Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 09.09.2002, Az.: 4 B 147/02
Bedarf; Behinderung; Eingliederungshilfe; einstweilige Anordnung; heilpädagogische Maßnahme; Integrationshelfer; Nachranggrundsatz; pädagogische Fachkraft; Schule
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 09.09.2002
- Aktenzeichen
- 4 B 147/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43635
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 39 Abs 1 BSHG
- § 40 Abs 1 BSHG
- § 123 VwGO
- § 2 Abs 1 SGB 9
- § 12 BSHG§47V
Tenor:
Der Antragsgegner wird durch einstweilige Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Dauer von sechs Monaten Eingliederungshilfe zu leisten durch Übernahme der Bezahlung einer pädagogischen Fachkraft als Integrationshilfe während des Schulbesuchs für zehn Stunden wöchentlich.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antragsgegner ist durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller die im Tenor bezeichnete Eingliederungshilfe zu gewähren.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Hilfesuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO iVm § 920 Abs. 2 ZPO).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.
Der Antragsteller, der vom Versorgungsamt I. mit einem Grad der Behinderung von 80 eingestuft worden ist und für den die Merkzeichen G, B, H festgestellt worden sind, gehört zum Personenkreis der wesentlich Behinderten im Sinne der genannten Vorschrift. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich zweifelsfrei u.a. aus der ärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Antragsgegners an sein Sozialamt vom 28. Mai 2002. Das Versorgungsamt I. hat seine Entscheidung mit einer bei dem Antragsteller vorliegenden Entwicklungsstörung begründet. Nach den ausgewerteten ärztlichen Berichten weist er in seinem Verhalten autistische Auffälligkeiten auf und es besteht wenigstens der Verdacht auf das Vorliegen eines sog. Asperger-Syndroms.
Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehört gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, wobei nach § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung diese Hilfe auch heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher umfasst, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung geht die Kammer davon aus, dass der Antragsteller dringend darauf angewiesen ist, während seines Schulbesuchs die ihm hier zugesprochene Hilfe zu erhalten. Maßgeblich stützt die Kammer sich dabei auf die Stellungnahme des für das Gesundheitsamt des Antragsgegners tätigen Arztes Prof. Dr. J., des Leiters der Abteilung Kinder-, Jugend- und Sozialmedizin und des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes, vom 6. Mai 2002, worin es heißt: „Im Hinblick auf die Kontaktstörungen, die in diesem Zusammenhang noch nicht definitiv als ‚Asperger-Syndrom‘ bezeichnet werden sollten, sondern eher als ‚autistische Züge‘, ist die Implantierung einer zusätzlichen Integrationshilfe von fachlicher Qualifizierung behinderungsgerecht und erforderlich. ... Die fachliche Qualifizierung könnte danach im Bereich Sozialpädagogik liegen und nach bisheriger Anschauung in einem Umfang von etwa zwei Stunden täglich angemessen sein. Ein flexibler Einsatz dieser dann insgesamt zehn Wochenstunden sollte gewährleistet werden, um verschiedene Integrationsbedarfe über den Beschulungsverlauf zu garantieren. Eine möglichst rasche Überprüfung dieser Maßnahme nach ca. einem halben Jahr macht in Anbetracht der schwierigen Wechselsituation Sinn.“
Diese Stellungnahme ist zwar seinerzeit im Zusammenhang mit einer ins Auge gefassten Beschulung des Antragstellers in der Sprachheilklasse der K. -Schule in L., einer Sonderschule für Lernhilfe, abgegeben worden, während der Antragsteller inzwischen in die M. -Schule N. eingeschult worden ist, eine private Grundschule, die von dem eingetragenen Verein O. P. getragen wird. Diese Beschulung sieht die Bezirksregierung Q. gemäß ihrer Verfügung vom 29. August 2002 aber auch als geeignet an, den Antragsteller entsprechend seinem festgestellten individuellen Bedarf (nach einem Beratungsgutachten vom 25. April 2002 bedarf er sonderpädagogischer Förderung) zu fördern.
Da nicht davon auszugehen ist, dass der Bedarf der individuellen Unterstützung des Antragstellers an einer Grundschule geringer ist als an einer Sonderschule, ist die in der Stellungnahme von Prof. Dr. J. vom 6. Mai 2002 beschriebene Integrationshilfe auch im Rahmen der jetzt für den Antragsteller gewählten Beschulung als erforderlich anzusehen.
Dem Antragsgegner ist allerdings grundsätzlich darin zuzustimmen, dass es Aufgabe der Schulbehörde ist, die Beschulung eines behinderten Kindes sicherzustellen, bzw. zu prüfen, ob sie an einer Privatschule sichergestellt ist. Die Kammer vermag nach Aktenlage ebenfalls nicht nachzuvollziehen, welche Erwägungen innerhalb der Bezirksregierung Q. dazu geführt haben, den Beschulungsbedarf des Antragstellers durch den Unterricht in der M. -Schule als gedeckt anzusehen. Denn die M. -Schule äußert in ihren an das Gericht gerichteten Stellungnahmen vom 6. und 22. August 2002, dass eine zusätzliche Betreuung des Antragstellers notwendig ist. In Bezug auf den Eingliederungshilfe Suchenden ist es indessen nicht Aufgabe der Sozialbehörde, die Entscheidung der Schulbehörde zu hinterfragen. Ergibt sich vielmehr, dass eine angemessene Schulbildung nicht sichergestellt ist, sondern schulbegleitende Hilfe erforderlich ist, ist diese Hilfe mit Mitteln der Sozialhilfe sicherzustellen. Dem steht auch nicht der in der Sozialhilfe geltende Nachranggrundsatz entgegen. Denn hier besteht offensichtlich nicht die Möglichkeit, dass der Antragsteller in einer staatlichen Schule beschult werden kann und von dort die für ihn erforderliche individuelle pädagogische Unterstützung erhält. Auch bei dem Besuch der Sprachheilklasse wäre derselbe Bedarf wie jetzt durch schulische Leistungen nicht gedeckt worden (vgl. auch VG Freiburg, NVwZ-RR 2002, 361 [VG Freiburg 30.11.2000 - 5 K 1695/99]).
Schließlich ist die getroffene Regelung eilbedürftig. Der Antragsteller besucht seit kurzem die Schule und ist gerade zu Beginn des Schulbesuchs besonders auf zusätzliche Unterstützung angewiesen.