Abschnitt 1 DivRL-RdErl - Grundsätze
Bibliographie
- Titel
- Richtlinien für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Jugendstrafsachen bei jugendtypischem Fehlverhalten (Diversionsrichtlinien)
- Redaktionelle Abkürzung
- DivRL-RdErl,NI
- Normtyp
- Verwaltungsvorschrift
- Normgeber
- Niedersachsen
- Gliederungs-Nr.
- 33310
1.1 Anlass und Ziele der Richtlinien
Wenn Jugendliche und Heranwachsende leichte bis mittlere Verfehlungen begehen, handelt es sich häufig um entwicklungsbedingtes und deswegen einmaliges oder episodenhaftes Verhalten, welches auch ohne Verurteilung nicht wiederholt wird oder sich verfestigt (jugendtypisches Fehlverhalten). In den §§ 45 und 47 JGG ist eine Reihe von Möglichkeiten vorgesehen, von der Verfolgung Jugendlicher und Heranwachsender abzusehen und Strafverfahren einzustellen (Diversion). Andererseits können kleine und mittlere Verfehlungen auch Ausdruck eines erzieherischen Defizits bis hin zum Beginn der Entwicklung einer kriminellen Karriere sein. Aufgabe der Polizei und Staatsanwaltschaften ist es, in allen Fällen zeitnah, im Einzelfall erzieherisch angemessen, verhältnismäßig und nötigenfalls abgestuft auf Verfehlungen zu reagieren.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine förmliche jugendgerichtliche Verurteilung in Fällen jugendtypischen Fehlverhaltens erzieherisch in der Regel nicht erforderlich. Sie kann auch im Hinblick auf die Behandlung vergleichbarer Straftaten anderer junger oder erwachsener Personen unverhältnismäßig sein. Eine jugendgerichtliche Verurteilung kann sogar aufgrund von Stigmatisierungseffekten erzieherisch verfehlt sein.
Das Diversionsverfahren bietet demgegenüber die Möglichkeit, sehr kurzfristig und damit erzieherisch besonders wirksam auf Verfehlungen zu reagieren. Im Diversionsverfahren können geeignete erzieherische Maßnahmen ergriffen werden, die weiteren Verfehlungen entgegenwirken.
Diese Richtlinien sollen den Staatsanwaltschaften Hinweise und Anregungen für eine vermehrte Nutzung der in den §§ 45 und 47 JGG eröffneten informellen Erledigungsmöglichkeiten geben, die polizeiliche Ermittlungstätigkeit in geeigneten Fällen auf dieses Ziel ausrichten und für eine frühzeitige Einbindung der Jugendhilfe im Strafverfahren gemäß § 38 JGG i. V. m. § 52 SGB VIII in diesen Fällen sorgen. Gemäß § 70 Abs. 2 JGG - bei Heranwachsenden i. V. m. § 109 Abs. 1 Satz 1 JGG - ist die Jugendgerichtshilfe spätestens zum Zeitpunkt der Ladung der jugendlichen oder heranwachsenden Person zu ihrer ersten Beschuldigtenvernehmung zu unterrichten. Im Fall einer ersten Beschuldigtenvernehmung ohne vorherige Ladung muss die Unterrichtung spätestens unverzüglich nach der Vernehmung erfolgen.
Die Zusammenarbeit und Vernetzung der im Jugendstrafverfahren beteiligten Behörden und Institutionen soll gefördert werden. Durch die Richtlinien soll zugleich - soweit dies im Einzelfall erzieherisch angemessen ist - eine Gleichbehandlung gleich gelagerter Fälle erreicht werden.
1.2 Allgemeines
1.2.1
Entscheidungskompetenz
Über die Durchführung der Diversion entscheiden die Staatsanwaltschaften und Gerichte. Sie haben dabei mit Blick auf die erzieherischen Erfordernisse im Einzelfall einen weiten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum. Die Polizei und die Jugendhilfe im Strafverfahren stellen deshalb eine Diversion nicht konkret in Aussicht, sollen aber in geeigneten Fällen jederzeit Anregungen zur Diversion geben, erforderlichenfalls verbunden mit Anregungen für bestimmte erzieherische Maßnahmen. Die Polizei kann mit der Durchführung des erzieherischen Gesprächs, die Jugendhilfe durch Einleitung geeigneter Maßnahmen die Voraussetzung für eine mögliche Diversion schaffen. In Zweifelsfällen kann aus erzieherischen Gründen eine vorherige Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht geboten erscheinen.
1.2.2
Vorrang der Unschuldsvermutung
Liegt ein hinreichender Tatverdacht nicht vor, ist eine Diversion nach § 45 JGG nicht zulässig. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO haben stets Vorrang vor Diversionsentscheidungen.
Liegen die Voraussetzungen des § 3 JGG nicht vor, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Anwendung des § 45 JGG mangels strafrechtlicher Verantwortlichkeit ein.
Liegen die Voraussetzungen eines Freispruchs vor, stimmt die Staatsanwaltschaft einem Vorgehen nach § 47 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 JGG nicht zu.
1.2.3
Behandlung von Privatklagedelikten
Die Vorschrift des § 45 JGG verdrängt nicht die Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens bei Privatklagedelikten. Dies gilt auch bei Jugendlichen, sofern nicht Gründe der Erziehung oder ein berechtigtes Interesse der oder des Verletzten, das dem Erziehungszweck nicht entgegensteht, ein Einschreiten von Amts wegen erfordern (§ 80 Abs. 1 JGG). Liegen die Voraussetzungen der Verfolgung eines Privatklagedelikts nicht vor, so stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Anwendung des § 45 JGG mangels öffentlichen Interesses ein.
1.2.4
Abwägung gegenüber den §§ 153, 153a, 154 StPO und § 31a BtMG
Die Diversionsregelungen in den §§ 45 und 47 JGG stehen der Möglichkeit einer Einstellung des Strafverfahrens nach den §§ 153, 153a und 154 StPO sowie nach § 31a BtMG nicht entgegen. Staatsanwaltschaft und Gericht prüfen, ob bei Verfehlungen eine Einstellung bereits nach diesen Vorschriften möglich ist. Dabei berücksichtigen sie, dass eine solche Verfahrensweise mögliche Stigmatisierungseffekte durch die Eintragung der Verfahrenseinstellung im Erziehungsregister vermeidet. Sie berücksichtigen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung auch, dass bei Erwachsenen eine entsprechende Registrierung nicht erfolgt.
1.2.5
Keine Diversion bei ernsthaftem Bestreiten
Die Vorschriften der §§ 45 und 47 JGG werden nicht angewandt, wenn die beschuldigte Person die Tatbegehung substantiiert oder sonst ernsthaft bestreitet.
1.2.6
Verhältnismäßigkeit
Die mit dem Vorgehen nach § 45 oder § 47 JGG einhergehenden erzieherischen Maßnahmen dürfen nicht belastender wirken als ein Jugendgerichtsverfahren mit förmlicher Sanktion.
Die Nutzung des Diversionsverfahrens ist bei gleicher erzieherischer Eignung einem förmlichen jugendgerichtlichen Verfahren grundsätzlich vorzuziehen. Dies gilt auch, wenn sich nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand klären lässt, ob ein förmliches jugendgerichtliches Verfahren eine bessere erzieherische Einwirkung als das Diversionsverfahren gewährleistet.
1.2.7
Anwendung auf Heranwachsende
Die Vorschriften der §§ 45 und 47 JGG und diese Richtlinien finden auch auf Heranwachsende Anwendung, sofern nach § 105 Abs. 1 JGG Jugendstrafrecht angewandt wird. Die Entscheidung darüber obliegt den Staatsanwaltschaften und Gerichten. Die Polizei und die Jugendhilfe im Strafverfahren können unter Hinweis auf tatsächliche Umstände des Einzelfalles Einschätzungen zu den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG abgeben.
1.3 Anwendungsbereich
1.3.1
Sachlicher Anwendungsbereich
Bei den in Anlage 1 aufgeführten Straftaten kommt regelmäßig ein Vorgehen gemäß den §§ 45 und 47 JGG in Betracht. Der Katalog dient als Orientierungshilfe für die Verfahrensbeteiligten. Er hindert die Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht, auch in anderen Fällen entsprechend zu verfahren oder unter den gegebenen Voraussetzungen von anderen Reaktionsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Maßgebend für die Diversionsentscheidung sind hierbei die sich aus den Gesamtumständen ergebende mindere Schwere der Verfehlung sowie die bestehenden Anhaltspunkte für jugendtypisches Fehlverhalten, wie z. B. leichtsinniges, unbekümmertes, ziel- und planloses Handeln aus der Situation heraus, oft getragen von Geltungsbedürfnis oder Erlebnishunger, wie es bei Jugendlichen und Heranwachsenden häufig vorkommt. Bei Anwendung des § 45 JGG oder Zustimmung nach § 47 JGG sind in atypischen Fällen die Gründe für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft aktenkundig zu machen.
1.3.2
Persönlicher Anwendungsbereich
Diversion setzt in der Regel eine glaubhaft geständige Person voraus, die erstmals strafrechtlich in Erscheinung tritt.
Wie erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten sind in der Regel auch solche Beschuldigten zu behandeln, die ein Delikt begehen, das von einer früheren Tat entweder nach Art des geschützten Rechtsgutes so erheblich abweicht oder nach den Umständen der Tatbegehung jedenfalls nicht erheblich schwerwiegender erscheint als die Vortat oder bei dem die Vortat so lange zurückliegt, dass ein Zusammenhang der Taten, der der weiteren Legalbewährung abträglich sein könnte, nicht besteht.
Eine Diversion kann auch angezeigt sein bei Wiederholungstaten jugendtypischen Fehlverhaltens, sofern durch das Diversionsverfahren oder sonst eine ausreichende erzieherische Einwirkung sichergestellt wird, sodass keine weiteren Straftaten zu erwarten sind.
In Fällen erneuter Delinquenz (Absatz 2 oder 3) ist stets zu prüfen, ob die Verfehlung nicht Ausdruck eines erheblichen erzieherischen Defizits bis hin zum möglichen Beginn der Entwicklung einer kriminellen Karriere ist oder das Vorgehen nach § 45 oder 47 JGG von der beschuldigten Person als Nachgiebigkeit gegenüber der Verletzung von Straftatbeständen missverstanden werden kann. In diesen Fällen soll von der Diversion kein Gebrauch gemacht werden.
Eine Diversion soll nicht erfolgen, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu erwarten ist, dass sich die beschuldigte Person das Verfahren sowie etwaige erzieherische Maßnahmen nicht zur Warnung dienen lässt und künftig weitere Straftaten begehen wird.
Außer Kraft am 1. Januar 2027 durch Nummer 4 Satz 1 des Runderlasses vom 5. Oktober 2020 (Nds. MBl. S. 1188, Nds. Rpfl. Nr. 12/2020 S. 416)