Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 08.12.2017, Az.: 1 Ws 241/17

Anrechnungsentscheidung; überschießende Unterbringungszeit; Härtefall; verfahrensfremde Freiheitsstrafen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
08.12.2017
Aktenzeichen
1 Ws 241/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53776
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 12.10.2017 - AZ: 12 StVK 247/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei einer Bewährungsaussetzung einer Unterbringung sowie des nach Anrechnung der Unterbringungszeit verbleibenden Restdrittels der Begleitstrafe hat die Strafvollstreckungskammer zugleich auch eine Entscheidung darüber zu treffen, ob eine Anrechnung der überschießenden Unterbringungszeit auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen nach § 67 Abs. 6 StGB erfolgt.
2. Bei der Prüfung, ob ein Härtefall iSd § 67 Abs. 6 S. 1 StGB vor-liegt, müssen die drei explizit in § 67 Abs. 6 S. 2 StGB genannten Kriterien nicht zwingend kumulativ vorliegen, sondern sind viel-mehr als neutral formulierte Prüfsteine in die einzelfallbezogene Gesamtabwägung einzubeziehen und im Verhältnis zueinander zu gewichten.

Gründe

I.

Durch Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 16. April 2014 (Az. 1 KLs 9/14 - 733 Js 60832/13) war gegen den Verurteilten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. eine Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verhängt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Bereits zuvor war er vom Amtsgericht Leer am 05. Oktober 2012 (Az. 6b Ls 510 Js 12623/12 (36/12)) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Die Strafaussetzung wurde mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) vom 15.01.2015 (Az. 12 BRs 68/14) widerrufen.

Nachdem sich der Verurteilte zunächst seit dem 06.12.2013 im Verfahren 733 Js 60832/13 in Untersuchungshaft und sodann in Organisationshaft befand, wurde seit dem 8.7.2014 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vollzogen. Die in der Unterbringung verbrachte Zeit ist nur bis zum 2/3-Termin, dem 07.03.2017, anrechenbar. Mit Beschluss der 59. Großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) vom 12. Oktober 2017 (Az.: 12 StVK 247/17) wurde die weitere Vollstreckung der Unterbringung aus dem Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 16. April 2014 (Az. 1 KLs 9/14 - 733 Js 60832/13) sowie die Vollstreckung der unter Berücksichtigung der anzurechnenden Dauer der Unterbringung verbliebenen Restfreiheitsstrafe aus demselben Urteil ebenso zur Bewährung ausgesetzt wie die Vollstreckung der verfahrensfremden Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer vom 05. Oktober 2012 (Az. 6b Ls 510 Js 12623/12 (36/12)). Zur Frage der Anrechnung der (überschießenden) Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die noch nicht vollstreckte verfahrensfremde Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer verhält sich der Beschluss nicht.

Der Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 12. Oktober 2017 wurde der Staatsanwaltschaft Aurich am 17. Oktober 2017 zugestellt. Gegen die in diesem Beschluss unterbliebene Anrechnung wendet sich die Staatsanwaltschaft Aurich zugunsten des Verurteilten mit sofortiger Beschwerde vom 20.10.2017, am selben Tage bei Gericht eingegangen.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, wie erkannt.

II.

Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 463 Abs. 1, Abs. 6 S. 1, 462 Abs. 3 StPO statthaft. Sie ist auch ansonsten  zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt, §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO.

Sie ist auch in der Sache begründet. Die Strafvollstreckungskammer hat es rechtsirrig unterlassen, eine Entscheidung über die Anrechnung der Zeit des Vollzuges der Maßregel auf die verfahrensfremde Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer vom 5. Oktober 2012 zu treffen.

Gem. § 67 Abs. 6 StGB - eingeführt durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 08.07.2016, in Kraft seit dem 01.08.2016 - bestimmt das Gericht, dass eine Anrechnung des Maßregelvollzugs auch auf eine verfahrensfremde Strafe erfolgt, wenn deren Vollzug für die verurteilte Person eine unbillige Härte wäre.

1.

Ein solcher Härtefall liegt hier vor, so dass eine Anrechnung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer zu erfolgen hat. Die Kumulation von Straf- und Maßregelvollzug würde sonst im vorliegenden Fall zu einem übermäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten führen, den der Gesetzgeber mit der Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. März 2012 (Az. 2 BvR 2258/09, zit. nach juris) vermeiden wollte (vgl. BT-Drucksache 18/7244 S. 25ff., 27).

Hierbei kommt es entscheidend auf die Vollstreckungs- und Vollzugssituation im Einzelfall an, wobei insbesondere das Verhältnis der Dauer der verhängten Strafen zur Maßregel, der erzielte Therapieerfolg und seine konkrete Gefährdung durch eine weitere Vollstreckung der Strafe sowie das Verhalten des Verurteilten im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen sind.

Zwar hat der Verurteilte eine Maßregelvollzugsdauer von ca. 3 1/4 Jahren absolviert und die gegen ihn verhängte Anlassstrafe beträgt bereits 4 Jahre zuzüglich der weiteren hier in Rede stehenden verfahrensfremde Freiheitsstrafe von einem weiteren Jahr, so dass keine erheblich über die verhängten Strafen hinausgehenden Dauer der Maßregel vorliegt. Allerdings müssen die drei explizit in § 67 Abs. 6 S. 2 StGB genannten Kriterien nicht zwingend kumulativ vorliegen, sondern sind vielmehr als neutral formulierte Prüfsteine in die einzelfallbezogene Gesamtabwägung einzubeziehen und im Verhältnis zueinander zu gewichten (so die Gesetzesbegründung in BT-Drucksache 18/7244 a.a.O.). Der ausweislich des Prognosegutachtens des Dr. phil. Dipl. Psych. M. R. vom Verurteilten erzielte Therapieerfolg, den dieser trotz Rückfällen erzielt hat, lassen Abstriche von diesem Kriterium als sachgerecht erscheinen (BVerfG a.a.O., Rn. 62). Der Verurteilte hat sich nach den Rückfallen jeweils deren therapeutischer Verarbeitung gestellt und seine abstinente Lebensführung zuletzt insbesondere auch durch den regelmäßigen Besuch einer Selbsthilfegruppe stabilisiert. Er hat für sich selbst den noch vorhandenen Hilfebedarf erkannt und wünscht sich diesen. Er war fähig im Vollstreckungsverlauf in der therapeutischen Aufarbeitung über seine Biografie und die Suchtentwicklung zu reden und diese wie auch seine Straffälligkeit zu reflektieren sowie die Zusammenhänge zu verstehen. Der Therapieerfolg ist mithin auch wesentlich seinem Verhalten im Vollstreckungsverfahren zuzurechnen. Prognostisch verfügt der Verurteilte zudem über eine regelmäßige vollschichtige Arbeit und lebt in einer Nachsorge bzw. Komplementäreinrichtung des Maßregelvollzugs, hält Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie und strebt ein bürgerliches Leben an. Dies zeigt auch seine partnerschaftliche Beziehung zu einer aus seinem Arbeitsumfeld stammenden Lebensgefährtin, die offenbar keinen Kontakt zur Drogenszene hat. Das erreichte Therapieziel würde daher durch die nachfolgende Vollstreckung der verfahrensfremden Strafe massiv gefährdet, die Beziehung zur neuen Lebensgefährtin, beruflich und sozial erreichte Positionen würden dem Verurteilten mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder verlustig gehen und die konkreten Auswirkungen des Therapieerfolgs zunächst zerstört. Der Gesetzgeber schließt sich in derartigen Fällen in seiner Begründung (BT-Drucksache a.a.O., S. 28) der Rechtsprechung zum Übergangsrecht (OLG Hamburg, Beschl. v. 8.05 2017, Az. 1 Ws 48-52/14, Rn. 15 - zit. nach juris) dahingehend an, dass bei einem - wie hier vorliegenden - besonders deutlichen Therapieerfolg schon bei Überschreitung des 2/3-Zeitpunktes aller anrechenbaren Strafen eine weitere Dauer der Vollstreckung nicht hinnehmbar sei, so dass eine Anrechnung auf die verfahrensfremden Strafe bis zur Erreichung des 2/3-Zeitpunktes unter Abwägung aller genannten Gesichtspunkte ausnahmsweise erfolgen müsse, um eine unbillige Härte zu vermeiden.

Nach diesen Maßstäben ist im Hinblick auf den Verurteilten von einer unbilligen Härte auszugehen, wenn die verfahrensfremde Strafe noch vollstreckt werden würde.

2.

Es liegt darüber hinaus auch kein Regelfall nach § 67 Abs. 6 S. 3 StGB vor, demgemäß eine unbillige Härte im Zweifel ausgeschlossen ist, wenn die der verfahrensfremden

Strafe zugrundeliegende Tat nach der Anordnung der Maßregel begangen worden ist (Fischer, StGB, 64.A. 2017, § 67 Rn. 29). Die Verurteilung durch das Amtsgericht Leer betraf eine Tat aus dem Frühjahr 2012, wohingegen die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mit Urteil des Landgerichts Oldenburg erst am 16.04.2014 erfolgte.

Dies führt im Ergebnis dazu, dass - obwohl der Verurteilte nur knapp weniger als den Zeitraum des Strafmaßes aus der Anlassstrafe im Maßregelvollzug verbracht hat - auch die überschießende Zeit des Vollzugs auf die noch nicht vollstreckte verfahrensfremde Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zur Erledigung von zwei Dritteln anzurechnen ist.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 2 S. 2 StPO (Schmitt in Meyer-Großner, StPO, 60. A. 2017, § 473 Rn 16).