Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 08.02.2017, Az.: 3 Ws 82/17 (StrVollz)

Zweifel an der Eignung für den offenen Vollzug wegen einer im geschlossenen Vollzug begangenen Straftat

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
08.02.2017
Aktenzeichen
3 Ws 82/17 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 17863
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 01.11.2016 - AZ: 5a StVK 66/16

Fundstellen

  • StRR 2017, 3
  • StV 2018, 641

Amtlicher Leitsatz

1. Macht die in erster Instanz unterlegene Vollzugsanstalt die von der Strafvollstreckungskammer aufgehobene Maßnahme zunächst rückgängig und erhebt sodann Rechtsbeschwerde, so tritt keine Erledigung der Hauptsache ein, wenn Streitgegenstand eine Maßnahme mit Dauerwirkung ist.

2. Die gesetzliche Voraussetzung der Eignung für den offenen Vollzug, dass nicht zu befürchten sein darf, der Gefangene werde die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten missbrauchen, bedeutet nicht, dass Anlass für eine Ablösung aus dem offenen Vollzug nur Straftaten sein können, bei deren Begehung der Gefangene die spezifischen Möglichkeiten des offenen Vollzuges ausgenutzt hat; Grundlage kann auch eine Straftat unter den Bedingungen des geschlossenen Vollzugs sein, welche Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit des Gefangenen erlaubt.

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der Strafvollstreckungskammer, mit welchem die Ablösung der Antragstellerin aus dem offenen Vollzug vom 8. September 2016 aufgehoben und die Antragsgegnerin verpflichtet worden ist, die Vollziehung der Ablösung rückgängig zu machen und die Antragstellerin wieder in den offenen Vollzug in der Abteilung N. aufzunehmen. Die Entscheidung ist darauf gestützt, dass die Voraussetzungen für eine Ablösung nicht vorgelegen hätten, weil zwar gegen die Antragstellerin der Verdacht eines Betruges zum Nachteil des Landkreises W. bestehe, die Antragstellerin mit dieser Straftat hingegen nicht die Möglichkeiten des offenen Vollzuges missbraucht habe.

Mit ihrer Rechtsbeschwerde rügt die Antragsgegnerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere eine Missachtung des ihr nach dem Gesetz zustehenden Beurteilungsspielraums. Eine Erledigung des Rechtsstreits sei auch nicht dadurch eingetreten, dass die Antragsgegnerin in Umsetzung des angefochtenen Beschlusses die Antragstellerin in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt B. verlegt und von einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach Abwägung der beiderseitigen Interessen abgesehen habe.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Sie ist zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Der vorliegende Fall gibt Anlass, Leitsätze für die Auslegung von § 12 Abs. 2 und Abs. 3 NJVollzG aufzustellen.

Durch die Maßnahmen der Vollzugsbehörde zum Rückgängigmachen der Vollziehung der Ablösungsverfügung ist auch keine Erledigung des Rechtsstreits eingetreten. Zwar kann Erledigung auch dadurch eintreten, dass die in erster Instanz unterlegene Vollzugsanstalt der sich aus der erstinstanzlichen Entscheidung ergebenden Verpflichtung nachkommt und die Rechtsbeschwerde betreibt, ohne die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 116 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 114 Abs. 2 StVollzG zu beantragen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 11. August 2008 - 1 Ws 310/08 (StrVollz); OLG Hamm ZfStrVo SH 1979, 109; Kamann/Spaniol in Feest, StVollzG, 6. Aufl. § 116 Rn. 5 und Rn. 17). Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn mit der Vollziehung der Entscheidung die Beschwer endgültig weggefallen ist und nach einer erfolgreichen Rechtsbeschwerde der Vollzugsbehörde nicht wieder aufleben kann (vgl. KG StraFo 2012, 34 [KG Berlin 22.08.2011 - 2 Ws 258/11 Vollz]). So liegt der Fall hier aber nicht; denn bei der Verlegung in den offenen Vollzug handelt es um eine Maßnahme mit Dauerwirkung, deren Vollziehung mit Wirkung für die Zukunft rückgängig gemacht werden kann.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Überprüfung auf die in zulässiger Form erhobene Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

a) Nach § 12 Abs. 3 NJVollzG soll eine Gefangene oder ein Gefangener, die oder der sich im offenen Vollzug befindet, in den geschlossenen Vollzug verlegt werden, wenn sie oder er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs nach § 12 Abs. 2 NJVollzG nicht genügt; es darf also namentlich nicht zu befürchten sein, dass die oder der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten missbrauchen wird.

Die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe der Fluchtgefahr und der Missbrauchsgefahr erfordert eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde daher einen Beurteilungsspielraum, der der gerichtlichen Kontrolle nur beschränkt unterliegt; das Gericht darf lediglich überprüfen, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt und sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 31. Oktober 2008 - 1 Ws 538/08 (StrVollz) - mwN). Diesen Rechtsgrundsätzen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

Die Beschlussgründe lassen bereits nicht erkennen, dass die Strafvollstreckungskammer den Beurteilungsspielraum der Vollzugsanstalt als rechtlichen Ausgangspunkt beachtet hat. Abgesehen davon tragen die gerichtlichen Erwägungen nicht die Aufhebung der Ablösung. Denn das Gesetz verlangt nicht, dass Anlass für die Ablösung eine Straftat ist, bei deren Begehung die oder der Gefangene die spezifischen Möglichkeiten des offenen Vollzuges missbraucht hat. Es genügt vielmehr ein Sachverhalt, nach dem "zu befürchten ist", dass die oder der Gefangene die die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten missbrauchen wird. Dies kann aber auch ein Verhalten oder eine Straftat unter den Bedingungen des geschlossenen Vollzugs sein, welches Rückschlusse auf die Zuverlässigkeit der oder des Gefangenen zulässt.

Bei der Beurteilung, ob eine Befürchtung im Sinne des § 12 Abs. 2 NJVollzG besteht, ist ein neues Ermittlungsverfahren in jedem Fall Anlass für eine besonders sorgfältige Prüfung der Eignung der oder des Gefangenen für den offenen Vollzug (vgl. noch zu § 10 StVollzG: OLG Celle, Beschluss vom 17. September 2004 - 1 Ws 272/04 -, juris). Die Justizvollzugsanstalt hat dabei zu berücksichtigen, dass ein neues Ermittlungsverfahren die frühere günstige Prognose nachträglich als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen kann oder auch die neue Strafandrohung einen so starken Fluchtanreiz schaffen kann, dass allein deswegen zu befürchten ist, die oder der Gefangene werde den offenen Vollzug nutzen, um zu fliehen oder unterzutauchen. In der Regel wird daher die Ablösung aus dem offenen Vollzug unvermeidbar sein. Andererseits muss allein die Anhängigkeit eines neuen Ermittlungsverfahrens der oder dem Gefangenen nicht zwingend die Eignung zum offenen Vollzug absprechen, z. B. in Bagatellsachen.

Die Justizvollzugsanstalt hat ihre Prüfung daher unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Dabei ist es allerdings nicht erforderlich, dass sich die Vollzugsbehörde tatsächlich Sicherheit darüber verschafft, dass ein anhängiges Ermittlungsverfahren auch zu einer Verurteilung führt. Da die Ablösung aus dem offenen Vollzug weder eine Disziplinarmaßnahme noch sonst eine strafähnliche Sanktion ist und daher nicht den Nachweis eines schuldhaften Fehlverhaltens voraussetzt, ist sie auch auf der Grundlage eines bloßen Verdachts einer neuen strafbaren Handlung möglich, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist und der Tatverdacht auf konkreten, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärungspflicht der Vollzugsbehörde ermittelten Anhaltspunkten beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2004 - 2 BvR 1709/02 -, juris).

Als Grundlage für ihre Beurteilung, ob ein neues Strafverfahren begründete Zweifel entstehen lässt, die oder der Gefangene genüge (immer noch) den Anforderungen des offenen Vollzuges, reicht die Ermittlung folgender Umstände aus: Gegenstand des Verfahrens (Sachverhalt im Groben, Tatzeit, Tatort, Schaden); Verfahrensstand (Dauer der Ermittlungen, Zeitpunkt des voraussichtlichen Abschlusses, Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung); Kenntnis der oder des Gefangenen von den gegen sie oder ihn laufenden Ermittlungen. Darüber hinaus hat die Justizvollzugsanstalt aber auch die Kenntnisse über die Persönlichkeit der oder des Gefangenen, ihr oder sein Vollzugsverhalten und ihre oder seine bisherige kriminelle Entwicklung grundsätzlich mit in ihre Abwägung einzubeziehen (OLG Celle aaO.). Der Verpflichtung der Vollzugsanstalt zur Aufklärung des Sachverhalts im oben beschriebenen Sinne steht nicht entgegen, dass durch den neuen Tatverdacht ein sofortiger Sicherungsbedarf entstehen kann. Diesem kann durch vorläufige Maßnahmen hinreichend Rechnung getragen werden.

Ob die Ablösungsentscheidung den vorstehenden Anforderungen genügt, lässt sich auf der Basis der vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen.

b) Darüber hinaus sieht das Gesetz mit der Soll-Regelung in § 12 Abs. 3 NJVollzG ein eingeschränktes Auswahlermessen vor, so dass selbst bei Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ablösung dennoch Ausnahmen zugelassen werden können. Gibt ein Fall Anlass zu diesen Überlegungen, hat die Justizvollzugsanstalt sich damit auseinanderzusetzen (OLG Celle aaO.). Ein solcher Anlass könnte hier insbesondere in den Umständen zu sehen sein, die die Vollzugsbehörde vom Stellen eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung abgehalten haben. Ob und ggfs. mit welchen Erwägungen die Vollzugsbehörde hier ihr Auswahlermessen ausgeübt hat, ist den Beschlussgründen nicht zu entnehmen.

3. Mangels Spruchreife war die Sache daher zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).