Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 01.11.2001, Az.: 1 Ss 65/01

Angeklagter; Ausbleiben; Berufungsverwerfung; Entschuldigungsgrund; genügende Entschuldigung; Hauptverhandlung; Inhaftierung; Nichterscheinen; Strafgefangener; Strafhaft; Strafverfahren; Verwerfungsurteil; Vorführung

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
01.11.2001
Aktenzeichen
1 Ss 65/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 40244
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 11.06.2001 - AZ: 41 Ns 806 Js 32958/00

Tenor:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 11. Juni 2001 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht Braunschweig hat die Angeklagte (zusammen mit dem früheren Mitangeklagten G. J.) am 08.11.2000 wegen unerlaubten Erwerbs von Heroin zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Nachdem die Angeklagte hiergegen rechtzeitig Berufung eingelegt hatte, hat das Landgericht Braunschweig Termin zur Durchführung der Berufungsverhandlung auf den 11.06.2001 anberaumt; zu diesem Termin ist die Angeklagte am 24.04.2001 geladen worden, indem der Postbedienstete ihr die Ladung persönlich ausgehändigt hat. Am 10.05.2001 hat die Angeklagte die Verbüßung einer Strafe in der Justizvollzugsanstalt V. angetreten. Dort hat sie erst am Freitag, dem 08.06.2001 vom Tag der Berufungsverhandlung Mitteilung gemacht; die Anstalt hat eine Vorführung am Montag, dem 11.06.2001 als aus organisatorischen Gründen unzumutbar abgelehnt.

2

Als die Angeklagte in der Berufungsverhandlung vom 11.06.2001 nicht erschienen war, hat die Berufungskammer die Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil nach § 329 Abs.1 StPO verworfen und zur Begründung darauf verwiesen, dass die Abwesenheit der Angeklagten nicht entschuldigt sei, weil die Angeklagte nicht von sich aus rechtzeitig auf die Notwendigkeit ihrer Vorführung hingewiesen habe.

3

Gegen das Verwerfungsurteil vom 11.06.2001 hat die Angeklagte am folgenden Tage (unter gleichzeitiger Erhebung der allgemeinen Sachrüge) Revision eingelegt. Nachdem das Urteil am 26. und 27.06.2001 der Angeklagten und ihrem Verteidiger zugestellt worden war, ist am 26.07.2001 eine weitere Begründung der Revision eingegangen. Darin wird die Rüge der Verletzung materiellen Rechts darauf gestützt, dass die Berufungskammer die Verschuldensfrage i.S.d. § 329 StPO rechtlich unzutreffend beantwortet habe; da das Ausbleiben der Angeklagten letztlich allein auf die organisatorischen Gegebenheiten in der JVA V. zurückzuführen sei, hätte kein Verwerfungsurteil ergehen dürfen; deshalb habe selbst der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht die Verwerfung der Berufung, sondern die Neuterminierung der Sache beantragt.

4

Die Angeklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Landgericht Braunschweig zurückzuverweisen. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt die Verwerfung der Revision nach § 349 Abs.2 StPO.

II.

5

Die Revision ist zulässig und führt zu dem von der Angeklagten beantragten Zwischenergebnis.

6

1. Das Rechtsmittel ist rechtzeitig und formgerecht eingelegt und auch in gehöriger Weise begründet worden.

7

Ausdrücklich hat die Angeklagte zwar nur die Sachrüge gegen das angefochtene Urteil erhoben, obwohl ein Verwerfungsurteil nach § 329 StPO ein reines Prozessurteil ist, das in seinem Kern nur mit der Verfahrensrüge angegriffen werden kann; die Sachrüge führt nur zur Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen, welche im gegebenen Fall vorliegen. Der Gesamtzusammenhang der Revisionsbegründung ergibt jedoch, dass die Angeklagte in Wahrheit eine Verfahrensrüge erheben will und nur den unzutreffenden Ausdruck gewählt hat, was unschädlich ist; der Gedanke des § 300 StPO ist auch in diesem Zusammenhang heranzuziehen (Paulus, in: KMR, StPO, § 329 Rdnr.69).

8

Wegen der besonderen Verfahrenslage nach einer Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs.1 StPO ist nämlich immer zu prüfen, ob nicht in Wirklichkeit die unrichtige Anwendung der genannten Vorschrift auf den im Urteil festgestellten Sachverhalt erhoben werden soll (Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 329 Rdnr.98; Paulus, a.a.O., Rdnr.69). Eine solche Auslegung der Revisionsbegründung ist bei einem reinen Prozessurteil naheliegend, wenn der Sachvortrag zugleich die nach § 344 Abs.2 S.2 StPO zur Begründung der Verfahrensrüge notwendigen Tatsachen enthält (Gollwitzer, a.a.O.; Paulus, a.a.O.). Im vorliegenden Falle genügt die Revisionsbegründung den formellen Anforderungen, da sie deutlich macht, dass sie rügen will, das Landgericht habe den Begriff der unentschuldigten Abwesenheit rechtlich falsch interpretiert; detaillierter Tatsachenvortrag war hier nicht erforderlich, da die zur Überprüfung des Urteils erforderlichen Tatsachen im Urteil selbst enthalten sind. Der Inhalt des Urteils brauchte nicht vorgetragen zu werden, da der Senat ihn aufgrund der allgemein erhobenen Sachrüge ohnehin zur Kenntnis nehmen muss (vgl. Rautenberg, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 329 Rdnr.50).

9

Grundsätzlich wird die explizit als Sachrüge bezeichnete Beanstandung, das Ausbleiben des Angeklagten habe nicht als unentschuldigt angesehen werden dürfen, von der Rechtsprechung als sog. unsubstantiierte Verfahrensrüge hingenommen, die zur Überprüfung der Anwendung des § 329 StPO auf die im Urteil festgestellten Tatsachen führt (OLG Hamm NJW 1963, 65 [OLG Hamm 07.06.1962 - 2 Ss 79/62]; Rautenberg, a.a.O., § 329 Rdnr.50; Gollwitzer, a.a.O., § 329 Rdnr.98; Paulus, a.a.O., § 329 Rdnr.69).

10

2. Die Revision ist begründet, denn auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts hätte das Landgericht die Abwesenheit der Angeklagten in der Berufungsverhandlung nicht als unentschuldigt ansehen dürfen.

11

Grundsätzlich ist ein verhafteter Angeklagter vorzuführen und scheidet eine Verwerfung nach § 329 Abs.1 StPO aus, es sei denn, der Angeklagte hätte - was hier gerade nicht der Fall ist - unmissverständlich auf eine Vorführung verzichtet (OLG Stuttgart StV 1988, 72; Ruß, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 4. Aufl., § 329 Rdnr.12). Das gilt entgegen der vom Landgericht unter Berufung auf den Kommentar von Kleinknecht/Meyer-Goßner (45. Aufl., § 329 Rdnr.24) vertretenen Auffassung auch dann, wenn der Angeklagte nicht in der zu verhandelnden Sache einsitzt, sondern Strafhaft in anderer Sache verbüßt (Ruß, a.a.O., § 329 Rdnr.12; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 329 Rdnr.19; Rautenberg, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 329 Rdnr.23; Pfeiffer, StPO, 2. Aufl., § 329 Rdnr.6; OLG Köln, Goltdammer's Archiv 1962, 382 und 1963, 58). Grundsätzlich ist einem inhaftierten Angeklagten als Entlastung zugute zu halten, dass er an den Verhandlungstermin gar nicht oder zu spät denkt, weil er die bereits vor der Inhaftierung erhaltene Ladung während der Haft nicht in Händen hat, oder dass er annimmt, die Justizverwaltung, die ihn in Strafhaft genommen hat, werde nötigenfalls selbst dafür sorgen, dass er bei dem anderen Gericht vorgeführt wird, oder dass ein Angeklagter annimmt, eine Vorführung könne ganz kurzfristig erfolgen, da ihm - sofern nicht hafterfahren - nicht die allen Justizangehörigen vertrauten Zeiträume bekannt sind, die eine gewöhnlich Verschubung in Anspruch nimmt (vgl. OLG Köln, GA 1963, 58, 59).

12

Für die Anwendung des § 329 Abs.1 StPO kommt es nicht darauf an, ob der Angeklagte sich ausreichend entschuldigt hat, sondern nur darauf, ob er objektiv entschuldigt ist. Deshalb gelten die oben angestellten Erwägungen zur Entschuldigung des Angeklagten auch dann, wenn das Berufungsgericht nicht weiß, dass er in anderer Sache inhaftiert ist. Wenn das Berufungsgericht hiervon nichts weiß und deshalb die Berufung als unzulässig verwirft, so ist das Urteil über § 329 Abs.3 StPO oder durch die Revision zu korrigieren (Ruß, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 4. Aufl., § 329 Rdnr.12 a.E.; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 329 Rdnr.20).

13

Die in dem Kommentar von Kleinknecht/Meyer-Goßner (StPO, 45. Aufl., § 329 Rdnr.24) vertretene abweichende Auffassung ist schon aus den vorgenannten Gründen abzulehnen; außerdem sind auch die Voraussetzungen für ihre Anwendbarkeit unscharf, wenn es heißt, der Angeklagte bleibe "unentschuldigt aus, wenn er auf die Notwendigkeit seiner Vorführung nicht rechtzeitig hinweist, obwohl er annehmen muss, dass das Berufungsgericht von der Inhaftierung nichts weiß". Der Begriff der "Rechtzeitigkeit" wird dem Berufungsrichter bei sachgerechter Auslegung nur selten als Instrument zur Verwerfung der Berufung dienen können, da ein nicht gerichtserfahrener Angeklagter angesichts der modernen Transportmöglichkeiten regelmäßig wird annehmen dürfen, dass ein Transport zum Gerichtsort innerhalb eines Tages möglich sein wird, ohne dass man ihm aus diesem - für Gerichtskundige offensichtlichen - Irrtum einen Vorwurf wird machen können. Unklar bleibt auch, wann ein Angeklagter "annehmen muss", dass das Berufungsgericht von der Inhaftierung in anderer Sache nichts wisse, da es für eine außerhalb der Justiz stehende Person nicht ohne weiteres verständlich sein wird, dass ein Justizorgan nichts von den Amtshandlungen des anderen Justizorgans wissen soll, obwohl beide aus der Sicht des Außenstehenden zu demselben "Verwaltungsapparat" gehören. Der Kommentar von Kleinknecht/Meyer-Goßner beruft sich zudem zur Stützung seiner Auffassung auf zwei Gerichtsentscheidungen, die nicht in vollem Umfange einschlägig sind. Das OLG Celle hat in seiner Entscheidung vom 12.06.1963 (Nds.Rpfl. 1963, 260) den Begriff des "unabwendbaren Zufalls" i.S.d. § 329 Abs.2 a.F. zu interpretieren gehabt, der enger ist als der Begriff der "genügenden Entschuldigung"; das OLG Karlsruhe hat in seiner Entscheidung vom 21.10.1968 (NJW 1969, 476 [OLG Karlsruhe 21.10.1968 - 3 Ss 90/68]) die Verwerfung nach § 329 Abs.1 StPO schon dann nicht mehr zugelassen, wenn das Gericht - wie im vorliegenden Fall - noch in letzter Minute vor der Entscheidung von der Inhaftierung des Angeklagten erfahren hat, wenn dieser sich also nicht "rechtzeitig", d.h. mit gehörigem Vorlauf, entschuldigt hatte.

III.

14

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, da der endgültige Erfolg des Rechtsmittels noch nicht abgeschätzt werden kann.