Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 02.02.2021, Az.: L 5 SV 1/21 B ER
Anspruch auf unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus; Knappheit der Impfstoffe gegen das Coronavirus; Erforderlichkeit einer Priorisierung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 02.02.2021
- Aktenzeichen
- L 5 SV 1/21 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 11232
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 21.01.2021 - AZ: S 10 SV 1/21 ER
Rechtsgrundlagen
- CoronaImpfV § 1 Abs. 1 S. 1
- CoronaImpfV § 2
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Fundstellen
- GesR 2021, 237-239
- NZS 2021, 192
- ZAP EN-Nr. 241/2021
Redaktioneller Leitsatz
Die bekannte Knappheit der Impfstoffe gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 ermöglicht eine Teilhabe nur im Rahmen der aktuell zur Verfügung stehenden Kapazitäten und erfordert daher in jedem Fall eine Priorisierung.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 21. Januar 2021 wird zurückgewiesen. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der 73-jährige Antragsteller begehrt eine unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2.
Der Antragsteller lebt zusammen mit seiner berufstätigen Ehefrau, einer Grundschullehrerin, und zwei Kindern im Jugendalter, die noch die Schule besuchen. Er leidet an einer chronischen Herzinsuffizienz mit massiver Einschränkung seiner kardialen Funktion bedingt durch eine komplexe koronare Herzkrankheit (vgl. wegen der Diagnosen im Einzelnen die Arztberichte auf Bl. 11 bis 37 der Gerichtsakte - GA -). Sein behandelnder Hausarzt, der Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin Dr. E., bescheinigte dem Antragsteller aufgrund der chronischen Erkrankung ein erheblich erhöhtes Risiko eines komplikativen COVID-Verlaufs; eine frühzeitige SARS-CoV-2-Impfung sei daher zwingend indiziert (Bescheinigung vom 2. Dezember 2020, Bl. 53 GA; ebenso unter Verweis auf ein sehr hohes Risiko für einen sehr schweren oder gar tödlichen Verlauf: Kardiologische Praxis F., G., vom 15. Januar 2021, Bl. 162 GA).
Nachdem dem Antragsteller über die zentrale Hotline für die Terminierung von Impfungen mitgeteilt worden war, dass eine Impfung in der ersten Gruppe, also vorrangig zu impfenden Personen mit höchster Priorität, für ihn ausgeschlossen sei (vgl. auch die per E-Mail an den Antragsteller vom 4. Januar 2021 erteilte Auskunft des Antragsgegners, Bl. 64 f. GA), stellte er am 30. Dezember 2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht (VG) Oldenburg. Das VG hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Januar 2021 an das nach seiner Auffassung sachlich zuständige Sozialgericht (SG) Oldenburg verwiesen.
Der Antragsteller ist der Auffassung, ihm stehe eine Aufnahme in die Gruppe, die mit höchster Priorität zu impfen ist, zu. Aufgrund seiner lebensbedrohlichen koronaren Herzerkrankung bestehe für ihn ein gleiches oder im Vergleich zu einer vitalen und gesunden 80-jährigen Person sogar ein höheres Risiko eines schweren Covid-Verlaufes mit potentiell schweren Gesundheitsschäden oder sogar dem Risiko, an der Krankheit zu sterben. Das Lebensalter sei zwar der einfachste Faktor zur Risikobewertung, aber nicht allein ausschlaggebend. Mittlerweile gehe auch die Ständige Impfkommission (STIKO) davon aus, dass es möglich sei, Einzelfallentscheidungen zu treffen. Der Antragsteller verweist insoweit darauf, dass Menschen mit Herzerkrankungen in der medizinwissenschaftlichen Diskussion als in besonderem Maß durch die Viruserkrankung gefährdet angesehen und zu den sog. Risikogruppen gezählt werden. Die Festlegung der Personengruppen in § 2 der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV), die mit höchster Priorität Anspruch auf eine Schutzimpfung haben, sei daher nicht nachvollziehbar, unvollständig und willkürlich; jedenfalls fehle es an einer Öffnungsklausel für Härtefälle. Er habe einen gleichwertigen Anspruch zu Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen. Er sei auf die Hilfe seiner Frau oder Kinder angewiesen, wenn massives Vorhofflimmern oder Kammerflimmern eine Intervention notwendig machten. Er könne sich daher in vergleichbarer Weise nicht isolieren. Die Festlegung der Impfreihenfolge hätte jedenfalls - so der Antragsteller unter Bezugnahme auf öffentliche Diskussionen - wegen der Tragweite nur per formellem Gesetz und nicht im Verordnungswege erfolgen dürfen.
Mit Beschluss vom 21. Januar 2021 hat das SG Oldenburg den Antrag auf Erlass einer einstwilligen Anordnung abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Das SG sei nach Verweisung des Rechtsstreits zuständig geworden. Zwar sei entgegen der Auffassung des VG wegen fehlender Zuweisung der Streitigkeit zu den Sozialgerichten nach Maßgabe des § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, allerdings sei das SG an den Verweisungsbeschluss nach Maßgabe des § 17a Abs. 2 Satz 3 Gerichtverfassungsgesetz (GVG) gebunden, weil die Verweisungsentscheidung weder willkürlich sei noch auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze beruhe. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zulässig. Der Antragsteller sei antragsbefugt, weil er geltend gemacht habe, durch die Ablehnung einer vorgezogenen Impfung in eigenen Rechten verletzt zu sein. Ein solcher Anspruch könne sich aus der CoronaImpfV oder unmittelbar aus einem verfassungsrechtlichen Teilhabeanspruch ergeben. Der Antrag richte sich auch gegen den richtigen Antragsgegner; das Land sei nach § 6 Abs. 1 Satz 2 und § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV zuständig für die Vergabe eines Impftermins im Rahmen der Priorisierungsentscheidung. Soweit sich der Antragsgegner mit seinem Begehren zunächst an das lokale Impfzentrum und danach an den Antragsgegner gewandt habe, liege auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis vor. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei jedoch unbegründet, da der Antragsteller weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht habe. Ein Anspruch auf Impfung nach § 1 Abs. 1 CoronaImpfV bestehe derzeit nicht. Der Antragsteller gehöre nicht zu der Gruppe von Personen mit höchster Priorität nach § 2 CoronaImpfV. Allein für diese Gruppe könne aktuell ein Anspruch auf die Schutzimpfung bestehen; eine Ausnahmeregelung, mit der in Einzelfällen von dieser Priorisierung abgewichen werden könne, enthalte die CoronaImpfV nicht. Soweit § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV vorsehe, dass bestimmte Anspruchsberechtigte der in Satz 1 aufgeführten Gruppen vorrangig berücksichtigt werden können, beziehe sich das auf Priorisierungen innerhalb der jeweiligen Gruppen. Der Antragsteller habe auch keinen Anspruch aus verfassungsrechtlichen Vorschriften. Ein solcher Anspruch könne weder auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit) noch auf den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gestützt werden, weil im vorliegenden Fall keine Verletzung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten vorliege. Unzweifelhaft liege keine Untätigkeit des Gesetzgebers oder der vollziehenden Gewalt im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung vor dem Corona-Virus vor. Vielmehr habe der Gesetzgeber sehr kurzfristig nach Zulassung eines Impfstoffes die CoronaImpfV erlassen und damit das im Rahmen der Verfügbarkeit eines Impfstoffes Mögliche getan, um einen Schutz der Bevölkerung durch Impfung zu gewährleisten. Bei der Schaffung der CoronaImpfV bewege sich der Verordnungsgeber zur Überzeugung des Gerichts innerhalb des weiten Gestaltungsspielraumes, der ihm bei dem Schutz der Verfassungsrechte eingeräumt sei. Soweit aktuell nicht genügend Impfstoff zur Verfügung stehe, seien Teilhabeansprüche nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel zu verwirklichen. Es sei erforderlich gewesen, eine Reihenfolge für die zu impfenden Personen festzulegen. Mit den erfolgten Priorisierungen und der Festlegung der Gruppe höchster Priorität habe der Gesetzgeber nachvollziehbar in besonderem Maße schutzwürdige Personen zuerst berücksichtigt. Gleichzeitig diene der Schutz dieses Personenkreises dem Schutz der Allgemeinheit, soweit die Funktionsfähigkeit der medizinischen Versorgungssysteme, insbesondere der Intensivpflege, gewährleistet werden solle. Die Entscheidung des Gesetzgebers sei möglicherweise nicht die zwingend einzig denkbare Entscheidung, bewege sich aber innerhalb seines Gestaltungsspielraumes. Vor diesem Hintergrund sei es auch, jedenfalls für Fälle wie den des Antragstellers, nicht zwingend, eine Öffnungsklausel für Einzelfallentscheidungen aufzunehmen, auch wenn die neuesten Empfehlungen der STIKO eine solche als möglich ansehen. Es sei bei Schaffung einer gruppenübergreifenden Klausel mit zahlreichen Nachteilen für den Ablauf der Impfung wegen der aufwändig zu treffenden Einzelfallentscheidung bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Impfstoffknappheit zu rechnen. Schließlich fehle es auch am Anordnungsgrund. Das Gericht verkenne nicht die Schwere der Erkrankungen des Antragstellers, jedoch sei es dem Antragsteller zuzumuten, sich zur Vermeidung einer Infektion in besonderem Maße an die Schutzmaßnahmen zu halten, sich ggf. nur noch in häuslicher Umgebung aufzuhalten und selbst dort eine besondere Vorsicht im Umgang mit anderen Haushaltsmitgliedern walten zu lassen. Dass ihm dies aus objektiven Gründen nicht möglich sein sollte, habe der Antragsteller nicht vorgetragen. Zwar verkenne das Gericht nicht die damit einhergehenden Einschränkungen. Wegen der Knappheit an Impfstoffen müsse allerdings die gesamte Bevölkerung mit erheblichen Einschränkungen leben; das gelte in besonderem Maße für alle Personen mit Vorerkrankungen. Diese Gefährdung könne aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht für alle in besonderem Maße gefährdeten Bürger beseitigt werden. Schließlich zähle der Antragsteller bereits zu der in § 3 CoronaImpfV aufgeführten Gruppe, sodass der Zeitraum bis zu einem möglichen Impftermin überschaubar erscheine.
Am 21. Januar 2021 hat der Antragsteller Beschwerde beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen eingelegt und sein Vorbringen wiederholt. Das SG verstoße gegen Art. 103 GG, soweit es seinen Vortrag zur Verfassungswidrigkeit der CoronaImpfV unbeachtet gelassen habe. Ebenso wenig sei sein Vortrag zur fehlenden Möglichkeit der Selbstisolation vom SG berücksichtigt worden. Der Zeitraum bis zu einer möglichen Impfung sei auch keineswegs überschaubar, soweit noch über 8 Millionen Menschen (in der ersten Gruppe) geimpft werden müssen.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 21. Januar 2021 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn in die unter § 2 CoronaImpfV mit höchster Priorität definierte Gruppe aufzunehmen und eine unverzügliche Impfung zu gewährleisten,
hilfsweise unter Aufhebung des o.g. Beschlusses den Antragsgegner zu verpflichten, ihm unmittelbar im Anschluss an die Impfungen in Alten- und Pflegeheimen eine Impfung zu ermöglichen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des SG Oldenburg für zutreffend. Die CoronaImpfV sei sowohl formell als auch materiell rechtmäßig. Dass der Gesetzgeber eine Härtefallregelung nicht getroffen habe, sei von seinem weiten Gestaltungsspielraum erfasst. Eine Härtefallregelung, die medizinische und persönliche Umstände berücksichtige, würde bei der Vielzahl von denkbaren Konstellationen die getroffene Priorisierung ad absurdum führen. Im Übrigen liege im Fall des Antragstellers kein (ungeregelter) Härtefall vor. Denn er sei ausdrücklich bereits von der Fallgruppe in § 3 CoronaImpfV umfasst. Auch die von der STIKO jüngst empfohlene Möglichkeit, Einzelfallentscheidungen zu treffen, beziehe sich nur auf Krankheitsbilder, die nicht schon berücksichtigt worden sind. Schließlich ergäbe sich auch bei unterstellter Verfassungswidrigkeit der CoronaImpfV kein Anspruch des Antragstellers, weil er bei Knappheit der Impfstoffe keinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 GG herleiten könne.
II.
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 143 SGG) Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
1.
Der Hauptantrag des Antragstellers ist nach verständiger Würdigung so auszulegen (vgl. zur Auslegung nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung: B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage 2020, § 92, Rn. 12 m.w.N. zu Literatur und Rspr.), dass er mit den aktuell zur Verfügung stehenden Impfstoffen einen gegenüber anderen Personen vorrangigen Anspruch auf Impfung geltend macht. Denn allein die Gleichstellung mit allen in § 2 CoronaImpfV aufgeführten Personen mit Anspruch auf Schutzimpfungen höchster Priorität vermag dem Antragsteller bei derzeitiger Knappheit der Impfstoffe und der Notwendigkeit, innerhalb dieser Gruppe vorrangige Anspruchsberechtigte zu benennen (vgl. dazu: § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV), nicht, eine unverzügliche Impfung zu verschaffen. Das ergibt sich auch in der Zusammenschau mit seinem Hilfsantrag, mit dem er die Berücksichtigung unmittelbar nach den aktuell in Alten- und Pflegeheimen durchgeführten Impfungen begehrt.
2.
Der so verstandene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zwar mit den zutreffenden Ausführungen des SG zulässig (vgl. dabei zur Bindung der Beschwerdeinstanz an den Rechtsweg: § 17 a Abs. 5 GVG), aber sowohl hinsichtlich des Hauptantrages als auch des Hilfsantrages unbegründet.
a.
Das Land Niedersachsen ist der richtige Antragsgegner hinsichtlich des geltend gemachten vorrangigen Impfanspruchs. Das ergibt sich aus der umfassenden Zuständigkeit der Länder für die Leistungserbringung nach § 6 CoronaImpfV. Eine etwaige Zuständigkeit des Rechtsträgers der Ortsbehörde, die das Impfzentrum im Auftrag des Landes am Wohnort des Antragstellers errichtet und betreibt (hier: der Stadt H.), vermag der Senat demgegenüber nicht zu erkennen. Dagegen spricht allein schon die zentral durch das Land Niedersachsen organisierte Terminvergabe für die einzelnen Gruppen der nach CoronaImpfV Berechtigten (vgl. insoweit § 6 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV), wonach Termine auch unabhängig vom Wohnort nach Verfügbarkeit von Terminen oder Impfdosen vergeben werden und dem Impfberechtigten grundsätzlich ein Anspruch auf freie Wahl des Impfzentrums zusteht (vgl. die Informationen zur verbindlichen Terminvergabe auf: www.ms.niedersachsen.de). Eine Prüfung der Berechtigung nach den Maßgaben der CoronaImpfV erfolgt vor Ort nicht mehr, sodass sich die Zuständigkeit der Ortsbehörden allein auf die Ablauforganisation der Impfung beschränkt. Der Antragsgegner ist damit grundsätzlich in der Lage, an den Antragsteller einen fest nur an ihn zugewiesenen Impftermin zu vergeben, um seinem Begehren Rechnung zu tragen (a.A. bei Trennung des Anspruchs auf unverzügliche Impfung gegen die untere Gesundheitsbehörde einerseits und die Terminvergabe gegen das Land andererseits: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11. Januar 2021 - 20 L 1812/20 -, Rn. 32 ff. und Zurückweisung der Beschwerde durch das OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Januar 2021 - 13 B 58/21 -; so wie hier wohl, soweit es dem Pressebericht zu entnehmen ist: VG Dresden, Beschluss vom 29. Januar 2021 - 6 L 42/21 -, noch nicht veröffentlicht).
b. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsanordnung liegen nicht vor. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (vgl. zur Anwendung des Prozessrechts desjenigen Gerichts, an das verwiesen wurde: BVerwG, Urteil vom 6. Juni 1967 - IV C 216.65 -, BVerwGE 27, 170-176, Rn 19). Die Voraussetzungen dafür, d.h. der Anordnungsanspruch - die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist - sowie der Anordnungsgrund - die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung - sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 2 ZPO -).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Er hat weder aus § 1 Abs. 1 Satz 1 CoronaImpfV noch - bei unterstellter Verfassungswidrigkeit der CoronaImpfV - einen unmittelbaren aus der Verfassung abgeleiteten Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG. Der Senat lässt dabei offen, ob die CoronaImpfV verfassungsgemäß ist oder ob ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatz vorliegt, weil die vorgenommene Priorisierung nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber hätte erfolgen dürfen. Denn die bekannte Knappheit der Impfstoffe ermöglicht eine Teilhabe nur im Rahmen der aktuell zur Verfügung stehenden Kapazitäten und erfordert daher in jedem Fall eine Priorisierung, die sowohl die Verordnung als auch der Antragsgegner nach der in Verfahren des Eilrechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung in rechtmäßiger Weise so vorgenommen hat, dass der Antragsteller derzeit noch keinen Anspruch auf eine Impfung hat (dazu unter aa.). Es liegt auch kein atypischer Einzelfall vor, der es gebietet, den Antragsteller in die Gruppe mit höchster Priorität aufzunehmen und ihm innerhalb dieser Gruppe vorrangig oder jedenfalls unmittelbar nach den in Alten- und Pflegeheimen durchgeführten Impfungen eine Impfung zu ermöglichen (dazu unter bb.)
aa. Der Antragsteller hat zwar im Grundsatz einen Anspruch auf eine Impfung gegen das Coronavirus, bei eingeschränkter Verfügbarkeit von Impfstoffen nicht jedoch auf eine unverzügliche Impfung im Rahmen der höchsten Priorität (vgl. § 1 Abs. 1 CoronaImpfV), sondern - aufgrund seines Alters von über 70 Jahren - in der nächsthöheren Priorisierungsstufe der Gruppe 2. Die vorgenommene Priorisierung ist dabei grundsätzlich nicht zu beanstanden. Sie entspricht den Beschlussempfehlungen der am RKI angesiedelten STIKO (vgl. zuletzt den "Beschluss der STIKO zur 2. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung", Stand der Aktualisierung vom 29. Januar 2021; abzurufen unter: RKI - Impfungen A - Z - STIKO-Empfehlungen zur COVID-19-Impfung - Epidemiologisches Bulletin -; aufgerufen hier zuletzt am 2. Februar 2021). Der Senat hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Empfehlungen nicht auf den jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und regelmäßig evaluiert werden.
Ausgehend von der Tatsache, dass bislang für die Altersgruppe ab 65 Jahren nur die zugelassenen mRNA-Impfstoffe der Firmen BioNtech/Pfizer und Moderna empfohlen werden, diese Impfstoffe allerdings nur begrenzt verfügbar sind, empfiehlt die STIKO bei den Impfungen ein stufenweises Vorgehen (sog. Priorisierungsempfehlung), an dem sich auch die CoronaImpfV orientiert. Hiernach sollen in einer ersten Stufe vorrangig BewohnerInnen von Senioren- und Altenpflegeheimen und Personen, die älter als 80 Jahre sind geimpft werden (vgl. zu den weiteren Gruppen, insbesondere dem Personal in Einrichtungen mit engem Kontakt zu diesen vulnerablen Gruppen: Seite 3 des Bulletins; dementsprechend: § 2 CoronaImpfV). Die STIKO führt insoweit aus, dass nach den bisherigen Erkenntnissen zu dem Verlauf einer Covid 19-Erkrankung das (zunehmende) Alter der alles entscheidende Risikofaktor für einen schweren bis hin zu einem tödlichen Verlauf der Erkrankung ist (Seite 9 des Bulletins). Die vorrangige Impfung von Personen, die älter als 80 Jahre sind, überzeugt daher, weil damit in größtmöglicher Zahl schwere Erkrankungsfälle und Todesfälle verhindert werden können. Wie das SG ausführt, dient das gleichermaßen dem individuellen wie dem Schutz der Allgemeinheit vor Überlastung der Versorgungssysteme. Ob der Antragsgegner sein - entweder nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV oder aber unmittelbar aus den verfassungsrechtlichen Grundsätzen zur Gewährung von Teilhabe im Rahmen nur begrenzt verfügbarer Kapazitäten - eingeräumtes Ermessen innerhalb dieser Gruppe dahingehend zutreffend ausgeübt hat, dass er den BewohnerInnen von Alten- und Pflegeheimen Vorrang bei der Gewährung einer Impfung einräumt (vgl. dazu bejahend mit überzeugenden Ausführungen: VG Hannover, Beschluss vom 25. Januar 2021 - 15 B 269/21 -), bedarf hier keinen weiteren Ausführungen. Denn der Antragsteller gehört weder zu dieser Gruppe noch ist er diesen gleichzustellen (dazu sogleich unter bb.). Vor dem Hintergrund des vorrangigen Schutzes der Personen mit hohem Alter überzeugt, dass der Antragsteller nach der CoronaImpfV erst in die nächsthöhere Kategorie (§ 3) eingestuft wurde. Der Senat hat keinen Zweifel, dass die weitergehende Differenzierung der STIKO (zwischen Personen im Alter von über 75 Jahren - Stufe 2 - bzw. darunter - Stufe 3) wissenschaftlich fundiert ist. Auf die Bewertung dieser weiteren Differenzierung kommt es jedoch nicht an, da - was auch der Antragsteller nicht in Zweifel zieht - bislang in Niedersachsen noch nicht einmal Impfdosen für alle Personen der ersten Gruppe verfügbar sind, sodass unbeantwortet bleiben kann, wie dringlich die Impfung des Antragstellers innerhalb der zweiten Gruppe ist. Die Herzerkrankung des Antragstellers weist ihn nach diesen Empfehlungen keiner höheren Priorisierung zu, sondern nur der Gruppe 3 nach CoronaImpfV bzw. der Gruppe 4 nach STIKO (vgl. Seite 4 des Bulletins). Der Senat hat ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Kategorisierung nicht wissenschaftlich fundiert sein sollte. Ob die Kumulation verschiedener Faktoren eine höhere Priorisierung erfordert, ist eine Frage der Bewertung eines atypischen Einzelfalles (dazu unter bb.).
bb. Der Senat lässt offen, ob die CoronaImpfV es zulässt, im atypischen Einzelfall von der festgelegten Reihenfolge der Priorisierung abzuweichen und eine höhere Priorisierung zuzulassen, sofern § 1 Abs. 2 Satz 1 als "Soll-Vorschrift" ausgestattet ist (so wohl, soweit es dem Pressebericht zu entnehmen ist: VG Dresden, Beschluss vom 29. Januar 2021 - 6 L 42/21 -, noch nicht veröffentlicht) oder aber eine Öffnungsklausel für Einzelfälle fehlt, eine solche aber verfassungsrechtlich geboten wäre. Denn bei dem Antragsteller liegt kein atypischer Einzelfall vor, der es gebietet, von der vorgenommenen Priorisierung zu seinen Gunsten abzuweichen, sodass er weder mit seinem Haupt- noch seinem Hilfsantrag durchdringt, weil er nicht der Gruppe mit Anspruch auf Schutzimpfung höchster Priorität angehört. Aus diesem Grund kann er seinen Anspruch auch nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten, weil auch die freie Verteilung von Gütern (ohne gesetzliche Grundlage) bei begrenzter Kapazität sich an nachvollziehbaren, wissenschaftlich basierten Erkenntnissen orientieren muss und der Vorrang von BewohnerInnen in Alten- und Pflegeheimen und von Personen über 80 Jahren uneingeschränkt nachvollziehbar ist.
Dabei gilt der Antragsteller schon aufgrund seines Alters als Person mit Anspruch auf Schutzimpfung mit hoher Priorität (§ 3 Nr. 1 CoronaImpfV); soweit zudem seine Erkrankung (Herzinsuffizienz bei koronarer Herzerkrankung) der Gruppe der Personen mit Anspruch auf Schutzimpfung erhöhter Priorität nach § 4 Nr. 2. f) CoronaImpfV zugeordnet ist, liegt im Ausgangspunkt kein ungeregelter Fall, sondern eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Regelung vor. Diese Regelung erkennt bereits an, dass der Antragsteller ein gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung deutlich erhöhtes Risiko eines schweren Covid 19-Verlaufs trägt.
Weder sind allerdings diese beiden kumulierenden Faktoren (Alter und Herzerkrankung) noch die sonstigen persönlichen Umstände des Antragstellers in der Gesamtbetrachtung so außergewöhnlich, dass eine besondere Härte erreicht wird. Dem persönlich hohen Risiko des Antragstellers wird mit der Zuordnung in die Gruppe 2 (ausreichend) Rechnung getragen. Dabei hat der Senat in seine Wertung mit einbezogen, dass sich die Ehefrau des Antragstellers als Grundschullehrerin Kontakten außerhalb des eigenen Haushalts nicht vollständig entziehen kann (vgl. zum aktuell bis zum 14. Februar 2021 geltenden Wechselunterricht in geteilten Klassen an Grundschulen im sog. Szenario B: Presseinformation vom 20. Januar 2021 auf www.mk.niedersachsen.de). Der Antragsgegner weist aber zutreffend darauf hin, dass bei konsequenter Einhaltung der empfohlenen Hygienemaßnahmen, die der Antragsteller nach seinem Vortrag mit seiner Familie konsequent umsetzt, das Ansteckungsrisiko ganz erheblich reduziert werden kann (vgl. auch den Niedersächsischen Rahmenhygieneplan, Stand 8. Januar 2021, abrufbar unter www.mk.niedersachsen.de). Insoweit ist aber jedenfalls der Umstand, dass die Partnerin einen Beruf ausübt, in dem sie zwangsläufig vielfältige Kontakte hat, nicht außergewöhnlich, weil es eine Vielzahl von Berufen gibt, in denen Kontakte unvermeidbar sind wie z.B. für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Lebensmittel- und Drogeriemärkten, Erzieher und Erzieherinnen oder Angestellte in Apotheken und Arztpraxen. Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, dass es dem Antragsteller wegen seiner Erkrankung nicht möglich ist, sich zu Hause von den übrigen Haushaltsmitgliedern zu isolieren, weil er im Notfall auf sofortige Hilfe angewiesen ist. Mit dieser Situation sehen sich allerdings typischerweise Personen mit Vorerkrankungen konfrontiert, sodass das nicht die Bewertung als außergewöhnlichen Einzelfall trägt. Soweit der Antragsteller Kinder im Jugendalter hat, die noch die Schule besuchen, besteht unabhängig davon, dass außer in den Grundschulen und Abschlussklassen aktuell kein Präsenzunterricht erfolgt, im Grundsatz die Möglichkeit, sich derzeit von der Präsenzpflicht befreien zu lassen, sodass an dieser Stelle Kontakte vollständig vermieden werden können, jedenfalls aber auch durch Einhaltung konsequenter Hygienemaßnahmen das Risiko wiederum deutlich reduziert werden kann.
Es kommt auch nicht maßgeblich darauf an, dass im Einzelfall eine über 80-jährige Person ein deutlich geringeres Risiko als der Antragsteller aufweist. Denn zutreffend verweist der Antragsgegner darauf, dass die Schwierigkeit einer Vielzahl von Fallkonstellationen es im Sinne der Handhabbarkeit gebietet, generalisierende Regelungen bzw. Entscheidungen zu treffen und die Abweichung sich auf eine signifikant ungewöhnliche, nicht ausreichend bedachte Konstellation beziehen muss. Das kann der Senat vorliegend nicht auch nur im Ansatz erkennen, weil sämtliche Faktoren - Alter, Vorerkrankung, die fehlende Möglichkeit, sich Kontakten vollständig zu entziehen - seit Monaten öffentlich diskutiert werden und auch die Kumulation nichts Ungewöhnliches ist.
Nach alldem hat der Antragsteller zum Zeitpunkt der Beschlussfassung keinen Anspruch auf eine Impfung gegen das Corona-Virus, weil zunächst die ihm gegenüber priorisierte Gruppe vollständig zu versorgen ist, was derzeit noch nicht der Fall ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 55 Abs. 2 Nr. 4 und 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Eine Reduzierung des Streitwerts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist nach Ziffer II. 10.1. des Streitwertkataloges für die Sozialgerichtsbarkeit nicht geboten, weil die begehrte einstweilige Anordnung auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG und § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Heine Nachtwey Dr. Schönig