Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 04.12.2013, Az.: 1 Ws 635/13; 1 Ws 636/13
Widerruf der Bewährung wegen einer in der Zeit zwischen ursprünglichem Ablauf und Verlängerung der Bewährungszeit begangenen Straftat
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 04.12.2013
- Aktenzeichen
- 1 Ws 635/13; 1 Ws 636/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2013, 57495
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2013:1204.1WS635.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Lingen - 30.07.2013
Rechtsgrundlage
- StGB § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Fundstelle
- StV 2015, 236
Amtlicher Leitsatz
1. Eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit schließt sich rückwirkend an das ursprüngliche Ende der Bewährungszeit an.
2. Eine nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und vor Erlass eines Verlängerungsbeschlusses begangene, in die zwischenzeitlich verlängerte Bewährungszeit fallende Straftat kann auch dann nicht zum Anlass für einen Widerruf der Bewährung genommen werden, wenn der Verurteilte aufgrund eines gerichtlichen Hinweises wegen einer innerhalb der ursprünglichen Bewährungszeit begangenen Straftat mit deren Verlängerung rechnen musste.
Tenor:
Auf die sofortigen Beschwerden des Verurteilten werden die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück bei dem Amtsgericht Lingen vom 30. Juli 2013,
durch die die mit Beschlüssen dieser Strafvollstreckungskammer vom 30. Juni 2009 bewilligten Aussetzungen der Vollstreckung der Reste der Freiheitsstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 5. Mai 2008 (236 Ls 931 Js 23886/06 (66/07)) und dem Strafbefehl des Amtsgerichts Osnabrück vom 4. April 2005 (200 Ds 217 Js 47039/04 (2273/04)) zur Bewährung widerrufen worden sind,
aufgehoben.
Die Anträge der Staatsanwaltschaft, die Strafaussetzungen zur Bewährung zu widerrufen, werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
Die sofortigen Beschwerden sind zulässig und haben auch in der Sache Erfolg.
Zwar hat die Strafvollstreckungskammer dem Verurteilten mit Blick auf die Straftaten vom 9., 19. und 20. September 2012, die durch das Amtsgericht Osnabrück am 18. Januar 2013 und das Amtsgericht Minden am 15. März 2013 abgeurteilt worden sind, zu Recht eine günstige Prognose nicht mehr attestiert. Gleichwohl liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzungen zur Bewährung gemäß §§ 56f Abs. 1 Nr. 1, 57 Abs. 5 StGB nicht vor, weil die Straftaten in bewährungsfreier Zeit begangen worden sind.
Die Bewährungszeiten hinsichtlich der vorliegenden Aussetzungen der Reststrafen endeten ursprünglich am 13. Juli 2012. Sie sind zwar durch rechtskräftige Beschlüsse vom 1. Oktober 2012 in zulässiger Weise infolge der Nachverurteilung durch Strafbefehl des Amtsgerichts Osnabrück vom 21. Juni 2013 (222 Cs 521 Js 41771/11 (588/12)) wegen einer innerhalb der Bewährungszeit begangenen Bedrohung in Tatmehrheit mit Beleidigung nach ursprünglichem Ablauf um ein Jahr auf vier Jahre verlängert worden. Auch schließt sich diese Verlängerung nach der herrschenden Auffassung, der auch der Senat folgt, rückwirkend an das ursprüngliche Ende der Bewährungszeit an (siehe etwa Senatsbeschluss vom 24. Juli 2009, 1 Ws 404/09; OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 127, 128 [OLG Hamm 20.10.2009 - 3 Ws 386/09] m.w.N.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2008, 221, 222; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 56f, Rn. 17c).
Dies führt aber dennoch nicht dazu, dass der Verurteilte im Sinne des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB bei Begehung der Straftaten vom 9., 19. und 20. September 2012 unter laufender Bewährung stand. Vielmehr gilt die Zeit zwischen dem 13. Juli 2012 und bis zur Verlängerung durch Beschlüsse vom 1. Oktober 2012 insoweit als bewährungsfreie Zeit.
Ein Widerruf wegen Straftaten, die in solch einen Zwischenzeitraum fallen, ist nach herrschender Meinung (KG Berlin, 2 Ws 176/09; OLG Frankfurt, 3 Ws 331/08; OLG Köln, 2 Ws 37/06; Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 41/07 - jeweils bei juris - sowie Fischer, StGB, 60. Aufl., § 56f, Rn. 3a und Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 56f, Rn. 11, jeweils m.w.N.) nicht möglich.
Soweit der Senat mit Beschluss vom 20. September 2007 (1 Ws 513/07 und 1 Ws 514/07) noch die gegenteilige Auffassung vertreten hat, die einen Widerruf zumindest dann für zulässig hält, wenn der Verurteilte zum Zeitpunkt seiner neuerlichen Verfehlung - wie hier - mit einer Verlängerung der Bewährungszeit rechnen musste (so etwa auch OLG Düsseldorf, 3 Ws 50/05; OLG Hamm, 3 Ws 386/09; OLG Rostock, 1 Ws 335/10 - bei juris), hält er hieran nicht fest (so bereits - dort allerdings nicht tragend - Senatsbeschlüsse vom 24. Juli 2009, 1 Ws 404/09, und 27. Februar 2012, 1 Ws 90/12).
Für die gegenteilige Auffassung mag zwar gerade die auch hier angenommene Rückwirkung einer nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit ergangenen Verlängerungsentscheidung sprechen. Denn von diesem Ausgangspunkt erscheint es auf den ersten Blick nur konsequent, Folge der Rückwirkung dann auch sein zu lassen, dass Verfehlungen in dem Zeitraum zwischen ursprünglichem Ende der Bewährungszeit und vor Verlängerung tatsächlich auch Anknüpfungspunkt für einen Widerruf sein können (so etwa OLG Hamm, 3 Ws 386/09). Allerdings ist auch nach dieser Auffassung ein Widerruf nur dann zulässig, wenn ein grundsätzlich schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten, Straftaten zwischen ursprünglichem Ablauf der Bewährungszeit und vor Verlängerung derselben seien nicht "in der Bewährungszeit" (§ 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) begangen und damit auch nicht als Bewährungsversagen zu qualifizieren, noch vor Begehung der neuen Straftaten durch Maßnahmen des aufsichtführenden Gerichts zerstört worden ist.
Solch eine Maßnahme wäre etwa die hier erfolgte Zusendung eines Anhörungsschreibens zur beabsichtigten Verlängerung der Bewährungszeit, wie es der Verurteilte jedenfalls vor dem 11. September 2012, dem Zeitpunkt des Akteneinsichtsgesuchs des von ihm beauftragten Verteidigers, und damit zumindest vor den Straftaten vom 19. und 20. September 2012 erhalten hat.
Dennoch folgt der Senat mit der herrschenden Meinung dieser Auffassung nicht.
Es erscheint bereits fraglich, ob etwa der Zugang eines Anhörungsschreibens zur Verlängerung wirklich ein schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten beseitigt, der dann zwar mit der Verlängerungsentscheidung als solcher rechnen muss, aber nicht ohne Weiteres auch mit deren - zumal umstrittener - Rückwirkung (so zutreffend KG Berlin, 2 Ws 176/09, Rn. 19 - bei juris), und sich deshalb nicht ohne Grund als "zwischenzeitlich bewährungsfrei" ansehen wird. Auch begegnet diese Auffassung rechtsstaatlichen Bedenken. Zwar wird nicht im unmittelbaren Sinne von Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz und § 1 StGB ein Sachverhalt erst nachträglich unter Strafe gestellt, der zuvor keinen Tatbestand erfüllt hat. Zum Nachteil des Verurteilten wird es aber in bedenklichem Ausmaß ermöglicht, durch die nachträgliche Verlängerungsentscheidung des Gerichts einen bereits in sich abgeschlossenen Lebenssachverhalt einer gänzlich geänderten Beurteilung zuzuführen, indem die Straftat erst nach ihrer Begehung als "in die Bewährungszeit" fallend und damit als Bewährungsversagen qualifiziert wird, obwohl sie es im Augenblick ihrer Begehung mangels Verlängerungsentscheidung noch nicht war. Auch sprechen rechtsstaatliche Erwägungen dagegen, an die - insbesondere zur Vermeidung überlanger Bewährungszeiten, also gerade zugunsten des Verurteilten angenommene - Rückwirkungsfiktion an anderer Stelle wiederum schwerwiegende negative Sanktionen zu knüpfen (so auch OLG Frankfurt, 3 Ws 331/08).
Nach dieser Auffassung führte letztlich allein eine - wenn auch zutreffende - Erwartung des Verurteilten, es werde trotz Ablaufs der Bewährungszeit zu einer Verlängerung kommen, bereits ohne jede Entscheidung des Gerichts zu einer faktischen Verlängerung, die dann Grundlage eines Widerrufs würde, wenn der Verurteilte - trotz Erwartung der Verlängerung - in dieser Zeit ein weiteres Mal straffällig wird.
Eine solche "faktische Bewährungszeit" widerspricht ferner dem gerade im Strafrecht nicht nur für den Betroffenen bestehenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Denn die Möglichkeit eines Widerrufs der Strafaussetzung wäre davon abhängig, ob eine Vertrauen zerstörende Maßnahme des Gerichts, wie etwa ein Anhörungsschreiben zur beabsichtigen Verlängerung oder gar der bloße Hinweis auf einen im Hinblick auf eine noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftat zunächst noch zurückgestellten Straferlass, den Verurteilten vor Begehung der neuerlichen Straftat - sowohl postalisch, als auch intellektuell - auch erreicht hat. Denn gerade die Frage, ob der Verurteilte auch tatsächlich in der Lage gewesen ist, dem Zugang eines solchen Schreibens ohne jeden persönlichen Kontakt zum Gericht und ggfs. zum Bewährungshelfer, dessen Leitung er faktisch nicht mehr untersteht, sowie ohne anwaltliche Unterstützung die gewünschte Bedeutung beizumessen, wird oftmals nicht eindeutig zu beantworten sein. Zudem bleibt zweifelhaft, ob ein etwaiges Vertrauen des Verurteilten im obigen Sinne bereits allein durch den - nachzuweisenden - Zugang eines solchen gerichtlichen Schreibens, also die bloße Möglichkeit der inhaltlichen Kenntnisnahme, zerstört sein soll, was äußerst bedenklich erschiene, oder nur dadurch, dass der Verurteilte das Schreiben auch wirklich liest.
Solche Unwägbarkeiten gilt es nach Auffassung des Senats zu vermeiden und dies gelingt im Ergebnis nur der herrschenden Auffassung, die jegliches Anknüpfen eines Bewährungswiderrufs an in die "bewährungsfreie" Zeit fallendes Fehlverhalten ablehnt und sich damit allein als rechtssicher und praktikabel erweist.
Die dadurch gerade im vorliegenden Fall eintretende Folge, dass demnach selbst einschlägige Straftaten bewährungsrechtlich sanktionslos bleiben können, obwohl gerade kein Straferlass erfolgt ist, muss zugunsten der größeren Rechtssicherheit hingenommen werden.
Damit sind die Widerrufsbeschlüsse aufzuheben und es verbleibt bei den Aussetzungen der Reststrafen zur Bewährung.
Die Kostenentscheidung entspricht § 467 StPO.