Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.04.1979, Az.: IV OVG A 85/78

Klage auf Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zur fristlosen Kündigung eines Schwerbeschädigten; Streit über die fristgerechte Ablehnung der Zustimmung; Ordnungsgemäße Besetzung des Widerspruchsausschusses

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.04.1979
Aktenzeichen
IV OVG A 85/78
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1979, 16292
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1979:0417.IV.OVG.A85.78.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 16.02.1978 - AZ: II A 517.77 S

Verfahrensgegenstand

Zustimmung zur Kündigung des Schwerbeschädigten

In der Verwaltungsrechtssache
hat der IV. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Lüneburg
am 17. April 1979
beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - II. Kammer Stade - vom 16. Februar 1978 ist unwirksam.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens trägt jeder Beteiligte selbst.

Gründe

1

I.

Die Klägerin beantragte am 18. Januar 1977 bei der Hauptfürsorgestelle des Beklagten die Zustimmung zur fristlosen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses mit dem Beigeladenen. Der am 31. August 1926 geborene Beigeladene ist anerkannter Schwerbeschädigter im Sinne des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchbG) i.d.F. vom 29. April 1974 (BGBl I S. 1005). Der Beigeladene war wegen fahrlässigen Vollrausches, Vortäuschung einer Straftat und eines Betrugsversuches zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen verurteilt worden. Die Hauptfürsorgestelle versagte mit Bescheid vom 28. Januar 1977, der am gleichen Tage zur Absendung gebracht wurde, die Zustimmung und teilte dies der Klägerin ebenfalls am gleichen Tage fernmündlich mit. In der Begründung wurde ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung des Beigeladenen verneint. Dem öffentlichen Interesse am Schutz des Arbeitsplatzes des Beigeladenen wurde jedoch Vorrang eingeräumt, zumal er seit 36 Jahren im Dienste der Klägerin stehe, seine Arbeit bisher zufriedenstellend erbracht habe und weil die unterlassene Benachrichtigung seines Arbeitgebers über das Strafverfahren nicht vorwerfbar sei.

2

Den Widerspruch der Klägerin wies der Widerspruchsausschuß bei dem beklagten Amt in der Besetzung von sechs Mitgliedern bei Abwesenheit eines zweiten Arbeitgebervertreters mit Bescheid vom 22. Juli 1977 aus den Gründen des Bescheides der Hauptfürsorgestelle zurück.

3

Die Klägerin hat vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben und die Auffassung vertreten, daß die Zustimmung des beklagten Amtes bereits kraft Gesetzes als erteilt gelte. Der Bescheid vom 28. August 1977 sei ihr nämlich erst nach Ablauf der 10-Tage-Frist, die für die Entscheidung über ihren Antrag habe eingehalten werden müssen, zugestellt worden. Da die Kündigung des Beigeladenen im übrigen aus Gründen vorgesehen sei, die nicht im Zusammenhang mit seiner Behinderung stünden, habe das beklagte Amt keinen Ermessensspielraum und sei zur Zustimmung verpflichtet gewesen.

4

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, daß die Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beigeladenen als erteilt gilt,

5

hilfsweise,

den Bescheid des beklagten Amtes vom 28. Januar 1977 und den Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1977 aufzuheben und das beklagte Amt zu verpflichten, der fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beigeladenen die Zustimmung zu erteilen.

6

Der Beklagte und der Beigeladene haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Der Beklagte hat geltend gemacht, seine Entscheidung sei auch ohne Zustellung innerhalb der 10-Tage-Frist rechtzeitig getroffen worden. Der Gesetzgeber habe die ohnehin knappe Entscheidungsfrist nicht noch um die Zustellungszeit verkürzen wollen. Im übrigen sei er der Auffassung, daß die besonderen Umstände die Verweigerung der Zustimmung rechtfertigten. Das einmalige Fehlverhalten des Beigeladenen dürfe ihn nicht zum Sozialhilfeempfänger machen.

8

Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 16. Februar 1978 den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 22. Juli 1977 aufgehoben, weil der Widerspruchsausschuß nicht richtig besetzt gewesen sei, und die Klage im übrigen abgewiesen. Die Abweisung bezieht sich auf den Erstbescheid der Hauptfürsorgestelle, mit dem die Zustimmung zur Kündigung verweigert wurde. Im Hinblick auf die Klageabweisung hat das Verwaltungsgericht sich eingehend mit der materiellen Rechtslage auseinandergesetzt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Erstbescheid in der Sache richtig war. Der Bescheid der Hauptfürsorgestelle war nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts bis zum Erlaß einer formell richtigen Entscheidung des Widerspruchsausschusses schwebend unwirksam.

9

Der Beklagte hat Berufung eingelegt und diese ausdrücklich auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides durch das Verwaltungsgericht beschränkt. Unter Hinweis auf § 40 Abs. 1 und § 32 Abs. 2 SchwbG sei der Widerspruchsausschuß beim Beklagten beschlußfähig, wenn wenigstens die Hälfte der Mitglieder anwesend sei. Der vom Verwaltungsgericht gerügte Formfehler sei deshalb in Wirklichkeit nicht unterlaufen.

10

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf ihre Schriftsätze verwiesen.

11

Die Verwaltungsakten haben dem Senat vorgelegen. Auf ihren sowie auf den näheren Inhalt der Prozeßakten, insbesondere auf die eingehenden Ausführungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen.

12

In der mündlichen Verhandlung über die Berufung haben die Beteiligten sich dahin verglichen, daß sie den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklären. Die Kostenentscheidung ist dem Gericht gemäß § 161 Abs. 2 VwGO vorbehalten worden.

13

II.

Nach der Erledigung der Hauptsache durch Vergleich war ... das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 2 VwGO einzustellen. Das angefochtene Urteil war gemäß § 173 VwGO i.V.m. dem entsprechend anzuwendenden § 269 Abs. 3 ZPO für wirkungslos zu erklären, und zwar hinsichtlich seines gesamten Entscheidungsumfanges, wie sich aus der nachstehenden Begründung der Kostenentscheidung ergibt. Über die Kosten des Verfahrens hatte der Senat gemäß § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Die Anwendung dieses Maßstabes führt zur gleichmäßigen Kostenbelastung aller drei Beteiligten.

14

Dem Verwaltungsgericht ist im Ergebnis darin zuzustimmen, daß die Hauptfürsorgestelle die in § 18 Abs. 3 SchwbG festgelegte Entscheidungsfrist von 10 Tagen gewahrt hat. Zur Begründung dieser Auffassung braucht aber ... nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben ... verwiesen zu werden. Der Senat hat bereits in seinem Beschluß vom 31. Juli 1978 (IV OVG A 64/78) geklärt, daß durch die Sonderregelung in § 18 Abs. 3 Satz 2 SchwbG die Zustellungsregeln in § 15 Abs. 2 des Gesetzes für den dort geregelten Fall (Zustimmung zur Kündigung durch Schweigen der Behörde) aufgehoben werden. In Erweiterung dieser Rechtsprechung vertritt der Senat die Auffassung, daß eine fernmündliche Bekanntgabe der von der Hauptfürsorgestelle zunächst behördenintern getroffenen Entscheidung innerhalb der 10-Tage-Frist an den antragstellenden Arbeitgeber jedenfalls dann als Entscheidung im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 1 SchwbG anzusehen ist, wenn die schriftlich abgesetzte Entscheidung das Datum eines Tages trägt, der innerhalb der 10-Tage-Frist liegt, und - wie hier - am letzten Tag der Frist abgesandt worden ist. Er leitet diese Rechtsansicht aus Wortlaut, Sinn und Zweck des § 18 Abs. 3 SchwbG und der Interessenlage bei einer außerordentlichen Kündigung ab.

15

Nach dem somit wirksam ergangenen Bescheid der Hauptfürsorgestelle vom 28. Januar 1977 und nach der Entscheidung des Widerspruchsausschusses lag dem Verwaltungsgericht im Klageverfahren der von den Verwaltungsinstanzen behandelte Sachverhalt vollständig und ohne formelle Fehler zur rechtlichen Beurteilung vor. Dies gilt auch hinsichtlich des Widerspruchsbescheides. Der Senat kann der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zustimmen, bei Erlaß des Widerspruchsbescheides sei ein Verfahrensfehler unterlaufen. Nach § 38 Abs. 1 SchwbG gehören dem Widerspruchsausschuß sieben Mitglieder an. Nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes gilt für den Widerspruchsausschuß jedoch § 33 Abs. 1 und 2 entsprechend. Nach § 33 Abs. 2 SchwbG ist ein Ausschuß beschlußfähig, wenn wenigstens die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Da bei der Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin am 21. Juni 1977 sechs Mitglieder des Widerspruchsausschusses anwesend waren, entsprach das Widerspruchsverfahren den gesetzlichen Vorschriften.

16

Angesichts dieser Rechtslage hätte der Senat ohne die Hauptsachenerledigung voraussichtlich über den gesamten materiell-rechtlichen Streitstoff zu entscheiden gehabt, zumal die Klägerin nach Erörterung dieser Rechtslage aller Wahrscheinlichkeit nach entsprechend dem gemäß § 86 Abs. 3 VwGO gebotenen Hinweis Anschlußberufung eingelegt hätte.

17

Die unter Billigkeitsgesichtspunkten zu treffende Kostenentscheidung muß danach zu Lasten aller drei Beteiligten ausfallen. Der Senat sieht es nach Erledigung der Hauptsache nicht mehr als angemessen und geboten an, die schwierige Frage der Rechtmäßigkeit der Versagung der Zustimmung zur fristlosen Kündigung lediglich im Rahmen der Entscheidung über die Verteilung der geringfügigen Kosten abschließend zu klären. Es genügt in diesem Zusammenhange deshalb der Hinweis, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Sollvorschriften grundsätzlich als zwingend anzusehen sind (Urt. d. BVerwG v. 29.10.1959, DVBl 60 S. 252), während auch die von den Schwerbeschädigtenbehörden und vom Verwaltungsgericht erörterten Umstände und Gesichtspunkte durchaus von Gewicht sind.

18

Bleibt danach offen, wie in der Sache selbst endgültig zu entscheiden gewesen wäre, so entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens gleichmäßig zu verteilen. In diese Regelung war der Beigeladene mit einzubeziehen (vgl. hinsichtlich der ersten Instanz § 154 Abs. 3 VwGO, hinsichtlich der zweiten Instanz § 162 Abs. 3 VwGO). Da gemäß § 188 VwGO Gerichtskostenfreiheit besteht, hat im Ergebnis jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.

19

Dieser Beschluß ist gemäß § 152 VwGO unanfechtbar.

Jacobi
Fischer
Inselberg