) nicht von dem gesetzlichen Richter erlassen worden ist (vgl. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).
Der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist "im Verfahren über die Berufung gegen ein Urteil des Strafrichters" (vgl. § 76 Abs. 1 S. 1 GVG) ergangen. Die für solche Entscheidungen zuständige kleine Strafkammer ist mit dem Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt, wobei die Letztgenannten bei Beschlüssen außerhalb der Hauptverhandlung nicht mitwirken (§ 76 Abs. 1 S. 2 GVG). Danach hätte die Entscheidung hier - wenn überhaupt - nur vom Vorsitzenden allein getroffen werden können. Tatsächlich hat das Gericht mit drei Berufsrichtern in der Besetzung einer Beschwerdekammer entschieden (Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. , § 76 GVG Rn. 7 a. E. ), obwohl neben den wechselseitigen Berufungen keine (zusätzliche) Beschwerde vorliegt.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Fehler sich auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung ausgewirkt hat. Ob der allein zuständige Vorsitzende die Kammerentscheidung mitgetragen oder gegen sie gestimmt hat, ist nämlich nicht nur nicht bekannt, sondern darf wegen des Beratungsgeheimnisses auch gar nicht eruiert werden.
2.
Eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens aber auch sachlich zu beanstanden.
a.
Die Voraussetzungen, unter denen der zweitinstanzliche Tatrichter erstmals oder erneut die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO anordnen kann, richten sich danach,
- ob der Amtsrichter im Urteil eine Maßregel nach § 69 StGB getroffen und lediglich die "begleitende" vorläufige Entziehung unterlassen hat (vgl. LR-Schäfer, StPO, 24. Aufl. , § 111 a Rn. 16; KK-Nack, StPO, 4. Aufl. , § 111 a Rn. 8), oder
- ob er bereits von der Grundentscheidung, nämlich von der Maßregel nach § 69 StGB abgesehen hat.
Vorliegend ist der letztgenannte Fall gegeben. In einer solchen Situation darf das Landgericht als Beschwerdegericht oder - wie hier - nach Vorlage der Akten gemäß § 321 StPO als Berufungsgericht nur in zwei Ausnahmefällen seinerseits die Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO vorläufig entziehen.
aa.
Die erste und wichtigste Ausnahme liegt vor, wenn der Berufungskammer neue Tatsachen und Beweismittel bekannt geworden sind, aus denen sich nunmehr die Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen und die hohe Wahrscheinlichkeit einer späteren endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis ergibt. Bis zum Berufungsurteil darf die Kammer den erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt grundsätzlich nicht anders als der frühere Richter würdigen, also nicht etwa im Gegensatz zu dem angefochtenen Urteil ausschließlich nach Aktenlage die Ungeeignetheit im o. g. Sinne bejahen (s. dazu BVerfG, NJW 1995, 124 ff im Einklang mit der h. M in Lit. u. Rspr: OLG Stuttgart, Justiz 2001, 421 f; OLG Hamm, BA 38, 124 f (2001); OLG Düsseldorf, DAR 1971, 249; KK-Nack, a. a. O. , § 111 a Rn. 8; Meyer-Goßner, a. a. O. , § 111 a Rn. 13 und 19; LR-Schäfer, a. a. O. , § 111 a Rn. 19).
Diese Auffassung stützt sich zu Recht im wesentlichen auf die (nur durch nova zu widerlegende) Vermutung der besseren Erkenntnis im Urteilsverfahren, welches die bei der Frage der Ungeeignetheit i. S. d. § 69 StGB ausschlaggebende Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten umfassend ermöglicht. Dieser Gesichtspunkt der größeren Sachnähe der aufgrund mündlicher Verhandlung ergangenen Entscheidung ist auch in anderem Zusammenhang anerkannt, namentlich bei der Beschwerde gegen die Aufhebung eines Haftbefehls nach Freispruch und bei der Frage des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung wegen erneuter Straffälligkeit, wenn der neue Tatrichter wiederum Bewährung bewilligt hat.
Dass die Strafkammer bei Erlass des angefochtenen Beschlusses vom 19.03.2003 ohne Feststellung neuer Tatsachen nur nach Aktenlage entschieden hat, ist nach dem Akteninhalt offenkundig.
bb.
Die Voraussetzungen der zweiten Ausnahme sind erfüllt, wenn die erstinstanzliche Entscheidung so grobe und offensichtliche Fehler aufweist, dass das Absehen von der (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis eindeutig falsch war (vgl. OLG Koblenz, VRS 73, 290 ff und VRS 55, 45; OLG Hamm, Beschl. v. 10.08.1983 - 2 Ws 244/83).
Ein so gravierender Fehler kann dem Amtsgericht allein anhand der Aktenlage nicht nachgewiesen werden. Da kein Regelfall nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, ist eine umfassende Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten erforderlich (Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl. , § 69 Rn. 9 c); dass das Amtsgericht diese ganz unterlassen oder falsch vorgenommen habe, ist jedenfalls nicht offensichtlich. Immerhin hat auch die Staatsanwaltschaft bei Erhebung der Anklage die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht für naheliegend gehalten und den § 69 StGB in der Anklageschrift nicht erwähnt. Es ist auch anerkannt, dass ein einmaliges situationsbedingtes Fehlverhalten gewöhnlich nicht die Annahme der Ungeeignetheit i. S. d. § 69 StGB rechtfertigt ( BGH, NStZ 1997, 494, 495; OLG Düsseldorf, OLGSt. BtmG § 31 Nr. 3); in diesem Zusammenhang ist bisher allein eine dem Angeklagten günstige, nämlich diejenige Feststellung getroffen worden, dass er in verkehrsrechtlicher Hinsicht noch nicht aufgefallen ist; ohne ergänzende Ermittlungen ist hier eine abschließende Beurteilung nicht möglich.
Die Nichterörterung der §§ 69 StGB, 111a StPO durch das Amtsgericht muss auch nicht bedeuten, dass die Vorschriften einfach übersehen worden sind (s. a. OLG Karlsruhe, MDR 1981, 160), weil - wie schon gesagt - kein Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegt, in welchem ein Abweichen von der Regel besonders begründet werden müsste.
b.
Dem Berufungsgericht ist es nach Durchführung der Hauptverhandlung unbenommen, aufgrund eigener Sachverhaltsfeststellungen, insbesondere aufgrund seines persönlichen Eindrucks vom Angeklagten, nicht nur zur Anwendung des § 69 StGB zu kommen, sondern auch erneut einen Beschluss nach § 111 a StPO zu erlassen; Sinn der Berufung ist die Neuaufrollung des gesamten Prozessstoffes mit allen prozessualen Möglichkeiten (vgl. LR-Schäfer, a. a. O. , § 111 a Rn. 18). Auch die neuere restriktive Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes zu den Voraussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis abseits der Regelfälle des § 69 Abs. 2 StGB dürfte hier nicht grundsätzlich entgegenstehen (s. BGH, StV 2003, 69, 70). Das Gleiche gilt für den zeitlichen Abstand von etwa einem Jahr zwischen der Tat (24.06.2002) und der am 02.07.2003 zu erwartenden Entscheidung des Berufungsgerichts (vgl. dazu den Beschl. d. Senats vom 02.04.2003 - Ws 63/03).
III.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf analoger Anwendung des § 467 StPO.