Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 26.03.2021, Az.: 2 Ws 82/21
Invollzugsetzung eines Haftbefehls; Fluchtgefahr bei hoher Straferwartung; Verdunkelungsgefahr bei Erschwerung der Sachaufklärung; Entscheidungszeitpunkt für Invollzugsetzung eines Haftbefehls
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 26.03.2021
- Aktenzeichen
- 2 Ws 82/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 47228
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 16.03.2021 - AZ: 22 KLs 23/20
- LG Lüneburg - 09.03.2021 - AZ: 22 KLs 23/20
Rechtsgrundlagen
- § 112 Abs. 1 StPO
- § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
- § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO
Redaktioneller Leitsatz
1. Bei einer Verurteilung zu einer hohen Freiheitsstrafe ist regelmäßig von einer Fluchtgefahr auszugehen, da die Straferwartung das entscheidende Kriterium ist.
2. Im Rahmen des Haftbefehls ist keine Verdunkelungsgefahr gegeben, wenn eine Erschwerung der Sachaufklärung durch das Verhalten des Angeklagten nicht zu erwarten ist.
3. Bei der Entscheidung über die Invollzugsetzung eines Haftbefehls ist auf den Urteilszeitpunkt abzustellen. Neue Tatsachen (in diesem Fall nicht vorliegend) können grundsätzlich noch berücksichtigt werden.
Tenor:
Der Beschluss vom 09.03.2021 sowie der Nichtabhilfebeschluss vom 16.03.2021 werden aufgehoben, soweit die Verschonungsbeschlüsse des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 und des Landgerichts Lüneburg vom 07.12.2020 aufgehoben wurden. Die Verschonungsbeschlüsse des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 und des Landgerichts Lüneburg vom 07.12.2020 gelten fort.
Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Der Angeklagte ist in dieser Sache unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die diesbezüglichen notwendigen Auslagen des Angeklagten hat die Landeskasse zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Lüneburg hat am 18.12.2019 Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen des dringenden Tatverdachts der Begehung von zwei schweren Raubtaten, in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, erlassen und diesen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr und der Verdunklungsgefahr gestützt.
Dem Haftbefehl liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1. Der Angeklagte begab sich am 19.11.2019 zum Parkplatz des Lidl-Supermarktes in der XXX in XXX, wo er u. a. auf den Geschädigten XXX traf, mit dem er ein Drogengeschäft abwickeln wollte. Er begab sich mit dem Geschädigten gemeinsam mit einem hinzukommenden unbekannten Mittäter zu einem hinter dem Lidl-Markt liegenden Grundstück, wo beide gemeinsam auf den Geschädigten eintraten und der Angeklagte das Handy Iphone 8 sowie die Airpods des Geschädigten und ein Parfüm an sich nahm, bevor sie mit dem Geschädigten auf den Lidl-Parkplatz zurückkehrten. Der Angeklagte führte dabei die ganze Zeit eine Pistole im Hosenbund mit sich, die er dem Geschädigten auch zeigte.
2. Der Angeklagte begab sich anschließend gemeinsam mit dem unbekannten Mittäter zu dem Pkw VW Bora, in dem die Geschädigten XXX und XXX auf den Geschädigten XXX gewartet hatten, zog seine Waffe, lud sie durch und forderte den Geschädigten XXX auf, sich auf die Rückbank zu setzen, wo zeitgleich der unbekannte Mittäter Platz nahm. Der Angeklagte selbst setzte sich auf den Beifahrersitz und forderte den Geschädigten XXX, dem er die Pistole in die Rippen drückte, auf, loszufahren und ließ sich schließlich von dem Geschädigten in den Wendehammer der XXX fahren, wo er das Portemonnaie des Geschädigten XXX mitsamt 25 Euro Bargeld und eine Schachtel Zigaretten einsteckte und zusammen mit dem unbekannten Mittäter vom Tatort flüchtete.
Der Angeklagte wurde am 19.12.2019 vorläufig festgenommenen. Am 20.12.2019 verkündete das Amtsgericht den Haftbefehl und setzte den Haftbefehl gegen Auflagen, unter anderem eine Meldeauflage, außer Vollzug. Mit Beschluss vom 02.10.2020 änderte das Amtsgericht Lüneburg die erteilte Meldeauflage dahingehend, dass sie nur noch einmal wöchentlich zu erfüllen sei.
Die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg erfolgte am 9. November 2020 mit im Wesentlichen gegenüber dem Haftbefehl unveränderten Sachverhalt. Mit Anklageerhebung beantragte die Staatsanwaltschaft Lüneburg zugleich, den Haftbefehl des Amtsgerichts Lüneburg wieder in Vollzug zu setzen. Zur Begründung wurde u. a. ausgeführt, dass sich der Angeklagte an die in dem Außervollzugsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 erteilten Auflagen zwar gehalten habe. Gleichwohl sei in Anbetracht der durch die Anklageerhebung konkretisierten Straferwartung von über 5 Jahren und der einschlägigen Vorstrafen des Angeklagten ein erheblicher Fluchtanreiz gegeben. Hilfsweise werde der Antrag auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt, da bei der Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren gegen den Angeklagten anhängig sei, aus dem sich Anhaltspunkte für eine weitere Raubtat des Angeklagten ergäben. Das Landgericht hat die Anklage am 07.12.2020 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet und gleichzeitig die Fortdauer der Untersuchungshaft aus den zutreffenden Gründen des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüneburg vom 18.12.2019 nach Maßgabe der Auflagen des Beschlusses des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 und 02.10.2020 über die Außervollzugsetzung angeordnet. Den Antrag auf Invollzugsetzung des Haftbefehls hat das Landgericht mit Beschluss vom selben Tag abgelehnt. Die erteilten Auflagen, an die sich der Angeklagte seit einem Jahr halte, seien ausreichend, um die bestehende Fluchtgefahr zu kompensieren. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr sei zudem nicht gegeben, da sich in dem neuen Verfahren bislang kein dringender Tatverdacht gegen den Angeklagten ergeben habe.
Am 09. März 2021 hat das Landgericht Lüneburg den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen schweren Raubes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Mit Beschluss vom selben Tage hat das Landgericht zudem angeordnet, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Lüneburg vom 18.12.2019 aus den Gründen des verkündeten Urteils aufrechterhalten werde. Gleichzeitig hat es die Verschonungsbeschlüsse des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 und des Landgerichts Lüneburg vom 07.12.2020 aufgehoben. Der Angeklagte befindet sich seitdem in der JVA Lüneburg in Untersuchungshaft.
Der Angeklagte hat gegen das Urteil fristgerecht Revision eingelegt. Gleichzeitig hat er gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüneburg und die Aufhebung der Verschonungsbeschlüsse des Amtsgerichts Lüneburg vom 20.12.2019 und des Landgerichts vom 07.12.2020 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Haftgrund der Verdunklungsgefahr bestehe nach der abgeschlossenen Beweisaufnahme nicht mehr. Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe nicht. Der Angeklagte habe sich dem Verfahren gestellt und sei der ihm erteilten Meldeauflage nachgekommen. Dem Angeklagten sei auch aufgrund der erhobenen Anklagevorwürfe bewusst gewesen, dass ihm im Falle der Verurteilung eine hohe Freiheitsstrafe drohe. Der Angeklagte verfüge über soziale Bindungen, er lebe mit seiner Freundin zusammen, mit der er ein gemeinsames Kind habe.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 16.03.2021 der Beschwerde nicht abgeholfen. Es bestehe nach der durchgeführten Beweisaufnahme weiterhin dringender Tatverdacht gegen den Angeklagten. Es sei der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben. Der Angeklagte sei zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Fluchtanreiz sei aufgrund dieser ausgeurteilten Freiheitsstrafe außerordentlich hoch und habe sich für den Angeklagten, der auf einen Freispruch gehofft habe, durch das Urteil konkretisiert. Der Angeklagte habe auch keine ausreichenden sozialen Bindungen, die diesem Fluchtanreiz entgegenwirken könnten. Es bestehe auch der Haftgrund der Verdunklungsgefahr. Im Hinblick auf die durch den Angeklagten eingelegte Revision bestehe die Gefahr, dass der Angeklagte für den Fall der Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht in unredlicher Weise Einfluss auf das Verfahren nehmen wolle. Er habe in dem Verfahren insbesondere die Zeugin XXX massiv bedroht, auch weitere Zeugen hätten in der Hauptverhandlung ein bedrohliches Verhalten des Angeklagten geschildert.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Die Beschwerde ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Invollzugsetzung des Haftbefehls richtet, im Übrigen ist sie unbegründet.
1.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gem. §§ 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO liegen vor.
Der dringende Tatverdacht für die im Haftbefehl vom 18.12.2019 aufgeführten Taten besteht fort.
Nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (BGH, Beschluss vom 04. Februar 2016 - StB 1/16 -,juris, BGH, Beschlüsse vom 28. August 2014 - StB 22/14, juris; 8. Oktober 2012 - StB 9/12 - JR 2013, 419, 420; 7. August 2007 - StB 17/07, juris; 19. Dezember 2003 - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3 mwN). Dieser eingeschränkte Prüfungsmaßstab gilt auch bei abgelaufener Hauptverhandlung fort (OLG Jena, Beschluss vom 30.09.2008 - 1 Ws 415/08, BeckRS 2009, 94). Die Prüfung des Beschwerdegerichts ist mithin darauf beschränkt, ob das vom Tatrichter gewonnene Ergebnis auf Tatsachen gestützt ist, die diesem im Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Verfügung standen, und darauf, ob das mitgeteilte Ergebnis auf einer vertretbaren Bewertung dieser zur Zeit für und gegen einen dringenden Tatverdacht sprechenden Umstände beruht (BGH StV 1991, 525; StV 2004, 143; OLG Koblenz, StV 1994, 316; OLG Karlsruhe StV 1997, 312; OLG Kiel, SchlHA 2003, 188; OLG Jena, StV 2005, 559; KG Beschluss vom 3. April 2006, Az. 1 AR 631/04, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 14. November 2007, 2 Ws 342/07, juris). Bei Anwendung dieses reduzierten Prüfungsmaßstabs begegnet die Annahme des dringenden Tatverdachtes keinen Bedenken. Wie aus den Ausführungen der Nichtabhilfeentscheidung im Vorgriff auf die abzusetzenden schriftlichen Urteilsgründe folgt, durch die der Senat in die Lage versetzt wird, den dringenden Tatverdacht zu prüfen, wurde der Angeklagte für die angeklagten Taten verurteilt. Die Beweiswürdigung begegnet unter der o. g. Prüfungsprämisse keinen Bedenken. Das Landgericht nimmt insoweit Bezug auf den Haftbefehl und die Ergebnisse der Beweisaufnahme, wonach der Angeklagte die Tatbegehung gegenüber Zeugen eingeräumt habe. Auch sei der Angeklagte von den Zeugen XXX, XXX und XXX im Rahmen von Wahllichtbildvorlagen und teilweise in der Hauptverhandlung wiedererkannt worden. Die benannten Alibizeugen hätten den Angeklagten nicht entlassen können. Auch das Haftbeschwerdevorbringen richtet sich nicht gegen den dringenden Taterdacht.
2.
Zutreffend hat das Landgericht eine fortbestehende Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen.
Fluchtgefahr ist gegeben, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. A. § 112, Rn. 17). Die Beurteilung erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat, der Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat (Meyer-Goßner/Schmitt, § 112, Rn. 19). Der Straferwartung kommt bei der Beurteilung der Fluchtgefahr grundsätzlich maßgebende Bedeutung zu, weil sie das Ausmaß des Fluchtanreizes bestimmt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 8. April 2019 - 3 Ws 102/19, juris; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 112 Rn. 22 m. w. N.). Sie ist Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger müssen die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein (vgl. Senat aaO; ebenso KG, StV 2012, 350; Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 24 m. w. N.).
Vorliegend ist der Angeklagte zu einer erheblichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die hohe Freiheitsstrafe bietet einen erheblichen Fluchtanreiz. Der Angeklagte ist zudem nicht deutscher Staatsangehöriger. Seine sozialen Bindungen erscheinen insbesondere vor dem Hintergrund seiner einschlägigen Vorbelastungen nicht ausreichend, um der Fluchtgefahr ausreichend begegnen zu können.
3.
Der Haftgrund der Verdunklungsgefahr ist nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht mehr gegeben.
Zwar sind hier nach den Ausführungen des Landgerichts Verdunklungshandlungen des Angeklagten in Form von Drohungen gegenüber Zeugen erfolgt. Als Folge der Verdunklungshandlung muss allerdings die konkrete Gefahr drohen, dass die Sachaufklärung erschwert wird (OLG Köln, StV 1999, 323). Es muss also die objektive Möglichkeit bestehen, dass das Ziel der Beweisvereitlung noch erreicht wird. Das ist nicht mehr der Fall, wenn der Sachverhalt schon in vollem Umfang aufgeklärt und die Beweise so gesichert sind, dass der Beschuldigte die Wahrheitsermittlung nicht mehr behindern kann (OLG Hamburg, B. v. 02.02.1995, 1 Ws 19/95; OLG Brandenburg, B. v. 02.03.2020, 1 Ws 18/20; OLG Saarbrücken, B. v. 07.07.2019,1 Ws 122/15; KK-Graf, StPO, 8. A., § 112 Rn. 39, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. A., § 112 Rn. 35 jeweils m. w. N.). Vorliegend haben die vom Angeklagten bedrohten Zeugen in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht umfassend ausgesagt. Selbst bei Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht ist nicht ersichtlich, dass die richterlich protokollierten Angaben der Zeugen in einem neuen Verfahren nicht mehr verwertet werden könnten. Eine Erschwerung der Sachaufklärung ist daher nicht mehr gegeben, so dass sich der Haftbefehl nur noch auf den Haftgrund der Fluchtgefahr stützen kann.
4.
Allerdings liegen die Voraussetzungen für die Invollzugsetzung des Haftbefehls gem. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nicht vor.
Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die verfassungsrechtliche Schwelle für eine solche Maßnahme hoch anzusiedeln ist: Der Vollzug des Haftbefehls kommt nach Nummer 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetreten Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen. Neu im Sinne der Norm sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Außervollzugsetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht demnach in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 27.09.2012, 2 BvR 1874/12 und vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12). So kann unter anderem ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (BVerfG, Beschlüsse vom 27.09.2012, 2 BvR 1874/12, vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12 und vom 15.08.2007, 2 BvR 1485/07; vgl. BGH, Beschluss vom 28.10.2005, StB 15/05, OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.08.2017, 1 Ws 159/17 und OLG Hamm, Beschluss vom 07.08.2012, 2 Ws 252/12). Erforderlich sind nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. Dezember 2020 - 2 BvR 1787/20 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12).
Vorliegend ist bei der Prüfung grundsätzlich auf den Urteilszeitpunkt abzustellen, da zu diesem Zeitpunkt die letzte Haftentscheidung ergangen ist. Neue Tatsachen können gegeben sein, wenn neue Taten oder Einzelakte einer Handlung aufgedeckt werden (Hilger in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Auflage, 2007, § 116, Rn. 50). Solche neuen Umstände gegenüber dem Außervollzugsetzungsbeschluss sind hier indes nicht gegeben. Bereits der Haftbefehl legt dem Angeklagten einen schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie einen besonders schweren Raub zur Last. Mit Anklage der Staatsanwaltschaft Lüneburg wurden dem Angeklagten zwei besonders schwere Raubtaten zur Last gelegt, die mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren sanktioniert sind. Die Verurteilung des Angeklagten erfolgte wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen schweren Raubes. Dem Angeklagten stand damit die Möglichkeit der Verurteilung zu einer hohen Freiheitsstrafe während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen, er kam gleichwohl den Auflagen beanstandungsfrei nach. Insoweit kann es auch nicht als neue Tatsache zu werten sein, dass der Angeklagte sich einen Freispruch erhofft hat. Denn die Möglichkeit der Verurteilung bestand für den Angeklagten ersichtlich trotz der gewählten Verteidigungsstrategie.
III.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse gemäß § 467 Abs. 1 StPO analog.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).