Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.08.2008, Az.: 322 SsBs 187/08

Pflicht des Gerichts zur Erörterung eines Antrags auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung bei unterbliebener Bescheidung in der Hautpverhandlung; Erforderlichkeit eines persönlichen Eindrucks vom Betroffenen bei der Entscheidung über die Verhängung eines Fahrverbots

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
20.08.2008
Aktenzeichen
322 SsBs 187/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 21327
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2008:0820.322SSBS187.08.0A

Fundstellen

  • AnwBl 2008, 250-251
  • NJW-Spezial 2008, 747 (Kurzinformation) "Persönliches Erscheinen in der Hauptverhandlung"
  • NStZ 2010, 28
  • NZV 2008, VI Heft 10 (amtl. Leitsatz)
  • NZV 2008, 582-583 (Volltext mit amtl. LS)
  • VRA 2008, 216
  • VRR 2009, 69 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
  • VRS 2008, 305-307

Verfahrensgegenstand

Eine Verkehrsordnungswidrigkeit

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zu den Anforderungen an die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG.

  2. 2.

    Hat das Tatgericht einen Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht beschieden, muss es sich mit dem Antrag in dem Verwerfungsurteil auseinandersetzen (Anschluss an OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 273 [OLG Stuttgart 05.03.2002 - 4b Ss 46/2002]).

  3. 3.

    Für die Entscheidung über die Verhängung eines Fahrverbotes bedarf es regelmäßig eines persönlichen Eindrucks vom Betroffenen nicht.

In der Bußgeldsache
hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
Richter am Oberlandesgericht ####### als Einzelrichter
am 20. August 2008
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts O.-S. vom 8. Mai 2008 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts O.-S. zurückverwiesen.

Gründe

1

I.

Mit Bußgeldbescheid vom 10. Januar 2008 hatte der Landkreis O. gegen den Betroffenen eine Geldbuße in Höhe von 117 EUR wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verhängt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet.

2

Auf den Einspruch des Betroffenen beraumte das Amtsgericht auf den 8. Mai 2008 Hauptverhandlungstermin an, zu dem der Betroffene und sein Verteidiger nicht erschienen. Unter dem 10. April 2008 hatte der Betroffene beantragt, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Im Termin vom 8. Mai 2008 verwarf das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen gemäß §§ 71 Abs. 1 OWiG, 412 Abs. 1, 329 Abs. 1 Satz 1 StPO entsprechend, wobei gemeint wohl eine Verwerfung gemäß § 74 Abs. 2 OWiG war. In den Gründen des amtsgerichtlichen Urteils wird lediglich ausgeführt, dass Betroffener und Verteidiger ordnungsgemäß geladen und trotzdem nicht im Termin erschienen seien. Eine Bescheidung des Entbindungsantrags erfolgte nicht.

3

Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Insbesondere erhebt er ausdrücklich die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs.

4

II.

Das Rechtsmittel hat vorläufig Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

5

1.

Dem zulässig erhobenen Rechtsmittel lässt sich auch eine zulässig ausgeführte Verfahrensrüge entnehmen. Allerdings ist die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht in zulässiger Weise ausgeführt, weil nicht mitgeteilt wird, was der Betroffene und/oder sein Verteidiger im Falle einer Anhörung in der Hauptverhandlung noch vorgebracht hätten (vgl. zu diesem Erfordernis etwa Senatsbeschluss vom 3. Juli 2007, 322 Ss 113/07 - Owi; OLG Hamm VRS 113, 439 ff.; OLG Karlsruhe VRS 109, 282 ff.; KG VRS 104, 139 ff.). Dem Rechtsbeschwerdevorbringen lässt sich aber hinreichend deutlich eine zulässig erhobene Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG entnehmen.

6

Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG durch Einspruchsverwerfung trotz bestehenden Anspruchs auf Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen bedarf neben der Mitteilung des Entbindungsantrags und des gerichtlichen Umgangs mit dem Antrag auch der genauen Darlegung der Einzelumstände, die den Rechtsanspruch auf Entbindung begründen (vgl. KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., Rdnr. 56 zu § 74). Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft genügt die Rechtsbeschwerde diesen Anforderungen.

7

Mit der Rechtsbeschwerde hat der Betroffene ausführen lassen, dass mit Schriftsatz des Verteidigers vom 10. April 2008 die dem Bußgeldverfahren zugrunde liegende Ordnungswidrigkeit eingeräumt worden sei und Ziel des Anspruchs allein der Wegfall des verhängten Fahrverbotes sei, weil dieses für den Betroffenen existenzbedrohend sei. Ferner legt die Rechtsbeschwerde dar, dass mit dem selben Schriftsatz beantragt worden sei, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, wofür auch eine besondere Vollmacht vorgelegen habe. Zugleich sei angekündigt worden, dass der Betroffene in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch machen werde. Weiter ist mit der Rechtsbeschwerde ausgeführt worden, dass das Amtsgericht auf das Schreiben vom 10. April 2008 mitgeteilt habe, dass das bisherige Vorbringen für ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht ausreiche, worauf der Betroffene noch einen Arbeitsvertrag nachgereicht habe. Das Amtsgericht habe über den Entbindungsantrag nicht entschieden, vielmehr mit dem angefochtenen Urteil den Einspruch des Betroffenen verworfen, ohne den Entbindungsantrag in dem Urteil zu berücksichtigen. Weiterhin hat der Betroffene ausführlich vortragen lassen, weshalb dem Entbindungsantrag stattzugeben gewesen wäre. Dieses umfängliche Vorbringen genügt, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob das Amtsgericht gegen §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat, sodass die Rechtsbeschwerde insgesamt zulässig ist.

8

2.

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

9

a)

Im Falle der Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG muss sich das Gericht im Urteil auch mit Bedenken gegen eine Verwerfung auseinander setzen, wozu insbesondere ein Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum Entscheiden in der Hauptverhandlung gehört, was im besonderen Maße dann gilt, wenn dieser Antrag - wie hier - vor Urteilserlass nicht beschieden worden ist (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 273 [OLG Stuttgart 05.03.2002 - 4b Ss 46/2002]). Eine solche Auseinandersetzung lässt das angefochtene Urteil vermissen. Der Entbindungsantrag des Betroffenen vom 10. April 2008 wird nicht einmal erwähnt. Bereits dieser Mangel muss zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen (OLG Stuttgart a. a. O. und Beschluss vom 23.02.2002, 4 b Ss 455/01 m. w. N.).

10

b)

Im Übrigen hatte in der vorliegenden Konstellation der Betroffene auch einen Anspruch auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen. Ob der Betroffene auf seinen Antrag von der Pflicht zum Erscheinen zu entbinden ist, steht nicht im Ermessen des Gerichts; vielmehr ist dem Antrag zu entsprechen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2007, 2 Ss - Owi - 5 B/07, [...]; KK-Senge, a. a. O., Rdnr. 15 zu § 73 m. w. N.).

11

Nachdem der Betroffene den gegen ihn erhobenen Vorwurf über seinen mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger für den Fall der Entbindung gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG verwertbar eingeräumt und im Übrigen angekündigt hatte, in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, war die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Betroffenen unter keinem Gesichtspunkt mehr erforderlich. Die Frage der Verhängung eines Fahrverbotes bzw. des Absehens davon, rechtfertigt grundsätzlich die Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht. Denn bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Prüfung kommt es auf den persönlichen Eindruck des Betroffenen regelmäßig nicht an (OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 273 [OLG Stuttgart 05.03.2002 - 4b Ss 46/2002]; OLG Karlsruhe ZfS 2005, 154 f.; OLG Brandenburg a. a. O.). Danach hätte das Amtsgericht den Entbindungsantrag des Betroffenen stattgeben müssen und den Einspruch nicht verwerfen dürfen, sodass auch insoweit ein Verstoß gegen §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG vorliegt. Das Verwerfungsurteil konnte auch deshalb keinen Bestand haben.