Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.01.2024, Az.: 8 K 134/23

Einheitliche Auslegung der Begriffe der erstmaligen Berufsausbildung und der Erstausbildung hinsichtlich Gewährung von Kindergeld

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
30.01.2024
Aktenzeichen
8 K 134/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 11834
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE::2024:0130.8K134.23.00

Amtlicher Leitsatz

Die Begriffe der erstmaligen Berufsausbildung im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und der Erstausbildung in § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG sind einheitlich auszulegen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die Ausbildung der Tochter des Klägers zur Rettungssanitäterin eine Ausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) darstellt.

Der Kläger erhielt für seine am 2. Mai 2002 geborene Tochter T Kindergeld. Diese bestand im Juni 2021 ihr Abitur. Anschließend leistete sie von August 2021 bis einschließlich Juli 2022 den Bundesfreiwilligendienst bei der Malteserhilfsdienst gGmbH (MHD) in L. In dieser Zeit entwickelte sie den Berufswunsch, zur Polizei zu gehen. Daher bewarb sie sich Anfang 2022 um einen Studienplatz bei der Polizei in N. Im Anschluss absolvierte sie mehrtägige Einstellungstests bei der Polizei in M.

Da eine verbindliche Einstellungszusage der Polizei nicht zeitnah erfolgte, begann T zunächst zum 1. Oktober 2022 eine Ausbildung als operationstechnische Assistentin im Klinikum O. Nachdem sie Anfang Februar 2023 eine Einstellungszusage der Polizei erhalten hatte, brach sie umgehend ihre Ausbildung während der laufenden Probezeit ab und absolvierte in der Zeit vom 6. Februar 2023 bis zum 15. Mai 2023 einen Lehrgang zur Rettungssanitäterin beim MHD. Diesen Lehrgang schloss sie mit dem Zeugnis über die staatliche Abschlussprüfung für Rettungssanitäterinnen am 13. Mai 2023 mit der Gesamtnote "gut" ab. Unmittelbar daran anschließend schloss sie mit dem MHD am 15. Mai 2023 einen bis zum 31. August 2023 befristeten Arbeitsvertrag ab, mit dem sie als Rettungssanitäterin in Vollzeit angestellt wurde. Die Vergütung beträgt ca. 2.000 € netto.

Mit Bescheid vom 22. Mai 2023 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergelds für T gegenüber dem Kläger ab dem Monat Juni 2023 vollständig auf. Im Rahmen des anschließenden Einspruchsverfahrens erließ die Beklagte am 12. Juni 2023 einen Bescheid, mit dem Kindergeld für T ab September 2023 (Aufnahme des Studiums) erneut festgesetzt wurde. Für die verbleibenden Monate Juni bis August 2023 wies die Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 14. Juni 2023 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie an, dass T von Februar 2023 bis Mai 2023 eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin absolviert habe und danach Vollzeit erwerbstätig gewesen sei. Dies schließe nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG eine Berücksichtigung als Kind bei der Kindergeldfestsetzung aus.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der daraufhin erhobenen Klage. Er ist der Ansicht, dass ihm Kindergeld für seine Tochter T auch im Zeitraum Juni bis August 2023 zustehe, da T in diesem Zeitraum eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatz nicht habe beginnen können (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c EStG). Die Berücksichtigung sei auch nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen, da die Ausbildung seiner Tochter zur Rettungssanitäterin keine erstmalige Berufsausbildung im Sinne der Norm darstelle. Insoweit müsse der Begriff der ersten Ausbildung einheitlich mit der Definition der Erstausbildung gemäß § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG ausgelegt werden, nach der eine solche Erstausbildung nur dann vorliege, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt worden sei. Diese Voraussetzungen erfülle die Ausbildung seiner Tochter jedoch nicht, da sie nur gut 3 Monate angedauert habe. Mangels Abschlusses einer erstmaligen Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG komme es somit auf die Erwerbstätigkeit von T im Streitzeitraum nicht mehr an.

Während des Klageverfahrens änderte T ihren Berufswunsch erneut. Wie T in der mündlichen Verhandlung mitteilte, habe sie durch ihre Tätigkeit im Rettungsdienst auch Einblick in die Tätigkeit der Polizei erhalten. Dies habe ihr nicht so gut gefallen wie ihre Tätigkeit als Rettungssanitäterin. Ihr Berufsziel sei es nunmehr, Notfallsanitäterin zu werden. Sie habe sich ab August 2023 für eine dreijährige Ausbildung bei verschiedenen Stellen in Deutschland beworben, u. a. auch beim MHD im Landkreis V. Eine mündliche Zusage zum Beginn der Ausbildung für den 1. April 2025 habe sie bereits erhalten. Verschiedene Verfahren zu einem früheren Ausbildungsbeginn liefen aber noch. Zurzeit arbeite sie weiterhin Vollzeit als Rettungssanitäterin. Der (ursprünglich befristete) Vertrag mit dem MHD sei in einen unbefristeten umgewandelt worden.

Das duale Studium bei der Polizei zum 1. September 2023 hat T dementsprechend nicht aufgenommen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Juni 2023 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest. Insoweit verfüge die Tochter des Klägers als Rettungssanitäterin über eine abgeschlossene erstmalige Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Diese Ausbildung diene dem Nachweis einer Sachkunde, die Voraussetzung zur Aufnahme einer fest umrissenen beruflichen Tätigung sei. Sie sei in einem geordneten Ausbildungsgang erfolgt und mit einer staatlich anerkannten Prüfung abgeschlossen worden. Sie stelle somit eine andere Bildungsmaßnahme im Sinne des Textes Ziffer 5 des BMF-Schreibens vom 8. Februar 2016 (IV C 4 - S 2282/07/0001 - 01) dar und sei somit einer Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gleichgesellt.

Entscheidungsgründe

I. Die Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Kläger hat auch für den Zeitraum Juni bis August 2023 einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter T.

1. Zwischen den Beteiligten ist zu Recht unstreitig, dass der Kläger für seine Tochter T auch für den Zeitraum Juni bis August 2023 grundsätzlich die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c EStG erfüllt. Insoweit konnte T zunächst das Studium bei der Polizei aus von ihr nicht zu vertretenen Umständen nicht beginnen. Nach dem Wechsel des Berufswunsches im August 2023 gilt gleiches für die von T beabsichtigte Aufnahme einer Ausbildung zur Notfallassistentin. An den hinreichenden Bemühungen hat die Beklagte keine Zweifel geäußert. Auch der erkennende Senat hält die von T angegebenen Bewerbungen für glaubhaft und ausreichend.

2. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dieser Anspruch vorliegend auch nicht durch § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen.

Nach dieser Norm wird ein Kind in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung nur dann berücksichtigt, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Zwar geht T im Streitzeitraum einer Erwerbstätigkeit als Rettungssanitäterin nach; es fehlt jedoch am Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung im Sinne dieser Norm.

Der BFH hat das Tatbestandsmerkmal der erstmaligen Berufsausbildung im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in ständiger Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass es sich um einen öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang handeln müsse; dieser müsse auf einen Abschluss ausgerichtet sein, der in Form einer Prüfung erfolge. Weiterhin müsse das Kind durch die berufliche Ausbildungsmaßnahme die notwendigen fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen, wodurch insbesondere eine Abgrenzung gegenüber dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule erfolgen solle (vgl. BFH- Urteil vom 11. Dezember 2018 III R 26/18, BStBl II 2019, 765 mit weiteren Nachweisen).

Nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen wäre die Ausbildung der Tochter des Klägers zur Rettungssanitäterin als Ausbildung im Sinne der Norm anzusehen.

Demgegenüber ist jedoch zu beachten, dass der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. Januar 2015 den Begriff der Erstausbildung in § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG erstmals neu definiert hat. Danach liegt eine Berufsausbildung als Erstausbildung vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird.

Diese gesetzliche Definition ist auch bei der Auslegung des Begriffes einer "erstmaligen Berufsausbildung" im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu berücksichtigen. Zwar hat der BFH mit Urteil vom 12. Februar 2020 (VI R 17/20, BStBl II 2020, 719 [BFH 12.06.2018 - VII R 19/16]) entschieden, dass die Auslegung der im § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verwendeten Tatbestandsmerkmale erstmaliger Berufsausbildung und Erststudium im Kindergeldrecht für die Auslegung des im dortigen Streitfall maßgeblichen § 9 Abs. 6 EStG nicht von Bedeutung seien; dies impliziert nach Auffassung des erkennenden Senats jedoch nicht, dass die gesetzliche Definition im § 9 Abs. 6 EStG bei der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ignoriert werden kann. Dies folgt aus der Überlegung, dass die gesetzliche Definition im § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG zeitlich nach der gefestigten Auslegung in der Rechtsprechung zu § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ergangen ist. Darüber hinaus handelt es sich bei der gesetzlichen Definition um eine Einengung der bis dahin durch die Rechtsprechung zugrunde gelegten Definition. Dementsprechend kann bei der Auslegung des § 9 Abs. 6 EStG die weitere Rechtsprechung zu § 32 Abs. 4 EStG nicht herangezogen werden, während hier im vorliegend umgekehrten Fall eine Einbeziehung der Wertung des Gesetzgebers, wie sie in § 9 Abs. 6 EStG zum Ausdruck gekommen ist, berücksichtigt werden muss (so auch FG Nürnberg, Urteil vom 9. Januar 2023 3 K 782/22, juris).

Insoweit ist zu beachten, dass auch § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG eben gerade auf die Berufsausbildung abstellt, welche nunmehr im Rahmen des § 9 Abs. 6 EStG gesetzlich definiert wird.

2. Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 und 3, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung in entsprechender Anwendung. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen; die Frage, ob der Begriff der erstmaligen Ausbildung in § 9 Abs. 6 EStG und § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einheitlich auszulegen sind, hat grundsätzliche Bedeutung.